Tichys Einblick
Wenn nichts mehr harmlos ist

An Winnetous Seite kämpfen

Winnetous leiser Kampf ist auch der Kampf um die Bewahrung von Phantasie und Identifikation als Grundlage des sozialen Lebens – seitdem sich Menschen Geschichten erzählen. Eine Welt, die Welt ist: mit Fehlern, mit Missverständnissen, mit Problematiken. Mit Unsicherheiten und Katastrophen. Welt, eben.

IMAGO/United Archives

Die Sommer meiner Kindheit waren angefüllt mit ewig rauchenden (und für mein Taschengeld viel zu teuren) Platzpatronen und ihrem Geruch, der Abenteuer versprach und die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger rotgrau färbte. Wir liefen schreiend über die Wiese der Hamburger Neubausiedlungen und träumten Jungsträume (Mädchen waren nicht willkommen) von Gefechten der Nord- gegen Südstaaten (die „Blauen“ hatten die schöneren Uniformen) und imitierten die Revolverkünste eines John Wayne, dessen Film wir – große Ausnahme – am Abend zuvor zu Ende sehen durften. Auf der Wiese standen blaue, aber vor allem wackelige Indianerzelte vom Quelle-Versand mit Streben aus dünnem Bambus, die sofort umfielen, sobald man sie betrat. Manchmal setzte ich meinen bunten indianischen Federschmuck, mit schwarzer Perücke sowie feinsten güldenen Blechornamenten auf und schrie dieses unnachahmliche „Uauauauu“ durch den Hof. Herr Fransen aus dem 2. Stock schrie dann „Ruhe!“ Indianer waren cool und klug und sprachen merkwürdige, aber weise Worte …, die man sich sorgsam ausdenken musste, um nicht wie ein Depp vor seinen Freunden dazustehen.

Aus und vorbei. Alles an den oben genannten Erinnerungen führte in den sensibel aufgeklärten Zeiten der Postmoderne im besten Fall zu Stirnrunzeln, im schlimmsten Fall zu einer Anzeige wegen Gefährdung des Kindeswohls, denn:

  • Platzpatronen = Kriegserziehung + Giftstoffe
  • Kriegsspiele = mangelnde Empathie
  • Fernsehfilme = für Kinder geeignet (FSK)?
  • Zelte = nicht TÜV-geprüft
  • Indianerspielen = kulturelle Aneignung

Nun hat’s also Winnetou erwischt: kein Streifschuss, sondern mitten ins Herz. Und das, nachdem zuvor bei Astrid Lindgren und bei Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer mehr als offensichtlich koloniale Vorurteilsstrukturen feststellbar waren. Kurzum: die Leichtigkeit meiner Kindheit belehrend und sorgsam missmutig abgezählt und schließlich erfolgreich entsorgt. Nach einer digitalen Entrüstungsäußerung zieht der renommierte Ravensburger Verlag sein „Winnetou-Buch“ zurück. Nun wird es viele Gründe geben. Management und Mitarbeiter werden ein Für und Wider abgewogen haben, um dann zu diesem Ergebnis zu gelangen.

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Egal ob Winnetou, Jim Knopf oder Pippi Langstrumpf. Es handelt sich um Geschichten: moderne Märchen. Märchen nutzen bekannte Vorstellungswelten und Muster. Märchen sind Märchen, weil sie grundsätzliche Aspekte des Lebens in einer konkreten Art und Weise darstellen, die für alle Menschen (selbst für Kinder) zugänglich und verständlich sind. Sie beziehen sich auf die großen, die existenziellen Fragen, die für Kinder vielleicht noch diffus, aber bereits vorhanden den „großen Gefühlen“ einen Rahmen und eine Ursache geben. Liebe, Freundschaft, Wut, Trauer, Stolz, Eifersucht – Werte, existenzielle Gefühlswelten, die den Menschen zum Menschen machen. Identifikation oder Distanzierung ermöglichen. Soziales Leben überhaupt erst ermöglichen, indem wir Gefühle lernen, Beispiele (gefahrlos) wahrnehmen können.

