Tichys Einblick
Plattform-Ökonomie als Markenkiller

Der Niedergang der Marken – und wie sie sich dagegen wehren können

Amazon und andere Plattformen sind auf Preisspiralen nach unten angelegt. Angebotene Leistungen drohen dadurch Allerweltsprodukt zu werden. Europäischen Unternehmen mit ihrer traditionellen Markenstärke bleibt aber ein Ausweg.

imago Images

Die wirklich systemverändernden Revolutionen geschehen nicht mit dem einen großen Knall. Im Gegenteil: Systemverändernde Revolutionen nagen an bestehenden Mustern und Gewohnheiten, Tag für Tag, untergraben, durchlöchern nicht sichtbar Fundamente bis zu dem Moment, an dem ein Symbol der „alten Ordnung“ scheinbar ganz plötzlich zusammenbricht. Öffentlichkeitswirksam. Blaupunkt, Nordmende, Loewe, Dresdner Bank, Horten, Quelle … nur noch, wenn überhaupt, Labels ohne Rückgriff auf die reale Leistungsgeschichte. Corona scheint in Hinblick auf den Onlinehandel den Niedergang einer selbstbestimmten Unternehmenskultur zu beschleunigen.

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„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Seit gut 15 Jahren prognostiziert die Wissenschaft das Ende der Warenmärkte wie wir sie kennen. Keine Frage: Die Ladenzeilen der Städte werden immer leerer – auch bereits vor Corona. Der „kleine Laden“ in der Nachbarschaft ist schon zur Sehenswürdigkeit für die zugezogenen Kreisstadt-Hipster in der großen Metropole geworden: „Schau mal, das ist noch ein richtig alter Laden … mit `ner richtig alten Verkäuferin ´drin.“ Analoger Einzelhandel wird zum Einkaufserlebnis, weil das Einkaufen selbst keinen Mehrwert mehr bietet. In Hinblick auf die Veränderung der Einkaufskultur sind sich Wissenschaftler, Führungskräfte und Kunden einig: ECommerce sells! In Deutschland explodierte zwischen 1999 und 2019 der Wert des Online-Handels von 1,1 Milliarden Euro auf 57,8 Milliarden Euro. Die vergangenen Wochen gelten als Feuerwerk für den Onlinehandel, aber bereits zuvor war das Wachstum exorbitant. Das mag man beweinen, sozialpolitisch kritisieren, aber der „Click round the clock“ führt zu ungebremstem Wirtschaftswachstum und hat längst die Diskussion um Öffnungszeiten obsolet gemacht.
Eine Marke ist eine Marke – analog wie digital

Vor einem strategischen Hintergrund wird die Frage entscheidend, wie sich Unternehmen im Angesicht dieser unumkehrbaren Markt-Disruption verhalten. Durchaus verbreitet ist der in Europa verbreitete Ansatz „abzuwarten“ oder die „Rückkehr zum Normalzustand“ zu beschwören mit der Prämisse, seine Kundschaft zu erziehen: Die Kraft der Gewohnheit wird es schon richten. Gut zehn Jahre lang haben europäische Markenartikler und Einzelhändler die Auswirkungen des E-Businesses eben deshalb ignoriert und nicht begriffen, dass auch der Vertriebskanal ein Bestandteil der Marke ist.

Europa spielte bei der Initiierung und Entwicklung digitaler Vertriebskanäle kaum eine Rolle, ganz im Gegensatz zu Amerika und Asien. An der Oberfläche mag dies ein strategisches Versäumnis gewesen sein, aber die strukturellen Auswirkungen sind viel fundamentaler: Amerika und Asien, die eigentlichen Treiber der Digitalisierung, kennen keine ausgeprägten Markenkulturen, sondern nur wenige Superbrands, die alleiniges Anziehungspotential besitzen und keiner Plattformen bedürfen. Europa dagegen kennzeichnet in seinen Kernländern wie Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich und Italien einen starken Mittelstand mit hochspezialisierten Unternehmen, die zwar in ihren Märkten erfolgreich sind, aber nicht den Anspruch erheben „übergreifend“ bekannt zu sein. In der Folge traf ein hochwirksamer, aber vereinheitlichender Vertriebskanal auf Material, dass eben seine Kraft aus der Differenzierung bezog.

Fluch und Segen der Plattform-Ökonomie

Inzwischen wird deutlich, dass der Online-Vertrieb eben nicht einfach ein Online-Vertrieb ist, sondern sich jedes Jahr stärker auf ausgegliederten Plattformen abspielt: Egal ob Check24, Autoscout24, Immobilienscout, Lieferando und vor allem Amazon als Mutter aller Handelsplattformen – der Anteil der Vertriebsplattformen wächst kontinuierlich und beständig. Die Corona-Zeit hat neben elektronischen Geräten und Bekleidung, also den traditionellen Produktgruppen, die vorzugsweise im Internet gekauft werden (zwischen 50-80% des Gesamtvolumens), nun auch die sogenannten „schnelldrehenden Konsumgüter“ wie beispielsweise Lebens- oder Drogerieartikel zu einer relevanten Produktgruppe im Onlinehandel gemacht. Die Lebensmittelzeitung konnte unlängst in einer Befragung feststellen, dass knapp 80 % der Menschen, die in jüngster Zeit online eingekauft haben, auch weiterhin diesen Kanal umfangreicher nutzen wollen.

