Tichys Einblick
Weshalb die SPD ihren Untergang nicht verhindern kann

Zukunftspartei ohne Zukunft – das Dilemma der SPD

Nur noch rund 20 Prozent würde die SPD bei Bundestagswahlen bekommen. Ein Desaster. Vor allem dann, wenn man sich vor Augen hält, dass die bis zu 40 Prozent der bei den Polls Befragten, die keiner Partei eine Präferenz geben, schlicht ausgeblendet werden.

@ Adam Berry/Getty Images

Wollen Sie, lieber Leser, eine Vorstellung davon bekommen, wie viele SPD-Anhänger es derzeit tatsächlich noch gibt? Ganz einfach: Gehen Sie irgendwo eine Straße entlang und zählen sie alle Menschen, denen sie begegnen. Bei jedem zehnten dieser Zufallsbegegnungen können sie –statistisch – davon ausgehen, dass es sich um einen SPD-Anhänger gehandelt hat. Mehr nicht. Denn jene gerade noch 20 Prozent, die regelmäßig in den Umfragen ausgewiesen werden, reduzieren sich bei einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent auf genau 12. Mit anderen Worten – erst wenn Sie hundert Menschen gezählt haben können Sie davon ausgehen, darunter 12 SPD-Anhängern begegnet zu sein.

Für die alte Tante Sozialdemokratie ist das eine Katastrophe. Denn wer sich selbst vorgaukelt, eine Volkspartei zu sein, dem muss dieses Beispiel schnell vor Augen führen, wie weit weg er sich längst von seinem Volk entfernt hat. Und so führt die Sozialdemokratie derzeit einen Kampf mit sich selbst und mit ihrem Selbstverständnis – und verdrängt dabei geflissentlich, dass sie sich durch eigenes Verschulden in dieses Desaster geführt hat. Davon, warum das so ist und warum die SPD aus diesem Tal ihrer Tränen nicht herausfinden kann, soll in den folgenden Zeilen die Rede sein.

Gestartet als Klientelpartei

Gestartet war die SPD in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts als klassische Klientelpartei. Das ist so lange her, dass selbst historisch interessierten Menschen häufig jeglicher Zugang dazu fehlt.

Damals – Deutschland war in zahlreiche Königreiche und Fürstentümer zersplittert – begann das deutsche Bürgertum in Fortsetzung seiner Revolution von 1848 damit, die deutschen Stämme (so nannte man das damals) zu einen. Beispielsweise wurden die höchst unterschiedlich strukturierten Militäreinheiten im Deutschen Bund einer frühen Form von militärischer Kooperation zugeführt. Hintergrund war damals die ständig empfundene Bedrohung durch die Franzosen, die gerade erst ein halbes Jahrhundert zuvor aus deutschen Landen vertrieben worden waren. In diesem Militärbund fanden sich seinerzeit Dänen, zu deren Königreich Teile des heutigen Bundeslandes Schleswig-Holstein gehörten, ebenso wie Österreicher – bis der Preuße Bismarck in eben diesen Sechzigerjahren über insgesamt drei Kriege die Dänen und Österreicher aus dem Großdeutschen Bund herausdrängte und das Kleindeutsche Reich aus der Taufe hob.

Ein weiterer Weg zur nationalen Einheit lief über die Post. 1868 schlossen sich die einzelnen Landespostdirektionen Kleindeutschlands – ohne Bayern und Württemberg – zum „Norddeutschen Postbezirk“ zusammen. Das Porto wurde damals noch in zwei unterschiedlichen Währungen gezahlt: Im Norden mit Groschen und im Süden mit Kreuzern. Das sollte sich erst nach der Gründung des preußisch dominierten Deutschen Reichs ändern, als 1875 flächendeckend auf das Mark-Pfennig-System umgestellt wurde.

Diese überaus dynamischen Sechzigerjahre des vorletzten Jahrhunderts schufen mit der frühen Industrialisierung, die Deutschland bis zur ersten Dekade des Zwanzigsten Jahrhunderts zur führenden Weltwirtschaftsmacht machen sollte, jenes Arbeiterproletariat, für dessen Interessenvertretung sich die damals noch Sozialdemokratische Arbeiterpartei genannte SPD berufen fühlte.

