Tichys Einblick
Stephans Spitzen:

Über Renegaten und andere Abtrünnige

Viel schlimmer für die Glaubenseiferer als der Ungläubige war stets und ist auch heute der Abweichler in den eigenen Reihen. Leute eben wie Ulrike Guérot.

IMAGO/IPON

Immer gut, wenn man keiner der weltlichen Glaubensgemeinschaften angehört, dann kann man darauf hoffen, einfach ignoriert zu werden. Abweichler, Renegaten, Verräter an der Sache aber ziehen den größten Hass auf sich. Nicht erst unter Stalin galt auf Häresie die Todesstrafe, in manchen archaisch geprägten Ländern droht dem Apostaten noch heute der Strang.

Wie gut, dass das im Wertewesten ganz anders ist. In weltlichen Glaubensgemeinschaften drohen lediglich die Vernichtung des Rufs und der bürgerlichen Existenz. 

"Professionelle Zersetzungskampagne"
Universität Bonn trennt sich von „umstrittener“ Professorin Ulrike Guérot
Ulrike Guérot kann davon singen und sagen. Das einst schüchterne Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen stieg auf zu einer Influencerin auf höchster Ebene. Sie war eine Missionarin des europäischen Gedankens, ein beliebter Talkshow-Gast, eine an allen öffentlichen Stellen anerkannte Intellektuelle, bewegte sich in der Welt der großen Namen. Und sie ist eine Frau, bekanntlich ein karrierefördernder Glücksumstand.

Nicht in ihrem Fall. Sie ist sowohl, was Corona betrifft, als auch in Hinblick auf den Krieg in der Ukraine vom Glauben abgefallen, weshalb sie nun in die Ecke gehört. Die Universität Bonn, bei der sie seit dem Wintersemester 2021 die Professur für Europapolitik wahrnahm, kündigt das Arbeitsverhältnis mit ihr zum 31. März. Der Grund: Sie habe wissenschaftliche Sorgfalt bei einigen ihrer Veröffentlichungen vermissen lassen, habe sich „fremdes geistiges Eigentum“ angeeignet, also plagiiert.

Nun, mit weit schlimmeren Verfehlungen, nämlich beim Verfassen einer Doktorarbeit, kann man in Berlin Bürgermeisterin bleiben. Aber für Guérot gibt es keine Gnade: Da sie an der Uni Bonn nur angestellt und keine Beamtin ist, glaubt man, sich ihrer leicht entledigen zu können. Guérot hat angekündigt, dagegen zu klagen.

Derweil fragt man sich, woher der Furor kommt, mit dem sie aus dem Kreis der Erleuchteten ausgestoßen und nun als „umstritten“ etikettiert wird. Sie hat zur Coronapandemie gesagt, was die Spatzen mittlerweile von allen Dächern pfeifen. Schlimm! Noch schlimmer ist, dass sie in Bezug auf den Ukraine-Krieg das allgemeine Narrativ nicht teilt, wonach man Russland besiegen müsse, weil in der Ukraine „unsere Werte“ verteidigt würden. Und nun hat sie sich auch noch den als „Nationalpazifisten“ entlarvten Friedensfreunden Schwarzer und Wagenknecht angeschlossen. 

Wir lernen: Nationalbellizist sein geht klar – die Überlegung aber, wo die deutschen Interessen in diesem Konflikt liegen, gehört sich nicht. 

Demonstration von Wagenknecht und Schwarzer
Über „Friedensschwurbler“ und andere Gemeinheiten des neuen Alltags
Wer sich im Juni vergangenen Jahres die Sendung von Markus Lanz angeschaut hat, in der Guérot zum Schluss regelrecht niedergebrüllt wurde, konnte bereits ahnen, wie die Sache ausgehen würde. Geradezu prophetisch verkündete Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FPD), dass es problematisch sei, dass Guérot Studenten unterrichten darf – das habe mit „Freiheit der Lehre“ nichts mehr zu tun. 

Eine FDP-Politikerin meint definieren zu können, worin die Freiheit der Lehre besteht. Genau darin, möchte man ihr zurufen, im Versuch, die Welt nicht nur im Schwarzweißmodus wahrzunehmen, darin, die Komplexität der Lage zu analysieren und zu verstehen, alle Faktoren im Spiel zu berücksichtigen und, ja, dem eigenen Gewissen zu folgen, wenn man dem scheinbar allgemeinen Konsens nicht traut. Selbstredend hat der Ukraine-Krieg eine Vorgeschichte, selbstredend sind hier Interessen auch der USA im Spiel und wir täten gut daran, auch die Interessen Europas und Deutschlands in den Blick zu nehmen. 

Es ist die Moralisierung des Diskurses, der gerade in Kriegsdingen verheerend wirkt. Doch das scheint hierzulande längst üblich geworden zu sein, wo Gefühle abgefragt werden, statt dass man sich um eine nüchterne Analyse bemüht. 

Talkshows sind eine Bühne, auf der Konsens hergestellt oder, besser gesagt, erzwungen werden soll. Glaubensgemeinschaften erlauben keine Zweifel. Guérot war „eine von ihnen“ und hat sich nicht an die Regeln gehalten. 

Unterstützung aus dem akademischen Milieu? „Ich würde mir wünschen, dass wir eine Hochschulkultur behalten, die auf der Wertschätzung anderer Meinungen basiert“, hat Ulrike Guérot vor kurzem noch gehofft. Der Uni Bonn und einiger ihrer männlichen Kollegen fehlt diese Kultur womöglich.

Und wo ist die weibliche Solidarität, angesichts der Hexenjagd, die manche von Guérots Bekannten und Kollegen veranstalten?

Ich fürchte, dass auch die Meldestelle für Frauendiskriminierung sich dieses Falls nicht annehmen wird.


Das neue Buch von Cora Stephan, „Über alle Gräben hinweg. Roman einer Freundschaft“ ist am 8. Februar bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.