Ruinöse Abverkäufe

Warum zunehmend politisch?
Werbung auf der Suche nach dem guten Geld
Der Vertrieb über Online-Plattformen ist keine Frage des „Ob“, sondern fast nur noch des „Wieviels“. Gerne wird das Argument vorgebracht, die Plattform sei ein bequemer Weg der Marktdurchdringung: Preise lassen sich unmittelbar „anpassen“ (das heißt im Normalfall reduzieren) und damit die Sichtbarkeit erhöhen. Im Gegenzug verdienen die Plattformen über die auskömmlichen Verkaufs-Provisionen und Anzeigen ihrer Zulieferer – ohne selbst irgendwelche Formen des realen Risikos und der Verantwortung einzugehen (ein Grundsatz des Unternehmers).

Bei näherer Betrachtung ist dieser Zustand ärgerlich, aber in Wirklichkeit führt die Rolle der Plattformen zu marktstrategischen Verwerfungen: Denn Plattformen sind in ihrer Struktur darauf ausgelegt, eine Preisspirale nach unten zu systematisieren. Ihr grundlegender Algorithmus intendiert, das beste Angebot zum billigsten Preis prominent in Szene zu setzen. Warum? Ganz simpel: Weil es sich am schnellsten verkauft. Da aber immer mehr Unternehmen die Plattform situativ nutzen, um Überhänge oder Kapazitäten in den Markt zu drücken, sinkt das durchschnittliche Preisniveau stetig und in aller Regel sofort. Früher nannte man dieses Verhalten „Ware versenken“ mit dem Unterschied, dass die Wahrscheinlichkeit, dass alle Kunden von einem besonderen Angebot in einem fernen Discounter erfuhren, relativ gering war. Die Kundschaft lernt die immer niedrigere Preiskultur im Internet allerdings dauerhaft und allumfassend. Kein Unternehmen ist danach kurzfristig in der Lage, die „gefühlt richtigen“ Preisen erneut in eine gesunde Relation zu rücken. Die Anbieter hoffen auf die ungerichtete Unterstützung (Marktmacht) der Plattformen, so dass sich der Kunde für ihre Angebote entscheidet. Dieses Hoffen ist sehr teuer (bis ruinös) für den eigentlichen Leistungserbringer.

Der entscheidende Treiber der Plattform ist also die Aufmerksamkeit über den Preis. Einen Aspekt muss eine Plattform dagegen vehement ausschließen: Die Kraft einer Marke in den Fokus zu rücken. Im Gegenteil: Jede Plattform muss eine Leistung zu einer Commodity, zu einem Allerweltsprodukt, zu einem Niemand machen. Denn wenn der Zweck der Plattform das günstigste Angebot ist (neben anderen, aber viel unwichtigeren Faktoren), dann ist der Zweck einer Marke, sich dem Preiskampf und dem Wettbewerb zu entziehen, indem es ihre Preiskultur durchsetzt. Es besteht demnach ein struktureller Zielkonflikt, der allerdings von vor allem europäischen Unternehmen mit ihrer traditionell verankerten Markenstärke bespielt wird. Nur wer ist, will nicht Niemand sein.

Beurteilungen der Kunden werden zum Druckmittel der Plattformen gegenüber den Unternehmen

Werbung in Zeiten von Corona
Geldverdienen war gestern
Klar ist: Die heutigen Plattformen erschaffen keinen Wert; sie schöpfen ihn nur ab. Den Plattformen ist es gelungen, sich als diejenigen zu verkaufen, die viel Nutzen für wenig Geld anbieten, ohne selbst irgendeine der angebotenen Leistungen zu erbringen. Der Kunde fragt nicht danach, wie der Nutzwert zu ihm kommt; ihn interessiert nur und durchaus nachvollziehbar, dass er den Nutzwert (möglichst billig) erhält. Dass schließlich die Beurteilungen der Kunden dafür eingesetzt werden, den Leistungserbringer im Sinne immer höherer Erwartungshaltungen zu erziehen, da die schlechte Beurteilung automatisch zu einem schlechteren Ranking führt (das so manches Mal wieder als Anzeige erkauft werden muss), macht die schlaue Konzeption der Plattformen umso deutlicher. Dass die großen, globalen Online-Player effektive Steuervermeidungsstrategien durchsetzen und damit auch in makroökonomischer Sicht ausschließlich abschöpfen, während die verbliebenen nationalen Anbieter in die antiquierten Steuermühlen geraten, ist fast nur noch ein Nebeneffekt.
Wirtschaft als Wettbewerb der Vorurteile

Die einzige Möglichkeit, dem Automatismus der „digitalen Angebotsschütte“ zu entgehen, bleibt allerdings, die spezifischen Erwartungsmuster einer Marke zu betonen und zu verfestigen. Auch und gerade im Internet. Auch und gerade in Zeiten gefühlter Unsicherheiten. Dies gelingt allerdings nur, wenn die Marke sich nicht versucht über eine imageorientierte, d.h. oberflächliche Differenzierung zu positionieren, sondern Leistungen liefert, die die kulturell verankerten Gewohnheitsmuster weiter verstärken. Die entscheidende Leistung bleibt in Zeiten des „Überall gleich“, der „Globalisierung“ und des „Standards“ vor allem die Herkunft. Sie ist die treibende und übergreifend funktionierende Kraft aller Warenmärkte. Herkunft ist nicht kopierbar – sie bezieht sich weiterhin auf einen realen Ort, den wir mit seinen vemeintlichen Vor- und Nachteilen zu kennen scheinen. Gerade in Corona-Zeiten sollte an sich der zugängliche, nahe Hersteller und Verkäufer ein Garant für das Sicherheitsgefühl sein.

Nie waren Vorurteile so wertvoll wie in Zeiten des unendlichen digitalen Angebotes.


Prof. Dr. Oliver Errichiello und Dr. Arnd Zschiesche sind Gründer und Geschäftsführer des Büros für Markenentwicklung in Hamburg. Vor kurzem erschien ihr Buch Marke statt Meinung: Die Gesetze der Markenführung in 50 Antworten (Dein Business)

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