Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Liberal-Konservative brauchen einen starken Charakter – und Seelenpflege

Wer grundsätzlich anders denkt, der befindet sich schnell ausserhalb des erlaubten und tolerierten Spielfeldes. Wer sich gegen den Zeitgeist stellt, der muss seine Seele pflegen, um nicht kaputt zu gehen, um nicht zu resignieren, zu verzweifeln oder zu verbittern.

IMAGO / Andreas Vitting

Kurt Tucholsky hat nicht nur TE-Lesern einen Denkspruch ins Stammbuch geschrieben: „Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: ‚Nein’!“ 

Unser Zeitgeist ist linksgrün. Das wäre gar nicht schlimm, wenn der Zeitgeist ein weites Herz hätte und in oppositionellen Kräften eine anregende Bereicherung sehen würde. Willy Brandt wusste noch: „Wo Streit ist, da ist Demokratie. Wo Demokratie ist, da ist Streit.“ 

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Davon jedoch ist der gegenwärtige Zeitgeist weit entfernt. Heute hält man es bereits für eine Sternstunde der Demokratie, wenn man darüber diskutiert, ob AstraZeneca oder BioNTech der bevorzugte Impfstoff für die Massenimpfungen sein sollte; ob die Inzidenz für einen Lockdown bei 75 oder bei 100 liegen sollte; oder ob man Kohlekraftwerke 2030 oder 2037 auslaufen lassen sollte. Mehr „Streit“ scheint unsere Demokratie nicht mehr auszuhalten. 

Wer grundsätzlich anders denkt, der befindet sich schnell ausserhalb des erlaubten und tolerierten Spielfeldes; selbst wenn sich herausstellt, dass dieses enge „Spielfeld des Zeitgeistes“ höchstens den linken Strafraum des „Fußballfeldes Grundgesetz“ umfasst. 

Und das kann bitter werden, wenn einem gesellschaftlich und medial zugerufen wird: „Du mit deiner falschen Meinung, du darfst bei uns nicht mehr mitspielen. Verpiss dich! Denn wir – und nicht das Grundgesetz – haben die Macht, die Grenzen des gesellschaftlichen Spielfeldes festzulegen!“ 

Kurt Tucholsky, der vom damaligen Zeitgeist ausgegrenzt wurde, ist darüber verbittert. Im Exil in Schweden schreibt er 1935 mit einem gebrochenen Herzen: „Ich habe mit Deutschland, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Russland erobern. Ich bin damit fertig.“

Kurt Tucholsky wusste also, wovon er schrieb: „Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: ‚Nein’!“ 

Wer sich gegen den Zeitgeist stellt, der muss seinen Seele pflegen, um nicht kaputt zu gehen, um nicht zu resignieren, zu verzweifeln oder zu verbittern.

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Das ist noch wichtiger, als gute Argumente zu sammeln. Für einen klugen Liberalismus und einen nach vorne gewandten Konservatismus gibt es mehr als genug Argumente. Angesichts mancher Zeitgeist-Verstiegenheiten drängen sich liberal-konservative Alternativen geradezu auf. Doch selbst wenn TE die besseren Argumente haben sollte, warum sollten Menschen liberal-konservativ werden, wenn sie gesellschaftlich dadurch die rote Karte bekommen? 

Wer liberal-konservativ ist, braucht ein dickes Fell; und eine besondere Seelenpflege. Und so versuche ich, mein seelisches Immunsystem zu stärken: 

Ich freue mich am Liberalismus, der meine Seele in das wunderbare Kraftfeld der Nonkonformität, der Offenheit, der Neugier, der Ehrlichkeit und der Authenzität hineinführt. 

Ich freue mich an der Kraft des Konservativen; dass ich das Rad nicht jeden Tag neu zu erfinden brauche, sondern dass ich mich an den bewährten Grundpfeilern meiner Vorfahren orientieren kann, auf deren Schultern ich sitzen darf.  

Ich freue mich über alle Gleichgesinnte, die mir gut tun und mich unterstützen; nichts macht mehr Mut als andere mutige Menschen. 

Ich freue mich über viele kluge und interessante Köpfe, die im liberal-konservativem Spektrum zu Hause sind. 

Ich freue mich an kleveren Gedankengängen und ansprechender Rhetorik; ein guter Artikel kann Nahrung für eine ganze Woche sein. 

Ich freue mich über alle Links-Liberalen; denn mit ihnen habe ich zumindest das Liberale gemeinsam – im Kampf gegen alle Links-Illiberalen und alle Rechts-Illiberalen. 

Ich freue mich an meinen Hobbies, die mal nichts mit Politik zu tun haben und die mich auf andere Gedanken und Gefühle bringen. 

Und ich freue mich nicht zuletzt über eine lebendige „Klagemauer“ – die Kommentarfunktion bei TE. Hier gibt es hilfreiche sachliche Beiträge; aber hier dürfen TE-Leser auch mal ihren Frust und ihren Ärger rauslassen und da braucht nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt zu werden. Auch eine „Klagemauer“ ist wichtig für die Seelenpflege. 

Mir persönlich ist auch mein christlicher Glaube Seelenpflege. Die Christen, die so dreist sind, ein Kreuz in den Mittelpunkt ihres Glaubens zu stellen, haben auch nicht gerade eine zeitgeist-taugliche Botschaft; ein goldenes Kalb oder ein Goldesel oder ein göttlicher Wunscherfüllungsgehilfe kämen gewiss besser an. 

Doch durch die österliche Begegnung mit dem Auferstanden kamen die Jünger Jesu gestärkt, getragen und geborgen aus ihren Schneckenhäusern heraus, nahmen größte Strapazen und Nachteile in Kauf. 

Für manche Botschaften lohnt sich halt der steinigste Weg – egal ob uns gesellschaftlicher Erfolg beschieden ist oder nicht.


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