Damals hatte die SPD viel zu tun, ging es doch darum, diesem breiten Bodensatz des Volkes eine politische und soziale Beteiligung an der gesellschaftlichen Dynamik zu erkämpfen. So ist es denn auch kein Zufall, dass die SPD, die sich nach der Abschaffung der bis dahin noch geltenden, repressiven „Sozialistengesetze“ ab 1890 nur noch „Sozialdemokratische Partei“ nannte, im Kaiserreich zu einer einflussreichen Größe wurde. Bereits seit den Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 stellte sie im Reichstag regelmäßig die stärkste Partei. Aus einer Wählerzustimmung von 19,8 Prozent in 1890 erstarkten die Sozialisten bis 1912 auf 34,8 Prozent – ohne dabei jedoch an der Regierung beteiligt zu werden. Doch längst hatte beispielsweise der liberal-konservative  Theobald von Bethmann Hollweg, Reichskanzler von 1909 bis 1917, die Bedeutung der Arbeitervertreter erkannt und bemühte sich darum, den Graben zwischen Bürgertum und Proletariat durch die Berücksichtigung sozialdemokratischer Vorstellungen zu überwinden.

Von der Klientel- zur Volkspartei

Nach dem Zusammenbruch des Reichs 1918 wurde die bislang oppositionelle SPD kurzfristig  zur führenden politischen Kraft. Bei den Reichstagswahlen des 19. Januars 1919 erreichte sie mit einer Zustimmung von 37,9 Prozent ihr bislang und bis auf Weiteres bestes Ergebnis, verlor jedoch bis 1933 beständig an die politischen Extremen von Links (KPD als Vorgängerpartei der heutigen PdL) und Rechts (NSDAP).

In den Zwanzigerjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts hätte man die SPD mit Fug und Recht als die deutsche Volkspartei bezeichnen können – und dennoch blieb sie ihrem Selbstverständnis als Vertretung des Proletariats im Kern treu. Gleichwohl gelang es ihr nur von Februar 1919 bis März 1920 den Reichskanzler der Weimarer Republik zu stellen.

Nach dem Verbot unter der nationalsozialistischen Diktatur starteten die Sozialdemokraten bei den Wahlen vom 14. August 1949 mit 29,2 %, um bei den Bundestagswahlen vom 19. November 1972 den bisherigen Rekord einer Zustimmung von 45,8 Prozent zu erhalten.  Die Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts waren die Blütezeit deutscher Sozialdemokratie. Hier war sie tatsächlich Volkspartei, denn die deutliche Zustimmung, die Willy Brandt und Helmut Schmidt bei den Wahlen erfuhren, ging bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein. Wirtschaftswunder und Wandel der Industrieproduktion hatten längst die Bedeutung des Arbeiters durch eine neue Mittelschicht ersetzt – und wäre es der SPD gelungen, sich auch mental von der linken Arbeitervertretung zu einer Partei der linken Mitte zu wandeln, würde sie heute vermutlich deutlich besser dastehen.

Die SPD steht sich selbst im Weg

Doch statt den gesellschaftlichen Wandel, der das Arbeiterproletariat weitgehend aus seiner Bedeutung verdrängt hatte,  als Partei nachzuvollziehen, befand sich die Sozialdemokratie in einem Dauerclinch mit sich selbst. Vor allem der sozialdemokratische Nachwuchs rekrutierte sich regelmäßig aus einer an alten Klassenvorstellungen festhaltenden, häufig studierten Klientel, während die klassischen Arbeitnehmervertreter, denen das gefüllte Portemonaie ihrer Menschen immer näher stand als die ideologische Reinheit in den Köpfen, zunehmend an den Rand gedrängt wurden.

Damit nun ging die SPD den Weg in ihren eigenen Niedergang. Die studierten Theoretiker, die die Partei zunehmend mehr dominierten, hingen weiterhin den Klassenvorstellungen des Neunzehnten Jahrhunderts an, während die Wohlstandsbürger ebenso wie die mittleren Ebenen der lange Zeit ebenfalls der SPD zuneigenden Bürokratie ihre Zukunftsängste zunehmend mehr durch das grüne Parteiangebot besser beruhigt sah.

