Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Die vier Dimensionen der Moral

Ohne Moral, Regeln, Gesetze und Ordnungen geht es nicht. Und doch hat die Moral tückische Seiten. Folgender vierpoliger Kompass möchte zur Orientierung dienen:

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Erstens: Die STARKE MORAL

Ohne Moral geht es nicht. Ein überzeugendes Beispiel ist der Straßenverkehr. Da hat sich über Jahrzehnte ein ausgeklügeltes und bewährtes Regelwerk herausgebildet; und dieses geht einher mit der Moral der Bevölkerung, sich an diesen Regeln zu halten. Nur in diesem Zusammenspiel von Ordnungen und Moralhütern gelingt das tägliche Wunder, dass Milliarden Autos, Fahrräder und Fußgänger in Bewegung sind, und die Zahl der Unfälle trotzdem überschaubar bleibt. Falls ein einzelgängerischer LKW-Fahrer für sich den Linksverkehr auf öffentlichen Straßen in Deutschland einführen würde, gäbe es sofort ernsthafte Probleme.

Wer sich nicht in diese verbindliche Moral einfügt, der bekommt zurecht Druck von der Gesellschaft. Das spürt zum Beispiel im Augenblick Annalena Baerbock, weil sie die allgemein anerkannte Moral mit Füßen getreten hat, indem sie ihren Lebenslauf im Kanzler-Bewerbungsverfahren an über 10 Stellen verlogen aufgepäppelt hat und damit Vertrauen zerstört hat.

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Es gibt eine bewährte Moral, die von allen Menschen getragen werden sollte und die dadurch menschliches Zusammenleben überhaupt erst ermöglicht. Es ist die Position der Moralisten, die diese Dimension der STARKEN MORAL betonen und groß machen. Der Fehler der Moralapostel besteht allerdings darin, dass sie die „starke Moral“ auf Gebiete ausweiten, wo es eigentlich gar keine allgemeinverbindliche Moral gibt.

Zweitens: Die ABWÄGENDE MORAL

In wichtigen thematischen Feldern gibt es anders als im Straßenverkehr keine starke allgemeinverbindliche Moral. Nehmen wir etwa die Covid-Impfung. Diese ist neuartig und noch nicht genügend erforscht. Jede Proklamierung einer allgemeinverbindlichen Moral wäre unwissenschaftlich und würde den notwendigen Diskussionsprozess nur stören. Die meisten neuartigen ethischen Fragen brauchen Zeit und ausgiebige Abwägungsdiskurse, in denen sich zeigen muss, ob sich überhaupt eine vernünftige einheitliche Moral herausschälen kann.

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Zudem sind politische Moralthemen so hochkomplex und ansichtsabhängig, dass sich da vielleicht niemals eine allgemeinverbindliche Moral herausbilden kann. Nehmen wir nur die Stichworte „Gerechtigkeit“, „Solidarität“, „Frieden“, „Umweltschutz“, „Ausländerfreundlichkeit“, „Seenotrettung“, „Menschenwürde“ – dann leuchtet sofort ein, dass diese Begriffe anders als eine rote Ampel keine eindeutigen Handlungsanweisungen ermöglichen. Diese Begriffe können allenfalls heftige politische und moralische Diskussionen entfachen.

Moral kann in diesen Fällen nicht die „starke Moral“ sein, die allen unmissverständlich zeigt, wo es langgeht. Moral ist dann lediglich eine mit Unsicherheit behaftete und suchende Kraft, die Problemstellungen offenlegt und diffizile Abwägungsprozesse in Gang setzt.

Es ist die Position des Liberalismus, der die suchende Dimension der ABWÄGENDEN MORAL betont und alle Menschen einlädt, sich mit ihren unterschiedlichen Meinungen an diesem Abwägungsprozess zu beteiligen.

Drittens: Die MISSBRAUCHTE MORAL

Da eine allgemeinverbindliche „starke Moral“ viel praktischer politisch instrumentalisiert werden kann als eine liberale „abwägende Moral“, versuchen alle politischen Kräfte, ihre eigenen Ansichten aus dem Bereich der „abwägenden Moral“ herauszureden und in den Bereich der eindeutigen allgemeinverbindlichen „starken Moral“ zu überführen.

