Tichys Einblick
Flucht in die Zivilreligion

Eine grundsätzliche und einseitige Analyse der Kirchenaustritte

In einem einzigen Jahr haben 639.000 Menschen die beiden großen Kirchen per Austritt verlassen. Die andauernde Austrittswelle begann nicht zufällig 1968. Wenn die Kirchen sich weiter an die gegenwärtige Zivilreligion anbiedern, schaufeln sie ihr eigenes Grab.

IMAGO / Jan Eifert

Vor ein paar Tagen hat die katholische Kirche ihre Kirchenaustrittszahlen für das Jahr 2021 bekannt gegeben. 359.000 Menschen haben die Kirche verlassen. Der mit Abstand höchste Wert, den die katholische Kirche in Deutschland jemals zu verzeichnen hatte. Rechnet man die 280.000 evangelischen Kirchenaustritte 2021 hinzu, dann haben in einem einzigen Jahr 639.000 (!) Menschen die beiden großen Kirchen per Austritt verlassen. Hinzu kommt noch ein erheblicher Sterbeüberschuss gegenüber den Taufen. Dadurch haben die beiden großen Kirchen im Jahr 2021 sage und schreibe 965.000 Mitglieder verloren.

Der Verdunstungsprozess der Großkirchen befindet sich augenblicklich im Hochsommer. Und es ist kein neuer kirchenreligiöser Regen in Sicht.
Kirchenaustritte spielten von 1949-1967 kaum eine Rolle; für beide Kirchen zusammengerechnet pendelten die Austrittszahlen unter 60.000 pro Jahr. Und das, obwohl Gottes Bodenpersonal auch damals in Skandale, Missbräuche, Fehleinschätzungen, Irrglauben, Gleichgültigkeiten und Torheiten tief verstrickt war. Die christliche Lehre von der Sünde weist darauf hin, dass es töricht ist, Fehlerlosigkeit in der Kirche zu suchen.

Ab 1968 kam die Kirchenaustrittswelle in Bewegung. Sie erreichte mit 280.000 im Jahr 1970 den ersten Höhepunkt und fiel dann in keinem einzigen Jahr mehr unter 150.000 zurück.

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Es ist meines Erachtens nicht zufällig, dass die Kirchenaustritte seit 1968 an Fahrt aufgenommen haben, denn die 68er-Bewegung war und ist im Kern kirchenfeindlich. „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“; dieser 68er-Slogan ist gewiss wahr; aber er vergisst vollständig, dass unter den kirchlichen Talaren auch wertvolle Weisheiten von über 3.000 Jahren verborgen sind.

Die christliche Weisheit hat ihren Kern darin, dass Erlösung ein Geschenk Gottes ist, dass sie jenseitig ist und dass sie leider nur punktuell diesseitig erfahren werden kann. Die 68er-Bewegung dagegen steht dafür, dass Erlösung ein rein diesseitiges, menschlich-gesellschaftliches Projekt ist, in dem wissende und revolutionäre Menschen die Welt retten.

Die 68er-Bewegung hat sich mittlerweile zu einer links-grünen Zivilreligion weiterentwickelt, die bis ins konservative Lager hinein die Kulturhegemonie übernommen hat: Die Erlösung mithilfe von Klimagerechtigkeit, Gendergerechtigkeit, Impfgerechtigkeit, sozialer Gerechtigkeit, offenen Grenzen, Überwindung der Nationalstaaten. Bis zum 23.2.2022 gehörte auch noch der pazifistische „gerechte Friede“ zum links-grünen Welt-Erlösungs-Ideologieprogramm.

Moralismus und realitätsferne Naturromantik
Luisa Neubauers nachchristliche Predigt im Berliner Dom
Die links-grüne Zivilreligion braucht keinen Gott, sondern nur den erleuchteten und starken Aktivisten. So durfte Luisa Neubauer im Berliner Dom in einem vermeintlich evangelischen Gottesdienst unter dem Beifall von Kirche und Medien verkünden: „Gott wird uns nicht retten. Das werden wir tun. Weil wir es wagen, die Schwere der Krisenbewältigung anzunehmen. Weil wir verstanden haben.”