Märchen, Klassiker wie auch moderne Geschichten (man nennt dies heutzutage Storytelling) geben diesen tragenden Emotionen eine Bühne, die den Umgang mit ihnen üben lässt. Daher sind alle Geschichten ausnahmslos immer verallgemeinernd und stereotyp. Während die Wissenschaft das Persönliche und Individuelle gezielt reduziert, so nutzt die Literatur das Exempel, das Gleichnis, um auf diese Weise Identifikation und Abwägung eines persönlichen Standpunktes zu erreichen. Man stelle sich vor, man läse seinen Kindern am Abend Gute-Nacht-Geschichten aus wissenschaftlichen Abhandlungen vor …

Was nun geschieht, ist der Anfang vom Ende der Fiktion, es ist der Anfang vom Ende des Vertrauens in die Denk- und Urteilsfähigkeit des (jungen) Menschen. In der Logik der modernen Aufklärer hätten meine wüsten Kindheitserfahrungen dazu führen müssen, dass ich wild marodierend und brandschatzend durch die Straßen der Hamburger Neubaugebiete zöge. Das Gegenteil war der Fall: Gerade einmal ein Dutzend Jahre später verweigerte ich den Wehrdienst und zog es vor, dem amerikanischen Generalkonsulat „Kein Blut für Öl“ zuzurufen (man mag mir diese Jugendsünden verzeihen: Die Jugend ist an die Jungen verschwendet …).

Es ist nur konsequent zu glauben, man müsse den Menschen vor dem Übel schützen, indem man jede Äußerung und Aktivität daraufhin überprüft, ob die richtige Geisteshaltung vorläge. Es ist ein Menschenbild, das Reiz und Reaktion in eine absolut vorhersehbare Logik presst: Wenn Du A siehst, wirst Du A. Jedoch: Menschen sind keinen Maschinen. Menschen haben die faszinierende Fähigkeit, aus Gesehenem etwas Eigenes zu entwickeln – manchmal wird aus A dann B oder C oder D –, die Entmündigung des Einzelnen im Sinne betreuten Denkens verdeutlicht ein Weltbild, das glaubt, alles steuern zu können und zu müssen, von der Zehntelstelle des Weltklimas über die Höhe von Einzelhandelsregalen bis hin zu sorgsam ausgewählten Gästen in den politischen Talkshows, weil der Einzelne nicht in der Lage ist, oder zu schwach sei, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Und so greift der (sehr deutsche) Glaube, alles steuern zu müssen und zu können, selbst meinen guten, alten Freund Winnetou an, der niemanden entwertet, sondern im Gegenteil die (immer weiter verschwindende) Verschiedenheit der Welt in aller unscharfen Großartigkeit feiert. Winnetous leiser Kampf ist auch der Kampf um die Bewahrung von Phantasie und Identifikation als Grundlage alles sozialen Lebens – seitdem sich Menschen Geschichten erzählen. Eine Welt, die Welt ist: mit Fehlern, mit Missverständnissen, mit Problematiken. Mit Unsicherheiten und Katastrophen. Welt, eben.

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Und: Was sagt es eigentlich über das Miteinander aus, wenn jede Äußerung, jede Aktivität und jede kreative Lösung zunächst einmal dahingehend überprüft wird, ob sie nicht bösartig, gemein und unsensibel ist. Das ist ein Menschenbild, das Missmut, Distanz und Kälte lebt. Die soziales Leben aseptisch, fein abgerundet und garantiert desinfiziert absolviert.

Warum das alles? Warum lässt sich ein renommierter Verlag, der die Phantasie bislang gefeiert hat, auf diese Lösungen ein? Es wird individuelle Gründe geben, die nur spekuliert werden können. Entscheidend ist eine strukturelle Logik: Unternehmen verstehen sich immer mehr als gesellschaftliche Akteure. Lufthansa sorgt für Liebe und bringt die Menschen gar nicht mehr von A nach B, Edeka verkauft viel mehr als Frischkäse, Cervelatwurst und geriebenen Parmesan, sondern vor allem Mitmenschlichkeit, und die deutsche Automobilwirtschaft verkauft keinesfalls Autos, wie ein Marketingchef letztens berichtete, sondern Mobilität. „Added Value“ nennt dies der Werbeprofi.

Die Idee dahinter kommt eingängig daher: Da wir in einer Welt des Überflusses und der Millionen Möglichkeiten leben und die Produkte und Dienstleistungen immer austauschbarer werden, so gilt es, die Produkte emotional „aufzuladen“, sie mit einem psychologischen Zusatznutzen zu verknüpfen. In den 1980er und 1990er waren das noch eher profane „Werte“ wie „Freude“, „Luxus“ oder „Spaß“ – da aber Tausende von Marken mit zwei Handvoll „Werten“ hantierten, sodass auch hier die Austauschbarkeit einsetzte, rückten gesellschaftlich-politische Aufgaben in das Aktionsfeld von Fluggesellschaften, Käsereien, Dübelproduzenten, Brunnenabfüllern, Fleischverarbeitungsbetrieben, Haushaltsreinigungslieferanten sowie Keks- und Salzgebäckunternehmen, um nur einige zu nennen.