Daran änderte sich auch nichts dadurch, dass der selbst dem kleinbürgerlichen Proletariat entstammende Gerhard Schröder, der den 16-Jahre-CDU-Kanzler Helmut Kohl 1998 abgelöst hatte, mit seiner Agenda 2010 eine Politik des “new deal“ durchsetzte, mit der er der Republik die Grundlagen zu einem neuen Wirtschaftsaufschwung schuf. Vor allem jene in die vorgeblichen Arbeitnehmerinteressen eingreifenden Maßnahmen dieser Agenda führten die SPD an den Rand der Spaltung. Tatsächlich machten sich damals jene Reste klassisch-proletarischer Wählerklientel, die sich noch traditionell an die SPD gebunden fühlten, auf den Weg zur linken Konkurrenz der Salonkommunisten.

In der panischen Angst, mit der längst verlorenen Klientel die gedachte Stammwählerschaft zu verlieren, machte die SPD nun den vielleicht größten Fehler ihrer Geschichte: Sie versuchte Scheibchen um Scheibchen das, was sie dereinst mit der Agenda an gedachten Härten der Arbeiterschaft zugemutet hatte, rückgängig zu machen. Und verprellte damit nachhaltig jene Bürger aus der längst nicht mehr bei der Arbeiterschaft angesiedelten linke Mitte, die Schröder erfolgreich angesprochen hatte und derer sich die SPD als dauerhafte Wählerschaft hätte versichern können, wenn sie die dort als unvermeidbar beurteilten Maßnahmen der Agenda fortgesetzt hätte.

Nahles und andere schießen die SPD ins Aus

Der Wähler ist wie ein scheues Reh. Dabei erwartet er – ein Denkfehler, dem viele Politiker unterliegen – überhaupt nicht, dass die Politik alles in seinem Sinne regelt und ihm nach dem Munde redet. Er erwartet vielmehr, dass Politik ihre Entscheidungen nachvollziehbar begründet und diese konsequent zu dem angestrebten Ende führt. Statt aber nun die Maßnahmen der Agenda offensiv zu vertreten, mäkelte sich die SPD selbst ins Aus. In der irrigen Annahme, mit vorgeblich arbeitnehmerfreundlichen Maßnahmen verlorene Anhänger zurück gewinnen zu können, reihte sie Fehler an Fehler – und ist außerstande, den eigenen Irrtum zu realisieren. Maßgeblich an dieser Fehlentwicklung Schuld tragen vor allem jene akademisch vorgebildeten Funktionäre, die ihren fehlenden Bezug zu den Ängsten und Nöten der Menschen durch einen gedachten Klassenkampf ersetzen. Vorbildhaft seien hier Andrea Nahles und Heiko Maas genannt, die seit ihrer Schulzeit jeglichen Bezug zur normalen Lebenswelt verloren haben, mit pseudosozialer Politik an den Wählern vorbei agieren – und damit immer mehr Wähler verlieren.

Um dieses zu erläutern, seien einige fundamentale Irrtümer sozialdemokratischer Politik aufgezeigt.

Der Mindestlohn

Eine ihrer wichtigsten Aufgaben sah die SPD in der Durchsetzung eines flächendeckenden Mindestlohns. Hierin meinte sie einen Weg erkannt zu haben, die über die Agenda verlorene Nähe zu den Funktionären der Gewerkschaften wieder herstellen zu können – und es folglich von der breiten Masse der Arbeitnehmerschaft gedankt zu bekommen. Doch die SPD unterlag dabei einem fundamentalen Denkfehler.

So richtig der theoretische Denkansatz ist, dass Gewerke, die nur dadurch am Markt eine Chance haben indem sie die Mitarbeiter ausbeuten, jeglichem marktwirtschaftlichen Denkansatz widersprechen, so falsch war die Annahme, durch den Mindestlohn breite Wählerschichten an sich zu binden. Warum das so ist? Der durchschnittliche Arbeitnehmer verdient als Facharbeiter in der modernen Dienstleistungs- und Industriegesellschaft längst mehr als der Mindestlohn ihm zubilligte. Für den Angestellten oder Beamten im öffentlichen Dienst spielt der Mindestlohn ohnehin keine Rolle.

