Tichys Einblick
Sinnlos zum Erfolg

Unilever verabschiedet sich leise vom Sinnauftrag seiner Produkte

Der neue CEO von Unilever verabschiedet sich leise vom Sinnauftrag seiner Produkte. In Deutschland liest man nichts darüber. Hein Schumacher: „Die Debatte um Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit hat in den vergangenen Jahren mehr Schatten geworfen, denn Licht gebracht.“ Und: „Wir beenden jetzt die ‚Gewaltsinngebung‘ unserer Marken.“

IMAGO / Pond5 Images

Unilever war das erste multinationale Unternehmen, das sich seit 2009 rigoros auf die Suche nach dem „übergreifenden Sinn“ seiner Produkte machte. Jede Mayonnaise, jede Dose Katzenfutter oder Frühlings-Bouillon benötigte den spezifischen Sinngehalt, der die Welt ein wenig besser machte. Hellmann’s Mayonnaise war nur zweitrangig eine (für manche) wohlschmeckende Beilage – im Kern war es eine Speerspitze für Müllvermeidung. Die Eissparte von Unilever mit wohlklingenden Namen wie Magnum oder Langnese feierte sich für „Happy People, Happy Planet, Winning Smiles“ – und machte auf diese Weise die Welt zu einem besseren Ort. Insgesamt hatte jede der 400 Marken von Unilever die Profanität der Produktleistung hinter sich gelassen und agierte auf der Bühne der Weltrettung.

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Vorausgegangen war eine (zweifelhafte) Untersuchung des ehemaligen Procter&Gamble Global Marketing Officers Jim Stengel, der über die wirtschaftliche Entwicklung von Unternehmen nachzuweisen suchte, dass sich eine Positionierung der Marke über die eigentliche Leistung hinaus, positiv auf die wirtschaftliche Performance auswirken würde – aufgrund der hohen Sensibilität der Käufer für Umweltschutz und gesellschaftlichen Fortschritt. Eine wunderbare Vorstellung, die in der Folgezeit die gesamte Werbe- und Kommunikationslandschaft erfasste und vielen Profis in Werbeagenturen und Marketingabteilungen lukrative Projekte und engagierte Workations vor dem Hintergrund engagierter Diskussionen unter der toskanischen Sonne bescherte.

Nun ist Schluss – auch wenn der neue CEO, Hein Schumacher, nur behutsam davon sprach, nicht gewaltsam jeder Marke einen „Sinn“ zu verordnen. Sinnhaftigkeit als wirtschaftliche Kategorie mache nur dann Sinn, verdeutlichte Schumacher, wenn der zugeordnete Sinn auf das Leistungsmuster der Marke zurückgreife, wie beispielweise Dove oder die seit Gründung politisch aktive Eiscreme-Marke Ben&Jerrys. Es wäre dagegen fragwürdig, Marken mit bestimmten Botschaften zu versehen, die sie nur auf der werblichen Ebene für sich postulieren würden. Schumacher kommentierte: „Die Debatte um Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit hat in den vergangenen Jahren mehr Schatten geworfen, denn Licht gebracht“. Es sei zu beachten, dass das Portfolio jeder Marke eine Vielzahl unterschiedlicher Leitungsmerkmale kennzeichne. Man setze wieder auf die individuelle „Leistungskultur der Marken“. Vorausgegangen war massive Kritik von Investoren am Kurs des CEO-Vorgängers Alan Joppe, dem man vorwarf, die „Sinnhaftigkeit“ der Produkte vor eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung zu stellen.

Abkehr vom „Sinn-Mantra“

Interessanterweise ging diese Abkehr der Speerspitze des „Sinn-Marketings“ (oder Purpose-Marketings) in der (deutschen) Berichterstattung unter – wenn überhaupt wurde die Fokussierung auf die 30 Kernmarken des Konzerns (die 70 Prozent des Umsatzes generieren) thematisiert. Eine Randnotiz. Die eigentliche Nachricht war dagegen in den englischsprachigen Medien, die Abkehr vom sogenannten „Sinn-Mantra“ des bisher einflussreichsten Players. Das wichtigste britische Marketing-Magazin „Marketingweek“ zitierte die klare Aussage des Unilever-CEOs: „Wir beenden jetzt die ‚Gewaltsinngebung‘ unserer Marken.“

Denn auch im 21. Jahrhundert ist Ökonomie trivial: Marken können nur das wiederholen und reproduzieren, was über die Zeit mehr Geld einbringt, als es kostet. Es hatte sich herausgestellt, dass die Fokussierung auf übergreifende „Sinnkonstellationen“, die wirtschaftliche Performance aus unterschiedlichen Gründen nachweisbar schwächten: Die Produktmanager rückten plötzlich Argumente in den kommunikativen Vordergrund, die kaum glaubwürdig waren, meist austauschbar wirkten und vor allem: nicht mehr die eigentliche Lösungskompetenz des Produktes verdeutlichten.