Marken wurden nicht nur politisch, sondern ethisch: Es galt sein Verantwortungsbewusstsein für Toleranz, Vielfalt und Nachhaltigkeit zu demonstrieren. Missionen und Visionen wurden geschrieben und ausgearbeitet, die mitunter nichts weniger zum Ziel hatten als „eine bessere Welt“ – dabei produzierte man eigentlich äußerst solide Werkzeugtechnik, verlässliches Toilettenpapier oder erfrischende Brause. Hinter vorgehaltener Hand berichtete dann auch so mancher Unternehmensmanager, dass man diese Themen vor allem in Bezug auf die Gewinnung junger und engagierter Mitarbeiter bespielen würde (die meist für das Marketing in den Unternehmen verantwortlich sind und damit das öffentliche Bild entscheidend prägen).

Ein in den letzten Jahren besonders gern herangezogenes Feld „gesellschaftlichen Engagements“ ist beispielsweise die Thematisierung von „bunten Kampagnen“: McDonald’s verkauft „bunte Gemüsesticks“ aus Süßkartoffeln, Pastinake und Roter Bete (Rainbow Sticks) und unterstützt auf diese Weise „die Vielfalt in der Gesellschaft“!

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Die Verwendung von Regenbogensignets und Flaggen gehört inzwischen zum „guten Ton“ so mancher Unternehmen. Die „Beflaggung“ steht synonym als Signal, um äußerst kostengünstig die Weltoffenheit und damit den innovativen Geist des Unternehmens (nach außen und innen) zu verdeutlichen. Galt bisher das Primat, dass das „berufliche und private“ Leben – aus guten geschichtlichen Erfahrungen – voneinander getrennt wurden, greift das Unternehmen nun kraftvoll in gemeinschaftliche Sphären ein, „weil ja das Gute“ vorangetrieben wird. Das gilt es zunächst zu konstatieren und nicht umgehend zu beurteilen. Umso kurioser, dass die Vorstellung von „Life-Work-Balance“ ein großes Thema auf den Teppichfluren der Firmen ist.

Vor so viel „Solidarität“ bis in die profane Pommes-Spitze hinein fragten selbst Branchenmagazine: Geht es um ein ehrliches Engagement oder im McDonald’s-Fall um sogenanntes „Pinkwashing“, also das Ausnutzen vermeintlicher gesellschaftlicher Trends, um kurzfristige Aufmerksamkeit zu erzielen? Ganz gleich wie die Antwort ausfällt, so bleibt die grundsätzliche Frage: Was ist das Selbstverständnis von Unternehmen in Zeiten der Management-Phrase der „wirtschaftlichen Transformation“? Dass Unternehmen eine gesellschaftliche Verantwortung haben, ist unstrittig und wurde bereits 1927 in dem Buch „The Social Significance of Business“ von Wallace Donham beschrieben.

Damals und in den Jahrzehnten danach bezog sich der Radius unternehmerischer Verantwortung auf das unmittelbare Umfeld: Es galt, wirtschaftlich zu handeln, Grundlagen für Gewinne zu schaffen, um als Unternehmer- und Arbeiterschaft gemeinsam erfolgreich zu sein, um anständige Löhne zu zahlen und Voraussetzungen für weitere Vergünstigungen zu schaffen (Wohnungen, Ferienheime, Unterstützung der Familien) und – ganz profan – Märkte zu schaffen. Wie heißt es doch so simpel: Autos kaufen keine Autos. Viele erfolgreiche europäische Unternehmen kennzeichnete diese konkrete Arbeit an der Lebenswirklichkeit der Menschen. In der Sozialen Marktwirtschaft westdeutscher Prägung (und in anderen europäischen Volkswirtschaften) fand dieses Modell seine erfolgreiche Realisierung. Unternehmen finanzierten über angemessene (Sozial-)Abgaben und Steuern (im Gegensatz zu spitzfindigen Steuervermeidungmodellen) staatliche Aufgaben.

Heute dagegen wird die „gesellschaftliche Verantwortung“ von Unternehmen auf die Symbolebene verschoben. Es wirken Ideen und kreative Lösungen, um „Haltung“ zu demonstrieren. Und zwar eine Haltung, die zumeist der Lebenswirklichkeit der Bildungselite stuckverzierter Altbauarchitektur, Bio-Läden, Veja-Sportschuhe und Patagonia-Shirts sowie Street-Food-Wochenmärkten der hippen Metropolenstadtviertel entspricht. Auf welcher Basis Unternehmen meinen, Kompetenzen in Fragen außerhalb ihres Leistungskosmos zu haben, bleibt ein Rätsel. Es werden schmissige Slogans und Solidaritätsbekundungen („We stand with …“) verlautbart und Produkte zeitweise umgebranded – Winnetou, dieser alte moralische Haudegen, wurde Opfer einer weltgewandten Ethik. Und dabei ist er doch der Inbegriff der Solidarität zwischen den Kulturen. Schon vergessen? Winnetou und Old Shatterhand waren Blutsbrüder.

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