Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Die letzte Kuh der armen Bauern – Eine provozierende Geschichte aus Kuba

Vielleicht ist es nicht immer der beste Weg, die Armut mit Geld und anderen Gaben zu bekämpfen. Auf die Mobilisierung der eigenen Ressourcen kommt es an.

IMAGO/Hans Lucas

Die Universität von Havanna. Eine Vorlesung über „Psychologie der Kreativität“. Der Professor erzählt seinen Studenten eine erstaunliche Geschichte. Ich traue kaum meinen Ohren! Würde ein Professor in Deutschland es wagen, so eine Geschichte zu erzählen? 

„1930 erreicht ein Hilferuf das Kloster von Santiago de Cuba. Eine verarmte Bauernfamilie in den benachbarten Bergen bittet um Unterstützung. Die vier Kinder hätten kaum zu essen; und die Familie besitze nur noch eine einzige Kuh. 

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Früh am morgen macht sich der Abt mit zwei jungen Mönchen auf den Weg in die äußerst fruchtbare Bergregion. Der eine junge Mönch fragt den Abt: ‚Hast du Geld mit, damit wir die Familie unterstützen können?’ Der Abt sagt nur: ‚Ich habe etwas Besseres.’ Darauf sagt der andere Mönch: ‚Wir müssen unbedingt zum Bürgermeister des Dorfes gehen, damit der mehr für die sozial Benachteiligten unternimmt.’ Doch der Abt sagt wiederum nur: ‚Ich habe etwas Besseres.’ 

Spät am Abend erreichen die drei die arme Bauersfamilie. Die Familie versucht mit ihren bescheidenen Mitteln, sehr gastfreundlich zu sein. Die Gottesleute sind ihre letzte Hoffnung. Doch der Abt möchte mit seinen zwei Mitbrüdern im Stall bei der Kuh schlafen. 

Noch vor Sonnenaufgang weckt der Abt die beiden Mönche. Dann zückt er ein großes Messer und tötet die abgemagerte Kuh im Stall. Die beiden Mitbrüder sind geschockt.  

Fluchtartig verlassen die drei das Dorf und wandern wieder zurück nach Santiago. Auf dem Weg gehen die beiden Mönche ihren Chef hart an: ‚Wie konntest Du ihnen noch das Letzte nehmen, was sie gehabt hatten?’ Der Abt schweigt. Vor dem Kloster angekommen, ziehen die beiden Mönche ihre Kutte aus, werfen sie dem Abt wütend vor die Füße. In so einem Kloster mit so einem Abt möchten sie nicht mehr Mönch sein. 

Zwanzig Jahre später hat einer der Ex-Mönche immer noch ein schlechtes Gewissen wegen dieser Greueltat. Der Abt ist schon lange tot. Der Ex-Mönch nimmt einen Teil seiner Ersparnisse und macht sich wieder auf den Weg in die Berge. Er will sein Gewissen beruhigen und der armen Familie, oder was von ihr übergeblieben ist, helfen. 

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Die vier Dimensionen der Moral
Im Dorf angekommen, klingelt er bei einem wunderschönen Haus am Dorfeingang. Als er nach dem armen Bauern fragt, bittet der alte Hausherr ihn herein und erzählt ihm folgende Geschichte: ‚Meine Familie war sehr sehr arm. Da haben wir das Kloster um Hilfe gebeten. Der Abt kam uns tatsächlich besuchen. Doch er hat unsere letzte Kuh erstochen und sich dann aus dem Staub gemacht. 

Wir waren total entsetzt. Wir standen vor dem Nichts. Wir mussten uns etwas einfallen lassen, denn sonst wäre es mit uns aus gewesen. Da erinnerte ich mich an meinen Großvater, wie er hier oben etwas Kaffee für den Eigenbedarf angebaut hatte; ein paar Weisheiten zum Kaffeeanbau hatte er mir damals verraten. Und dann haben meine Familie und ich mit dem Kaffee begonnen. Und wir waren erfolgreich. Aus dem Nichts haben wir mit dem Kaffee ein Unternehmen aufgebaut. Heute liefern wir bis nach Havanna. Und meine Kinder haben mittlerweile den Betrieb übernommen. 

Wissen sie, was der Abt getan hat, unsere letzte Kuh zu töten, das war das beste, was uns im Leben passiert ist. Denn sonst würden wir wohl heute noch mit unserer damaligen Mikro-Landwirtschaft herumkrebsen. Aber in der größten Not ist uns die rettende kreative Idee gekommen.“ 

Der Ex-Mönch ist von den Ausführungen des alten Bauern tief getroffen. Sehr nachdenklich geht er den Weg nach Santiago zurück. Er muss immer wieder an die Worte des Abtes denken: „Ich habe etwas Besseres.“ 

Soweit diese Geschichte. Erlauben Sie mir drei kurze Anmerkungen: 

Erstens: Als grundlegende Handlungsanweisung im Umgang mit bedürftigen Menschen ist diese Geschichte zynisch und unmenschlich. Nicht jeder Bettler wohnt in einer „äußerst fruchtbaren Bergregion“. Nicht jeder Bettler hat die Möglichkeit und die Bildung, „Kaffee anzubauen“. Viele Menschen in Notlagen brauchen Hilfe und Unterstützung. Gut, dass wir in Deutschland in einem Sozialstaat leben dürfen. 

Zweitens: Für eine Gesellschaft, wo man überschnell auf Transfers und staatliche Stütze schielt, finde ich diese Geschichte ein geniales Korrektiv. 

Vorwort zum Sonntag
In der Falle der Konformität
Diese Geschichte hinterfragt auf konstruktive Weise, ob es Sinn macht, wenn Menschen im „äußerst fruchtbaren“ Blankenese 10.000 Euro staatliche Stütze für ihren Tesla bekommen. Macht es Sinn, dass Schalke 04 – mit seinen nicht gerade geringen Spielergehältern – eine Bürgschaft des Landes NRW über 31,5 Millionen Euro bekommen hat? Macht es Sinn, dass mit der Energiewende über den Strompreis jährlich Milliardenbeträge von ärmeren Menschen zu reichen Solardachbesitzern transferiert werden? 

Kein Wunder, dass diese Geschichte in Kuba erzählt wird. Dort hat der Sozialismus das Land „vorbildlich“ heruntergewirtschaftet. Jetzt kommen dort staatliche Transfers an ihr Ende, weil der Staat Kuba und die Bürger pleite sind. Dort muss man neue Fundamente finden. 

Diese kubanische Geschichte hinterfragt auch unsere bisherige Entwicklungshilfe. Es ist nicht zielführend, viel Geld und teures Know-How in Länder zu pumpen, die nicht ihre eigenen Ressourcen mobilisieren, die nicht für Rechtssicherheit sorgen, die nicht Regierungs-Clan-Strukturen bekämpfen, die nicht Korruption abbauen, die nicht die Freiheitsrechte ihrer Bürger sichern, die nicht die eigenen Grundlagen für Wohlstand für alle verbessern. 

Drittens: Diese Geschichte hat für mich nicht nur gesellschaftliche Brisanz. Auch in meinem persönlichen Leben ist sie wichtig geworden. Sie hat mir Kraft geschenkt, als die „heilige Kuh“ in meinem Leben wider Willen geschlachtet wurde und ich jetzt für mich eine neue Orientierung finden muss. Die Geschichte aus dem Armenhaus Kuba macht mir Mut, mich von meiner „heiligen Kuh“ aus alten Zeiten zu lösen, um neue Ressourcen zu entfalten und um einen nach vorne gerichteten Lebensweg zu suchen. 

„Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lukas-Evangelium 9,62). 

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