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Denn letztlich sind Marken im Kern Problemlöser, die bestimmte Aufgaben erfüllen müssen. Es muss nicht immer gleich eine Weltrettung sein, sondern ganz simpel ein wohlschmeckender Joghurt, ein solider Dübel oder ein effizientes Vollwaschmittel. Auch das kann äußerst sinnvoll sein und wird auf Resonanz stoßen, indem Kunden ein Produkt kaufen und damit Hersteller und Angestellte direkt unterstützen – so weit, dass Unternehmen sogar in der Lage sind, ihre (hohen) Steuern im Dienste der Gemeinschaft abzuführen. Ein Image mag die Marke durchaus bereichern, aber selbst eine Marke wie Ferrari entsteht immer noch in einer Werkhalle in Maranello – und wird sich allein über ein exklusives Image nicht lang verkaufen.

Gerne wird auf ein verändertes Kaufverhalten der Öffentlichkeit berufen. Marktforschungen würden immer wieder die Wichtigkeit von Nachhaltigkeit und sozialem und gesellschaftlichem Engagement für die Kaufentscheidung bei den potentiellen Kunden beweisen. Tatsächlich nur ein Zufall war die Tatsache, dass das gleiche britische Magazin „Marketingweek“ nur sechs Tage später nach dem Bericht über Unilever das Thema einer falsch konzipierten Marktforschung aufgriff und darauf aufmerksam machte, dass ein Großteil aller Studien zum Thema „nachhaltiger Konsum“ Ergebnisse bereitstellen würden, die nichts mit realen Verhalten der Öffentlichkeit zu tun hätten.

Der Autor des Artikels, Mark Ritson, glich die Studienergebnisse renommierter Marktforschungsinstitute mit seinen persönlichen Erfahrungen ab: So würden maßgebliche Marktforschungen verdeutlichen, dass 70 Prozent der Briten bei ihrem Einkauf auf hohe Umwelt- und Sozial-Standards bei Handelsketten achten würden – gleichzeitig aber eine bekanntermaßen hochgradig Arbeitnehmerrechte einschränkendes Unternehmen wie Amazon zu den „beliebtesten“ Einzelhändlern gehören. Wären die Studienergebnisse tatsächlich ein Ausschnitt der Realität, dann dürften zahlreiche Unternehmen in Großbritannien kaum oder gar keine Kunden mehr haben.

Besinnung aufs Normale

Ritson macht auf ein entscheidendes Problem bei Marktforschungen aufmerksam: So würden vorgegebene Antwortkategorien einem „normalen Menschen“ so gut wie nie spontan einfallen und wahre Entscheidungskriterien außer Acht lassen. Während beispielsweise der „Umgang mit den Mitarbeitern“, „Recyclingpolitik“ oder „Fairness gegenüber den Lieferanten“ Auswahlkriterien bei Befragungen seien, wären die eigentlich gängigen Antwortmöglichkeiten eher Preis, Auswahl und Produktqualität. Verzichtet man auf vorgegebene Kategorien, so reduziert sich die Relevanz typischer Umwelt- bzw. Fairness-Entscheidungskriterien von 70 Prozent auf 1 bis 6 Prozent (beispielsweise Umweltschutz, Faire Arbeits- und Einkaufsbedingungen). Diese Menschen lügen nicht, sondern, so führt Mark Ritson aus, sind vergesslich, unangenehm berührt oder verdrängen ihr (vermeintlich) sozial unerwünschtes Verhalten in Befragungen. Denn gegenüber Fremden, egal ob in Präsenz oder vor dem Hintergrund einer anonymisierten Studie, wollen wir aufgeklärt, verantwortungsvoll und rational erscheinen – keiner sieht sich gerne als unsensibler Ignorant.

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Grundsätzlich bezweifelt Ritson, dass Konsumenten wissen und rational herleiten, warum sie etwas tun. Konsumenten seien mitnichten die verantwortungsbewussten, rational entscheidenden und vernünftigen Wesen, sondern legitimerweise zutiefst egozentrisch, vorteilsbezogen, auf der Suche nach einem guten Angebot. Statistiken über die erfolgreichsten Marken beweisen es. Die Werbelegende David Ogily führte diesen Zusammenhang noch viel prägnanter und vor langer Zeit aus: „Menschen denken nicht, was sie fühlen, sagen nicht, was sie denken und machen nicht das, was sie sagen.“

Dass multinationale Unternehmen mit Marktforschungsabteilungen, die fast so groß sind, wie eine deutsche Kleinstadt, um diese Marktverzerrungen in ihren Studien nicht wüssten, wäre absurd. Jedoch: Wenn eine Allianz aus Werbern und Marketingexperten ihr Selbstbild und ihre Relevanz auf Kosten des Leistungswillens der Entwickler, Techniker, Verkäufer und Mitarbeiter in den Werkhallen aufwerten, indem nicht mehr die profane Problemlösung des Produktes im Vordergrund steht, sondern abstrakte und phantasierte Weltrettungszuschreibungen, kann nur eines helfen: die schnöde Wirklichkeit der Zahl.

Denn letztlich kaufen die Leute auch weiterhin Lösungen für ihre Aufgaben, Probleme und Herausforderungen. Wenn eine Marke aber eben diese Lösung nicht mehr verdeutlicht, wenden sich die Kunden Zug-um-Zug ab … solange bis ein Unternehmen und seine Kommunikationsprofis wieder gezwungen sind, das ganz simpel und profan zu tun, wofür sie ursprünglich gedacht waren: über das Gute und hilfreiche einer konkreten Leistung zu berichten. Und dies ist etwas ungeheuerlich Edles!