Ist es da verwunderlich, dass mit dem Durchmarsch der 68er-Bewegung in die links-grüne bundesdeutsche Zivilreligion hinein die beiden Kirchen ernsthaft um ihr Überleben kämpfen müssen? Was 1968 mit den Kirchenaustritten an Fahrt aufnahm, das strebt jetzt seinem Höhepunkt entgegen.

Komischerweise biedern sich die Kirchen nicht nur im Berliner Dom mit Frau Neubauer an die links-grüne Zivilreligion an. Beide noch großen Kirchen übernehmen erstaunlich kritiklos die links-grünen Kernideologien und meinen, mit einem unscheinbaren, mehr oder weniger spirituellen Sahnehäubchen obendrauf ihre Existenz in Verschmelzung mit der gegenwärtigen Zivilreligion absichern zu können. Doch die links-grüne Zivilreligion und der christliche Glaube passen in ihrem Kern nicht zusammen.

„Komm, Heiliger Geist“
Die Kirche in der selbstgewählten Konformismusfalle
Die Bibel weiß zu stark um die Gebrochenheit und Endlichkeit des Menschen in Krankheit und Tod, die auch nicht mit kritikwürdigen Impfstoffen oder einem absoluten Gesundheitsschutz überwunden werden können. Die Bibel weiß zu stark um die Tragik aller selbstgerechten Aktivisten, die meinen, moralisch das Gute und Richtige zu wissen und zu tun, und dabei gegen alle guten Absichten das Böse realisieren.

Im biblischen Wort Gottes kann darum die Erlösung dieser Welt nicht vom Menschen ausgehen. Sie ist und bleibt alleine Gottes Geschenk. Dem entspricht auf Seiten der Menschen eine tiefe und letzte Bescheidenheit; der Mensch ist höchstens zu kleinen Schritten der Weltverbesserung fähig; und selbst um diese kleinen Schritte müssen wir immer wieder gemeinsam und ergebnisoffen ringen und streiten.

Was heißt das für die Kirche und ihre Kirchenaustritte in der Zukunft?

Wenn die Kirchen sich weiter an die links-grüne Zivilreligion anbiedern, dann schaufeln sie immer tiefer ihr eigenes Grab, denn die links-grüne Zivilreligion ist im Kern kirchenauflösend. Die Kirchenaustrittszahlen werden dann weiterhin erschreckend hoch sein. Doch was viel schlimmer ist: Als Anhängsel eines menschlichen Welterlösungswahns zerstören die Kirchen dabei ihr eigenes religiöses Fundament.

Darum sollten die Kirchen in den offenen und diskursiven Widerstand zum links-grünen Zeitgeist treten, weil dieser mittlerweile einen quasireligiösen Absolutheitsanspruch vertritt. Damit würden die Kirchenaustrittszahlen allerdings wohl auch nicht gesenkt werden können. Die links-grüne Zivilreligion hat mittlerweile derart die Kulturhegemonie übernommen, dass jeder ernsthafte Widerstand dagegen als Ketzerei geahndet und abgestraft werden kann.

Und dennoch kann die Kirche im offenen und diskursiven Widerstand gegen die links-grüne Zivilreligion innerlich wachsen und reifen. Mit einem gestärkten christlichen Fundament hätte die Kirche eine neue Chance:

Sie hätte eine neue Chance bei vielen einzelnen Menschen, die in diesen erbarmungslosen Zeiten eine gnädige Geborgenheit in einem göttlichen Frieden suchen.

Sie hätte eine neue Chance als eine Kircheninstitution, die in politischen Fragen unter ihren Mitgliedern eine große Vielfalt zulassen könnte.

Und sie hätte sogar eine neue gesellschaftliche Chance. Denn im Augenblick scheint sich heraus zu kristallisieren, dass die Götzen der gegenwärtigen Zivilreligion krisenuntauglich sind; ja, dass sie sich sogar als krisenförderlich herausstellen. Der erste Götze, die Ideologie des pazifistischen gerechten Friedens, ist bereits gefallen.

In dieser sich abzeichnenden Krise zivilreligiöser Sackgassen und Träumereien brauchen wir eine stabile Kirche auf gutem Fundament, die Religion und Politik wohl zu differenzieren weiß. Die Güte des kirchlichen Fundamentes wird dabei noch wichtiger sein als die Größe ihrer Mitgliederzahlen.

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