Damit ist aber aus der Moralfrage eine Machtfrage geworden. Bei vielen vermeintlich moralischen Fragen geht es also gar nicht um Moral, sondern um Macht und Machtmissbrauch. Darum ist es kaum möglich, über Moral zu sprechen, ohne nicht auch über Machtverhältnisse zu sprechen.

Unter der schön herausgeputzten Fassade der Moral steckt nur zu oft die hässliche Fratze der Macht:

Die Macht, sogenannte „Faktenchecker“ oder „Ethikkomissionen“ mit den eigenen ausgewählten Leuten zu besetzen und damit die entscheidenden Weichenstellungen vorab zu bestimmen.

Die Macht, aus seinen eigenen Hypothesen allgemeinverbindliche Wahrheiten zu proklamieren und sie dann der ganzen Gesellschaft aufzuzwingen: „CO2-Verminderung rettet den Planeten“, „Impfen schützt Leben“, „wer gegen offene Grenzen ist, der ist ausländerfeindlich“, „wer den Euro kritisiert, der zerstört Europa“.
Die Macht, Andersdenkende aus der allgemeinen Kommunikation herauszunehmen, zu ex-kommunizieren und als vermeintlich einzelgängerische LKW-Fahrer abzustempeln, die angeblich den Linksverkehr einführen wollen.

Es ist die fundamental wichtige Aufgabe des Liberalismus in einer Gesellschaft,
„starke Moral“ in Frage zu stellen, ob sie nicht lediglich „machtmissbräuchlich starke Moral“ ist, die unbedingt wieder zurück in die „abwägende Moral“ überführt werden muss. Eine Gesellschaft, in der die „machtmissbräuchlich starke Moral“ wuchert, wird eine geschlossene, autoritäre Gesellschaft.

Viertens: Die ABGRÜNDIGE MORAL

Philosophie, Kunst und auch die christliche Religion haben oftmals ein Gespür dafür bewahrt, dass diese Welt eine tragische Dimension hat und eigentümlich behindert ist. Von dieser Behinderung ist auch die Moral nicht ausgeschlossen. „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Paulus an die Gemeinde in Rom, Römer 7,19).

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Paulus meint damit keine menschliche Willensschwäche, sondern die tiefe Tragik, die auch unserem moralischen Tun anhaften kann. „Indem ich will, dass es meine Kinder mal besser haben als ich, setze ich sie so unter Druck, dass sie unter dem Leistungsdruck zerbrechen und sie es dadurch schlechter haben, was ich ursprünglich genau verhindern wollte.“ Oder auf politischer Ebene: „Die gerechten Mietpreise, die ich mit dem Mietpreisdeckel erreichen wollte, die zerstören auf mittlere Sicht gerade die gerechten Mietpreise; und so tue ich mit meinem ‚Guten’ genau das Böse, das ich eigentlich nicht will.“

Auch der Volksmund ahnt das tragische Moment der Moral, wenn er sagt: „Gut ist das Gegenteil von gut gemeint.“ Oder noch flapsiger auf neudeutsch: „Shit happens“; die Abgründe der Moral.

Das alte christliche apostolische Glaubensbekenntis kommt ohne irgendeinen moralischen Begriff aus – ohne Gerechtigkeit, ohne Liebe, ohne Helfen, ohne eine gute Tat. Damit hält das Apostolikum die Weisheit in Erinnerung, dass es Erlösung in dieser durch und durch behinderten Welt nur jenseits von Moral gibt in der Gottesbeziehung allein aus Gnaden.

Vorwort zum Sonntag
In der Falle der Konformität
Die Aufgabe der christlichen Religion muss es darum immer auch sein, die Moral von Weltrettungs- und moralischen Erlösungsphantasien auf den Teppich der Realität herunterzuholen. Und der Teppich der Realität besteht schlicht und einfach darin, dass die Moral in bescheidenen und offenen Abwägungsdiskursen zur Verbesserung der Welt ein klein wenig beitragen kann. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Wenn aber die Machthaber dieser Welt gar kein Interesse an diesen offenen Abwägungsdiskursen haben, sondern lieber „starke Moral“ auch da wollen, wo gar keine „starke Moral“ möglich ist, und wenn sich dann noch die Kirchen dafür spirituell-moralisch einspannen lassen, dann wird die christliche Religion selber Teil der Tragik und Verlorenheit dieser Welt.

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