Tichys Einblick
Missstände klar benannt

Die dreifach fundamentale Krise des deutschen Protestantismus

Der deutsche Protestantismus steckt in einer fundamentalen Krise. Ohne Reformation an Haupt und Gliedern wird er sich in Unvernunft, Staatshörigkeit und Glaubenslosigkeit selber zerstören, selbst wenn seine äußere Hülle noch viele Jahre erfolgreich weiter bestehen bleiben sollte.

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So wie Martin Luther vor mehr als 500 Jahren die Missstände seiner Kirche anprangerte (Thesenanschlag am 31.10.1517), so muss man auch heute Missstände der evangelischen Kirche klar benennen. Der deutsche Protestantismus steckt gegenwärtig in einer grundsätzlichen Krise.

Dabei meine ich nicht die Kirchenaustritte. Dass Menschen sich vom christlichen Glauben abwenden, kannte schon Jesus: „Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab und gingen hinfort nicht mehr mit Jesus“ (Johannes 7,66). Die christliche Botschaft zielt auf den Zuspruch der Menschen; aber sie ist in ihrem Wesen unabhängig von diesem.

Ich meine auch nicht die schwindende Finanzkraft der Kirche; ein lebendiger Glaube hängt nicht am Geld. So betont Petrus in der Anfangszeit der Kirche, dass nicht „Silber und Gold“ die Stärke der Kirche ist (Apostelgeschichte 3,6).

Die gegenwärtige Krise des deutschen Protestantismus geht tiefer. Sie betrifft nicht die äußere Erscheinungsform der Kirche, sondern ihr Herz:

1) Die Krise des Protestantismus durch die Verachtung der Vernunft

Wenn die oberste Repräsentantin der evangelischen Kirche, die EKD-Ratsvorsitzende und Präses Annette Kurschus, öffentlich im Deutschlandfunk behauptet, dass es mittlerweile „gesichert“ sei, „dass keine erkennbaren gesundheitlichen Schäden von der Impfung ausgehen“, dann bin ich zutiefst irritiert. Jeder Konfirmand sollte wissen, dass selbst eine Aspirintablette Nebenwirkungen haben kann. Noch irritierender ist, dass Frau Kurschus für diese Aussage keinerlei öffentlich wahrnehmbaren Gegenwind aus ihrer Kirche bekommen hat.

Die evangelische Kirche führte statt dessen mit 2G die Apartheid in ihren Gottesdiensten ein. Nichts gegen Vorsichtsmaßnahmen im Dienste der Gesundheit, allerdings nur, wenn diese intellektuell sauber und stichhaltig begründet sind. Aber wenn bekannt ist, dass getestete Ungeimpfte sicherer sind als ungetestete Geimpfte, dann sind Apartheidsgottesdiente ein Hohn auf die Vernunft. Es ist nicht nachvollziehbar, wenn man Ansteckungen minimieren möchte, dass man dann nur die tendenziell Ansteckenderen im Gottesdienst willkommen heißt. Eine Demonstrantin vor einem Heiligabendgottesdienst bringt es auf den Punkt: „Jesus, dessen Geburt ihr heute feiert, hat Kranke besucht; ihr schließt Gesunde aus.“

Wenn Synoden beschließen „Impfen ist Nächstenliebe“ und dann Impfzentren in ihren Kirchen direkt am Altar einrichten, dann führt das weg von einem vernünftigen Abwägen der Vor- und Nachteile einer Impfung für eine bestimmte Person; statt dessen fördert die Kirche damit den moralistischen Overkill unserer Gesellschaft bei gleichzeitiger Abwertung des Religiösen. Die Kirche entwertet das Religiöse, indem sie eine kontrovers diskutierte experimentelle medizinische Handlung in ihren religiösen Stätten aufwertet und sakralisiert.

Und so muss ich in Anlehnung an Friedrich Schleiermacher (1768–1834) fragen: Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehen? Der Protestantismus mit der Dummheit und die Vernunft mit dem Unglauben?

2) Die Krise des Protestantismus durch seine Anbiederung an die Macht

Die Beziehung von Staat und Kirche muss immer wieder neu dialektisch zwischen Nähe (Römer 13) und Distanz (Offenbarung 13) austariert werden. Doch schon in der Europa-, Energie-, Klima-, Flüchtlings-, Familien-, Abtreibungs- und Genderpolitik kam die Distanz der evangelischen Kirche zu staatlichen Vorgaben reichlich kurz. Die Kirche steht höchstens für ein „noch mehr desselben“, aber nicht für eine sachlich begründete Opposition. Fundamentaler Widerspruch wird in der Kirche genau wie im Staat vorschnell mit dem Label „Kampf gegen Rechts“ oder „kein Raum für Hass und Hetze“ unterdrückt.

Und das setzte sich in der Corona-Maßnahmen-Politik nahtlos fort, obwohl die Corona-Maßnahmen-Politik das Zentrum der Kirche angriff: das Feiern des Glaubens in Gottesdiensten und menschlicher Gemeinschaft. Kein Wunder, dass die Kirche in den letzten 2,5 Jahren schweren Schaden genommen und in manchen Gemeinden bis zu 50 Prozent der Gottesdienstbesucher verloren hat.

Sicherlich mag Kirche an der Seite der staatlichen Macht bequemer leben als auf der Seite der Ohnmacht. Doch das Kreuz als zentrales Symbol des Christentums steht dafür, dass der rechte Weg manchmal der Weg der Ohnmacht ist. „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren. Wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden“ (Matthäus 16,24-25).

3) Die Krise des Protestantismus durch die Vernachlässigung des Glaubens

Ich war entsetzt, als ich in mehreren Gemeindebriefen den Satz lesen musste: „Der Gesundheitsschutz muss jetzt in diesen Zeiten absoluten Vorrang haben.“ Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Gesundheit ist mir sehr wichtig. Aber „absoluten Vorrang“ hat in meinem Leben nur Gott.

Wer irdischen Dingen absoluten Vorrang gibt, der wird sie zerstören: Manche unserer Vorfahren haben Deutschland 1933 bis 1945 zerstört, indem sie Deutschland absoluten Vorrang gaben. Und in der Corona-Zeit zerstören wir die Gesundheit und das Gesundheitssystem, wenn wir der Gesundheit absoluten Vorrang einräumen.

Es ist die Stärke des Glaubens, die Werte dieser Welt in ihrem Zusammenspiel zu würdigen und zu relativieren. Kein irdischer Wert wird absolut gesetzt, weil nur Gott Absolutheit gebührt. Indem ich Gott die letzte Ehre gebe, bewahre ich das Vorletzte vor einer unheiligen und destruktiven Überhöhung. Das erste Gebot „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ ist ein Segen, weil dieses Gebot uns aus der pseudo-religiösen Knechtschaft des Vorletzten befreit (2. Mose 20,2-3).

Fazit ist, was schon längere Zeit zu beobachten war, ist in der Corona-Zeit offen zutage getreten: Der deutsche Protestantismus steckt in einer fundamentalen Krise. Ohne Reformation an Haupt und Gliedern wird er sich in Unvernunft, Staatshörigkeit und Glaubenslosigkeit selber zerstören, selbst wenn seine äußere Hülle noch viele Jahre erfolgreich weiter bestehen bleiben sollte.

Der Weg zur Heilung liegt in den Schätzen, die Bibel und Jesus Christus und die reformatorischen Bekenntnisschriften bereit halten. Ich vertraue darauf, dass Gott uns begeistert, diese Schätze erneut zu heben.

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