Die Klientel, die vom Mindestlohn längerfristig profitiert, sind im positiven Falle jene unqualifizierten Kräfte, deren niedriger Lohn ohnehin durch die Arbeitsagenturen auf ein erträgliches Maß aufgestockt werden. Möglich, dass dort einige Betroffene der SPD danken, nun auf dem Lohnzettel etwas mehr stehen zu haben – unter dem Strich allerdings wirkt sich der Zugewinn kaum aus. Denn was an Lohn aufgestockt wird, wird an sozialer Aufstockung abgestockt. Die SPD sprach in ihrem Regierungsprogramm in diesem Zusammenhang selbst von „prekären Arbeitsverhältnissen“ – doch dieses Prekariat hat sich längst im sozialen Netzt der Republik eingerichtet und wählt – wenn überhaupt – PdL.

Der Paritätische Gesamtverband hob jüngst hervor, dass 60.000 Aufstocker durch den Mindestlohn nun ohne staatliche Unterstützung auskämen. Angenommen, diese 60.000 wären darüber glücklich und würden deshalb – was sie vorher nicht getan haben – aus Dankbarkeit die SPD wählen. Dann wären das bei 80 Millionen Wahlberechtigten gerade einmal 0,75 Prozentpunkte mehr bei Wahlen. Davon kommt die SPD nicht nach vorn.

Also: Wer sollte wegen Mindestlohn die SPD wählen, der es nicht ohnehin schon getan hat? Für die eigentlich bedeutsame Wählerklientel der Facharbeiter und Verwaltungsmitarbeiter ist das ein Null-Thema. Es ändert nichts an ihrem Wohlstand – und es ändert nichts an ihrer Angst um diesen kleinen Wohlstand und an ihrem Wunsch, dass es ihren Kindern eines Tages noch besser gehen möge.

Die Rente mit 63

Ähnlich sieht es aus mit der Rente mit 63. Wer aufgrund gesundheitlicher Belastungen nicht mehr arbeiten konnte, der wurde auch bislang schon frühzeitig in Rente geschickt. Allen anderen droht die Zwangspensionierung. Wer also profitiert tatsächlich von dieser sozialdemokratischen Errungenschaft? Lediglich derjenige, der bereits früh in Lohn und Brot gewesen ist und mit 63 noch so fit ist, dass er bei vollem Rentenanspruch seine Freizeit genießen möchte. Aber: Wen trifft das überhaupt? Und welchen Unterschied machen am Ende die zwei Jahre bei der Wahlentscheidung, wenn der 63-Rentner ohnehin noch nie SPD gewählt hat? Für alle anderen aber ist die Rente mit 63 eher eine Bedrohung. Denn sie ist verbunden mit einem weiteren Eingriff in die Sozialkassen – sie geht im Zweifel zu Lasten aller anderen Rentner, deren Erhöhungen nun mit noch mehr Konkurrenten geteilt werden müssen. Und sie geht vor allem zu Lasten der Jüngeren, deren Rentenzahlung durch das umlagefinanzierte Modell angesichts der Überalterung ohnehin immer gefährdeter erscheint.

Wer also sollte der SPD für diese Neuerung dankbar sein? Klüger wäre es gewesen, wenn die SPD sich der Ruhestandsproblematik grundsätzlich angenommen hätte. Die starre Altersgrenze wird nicht nur von denen, die noch bis zu diesem Alter arbeiten müssen, als Belastung empfunden – sie wird zunehmend mehr auch von jenen rüstigen Menschen abgelehnt, die gern weiter ihrer Berufung beruflich folgen möchten, um damit Rentenanspruch und Rentenzahlung weiter aufzustocken. Statt sich die Frage zu stellen, wie zeitgemäß die aus Zeiten der frühen Industriearbeit stammende starre Altersgrenze noch ist und das Rentensystem grundsätzlich auf neue, zukunftsfähige Beine zu stellen, klammert sich die SPD an überholte Traditionen. Für den Wähler bedeutsam allerdings ist am Ende nur das, was Norbert Blüm dereinst in seinem unübertrefflichen Optimismus verkündete: „Die Rente ist sicher!“ Dass sie dieses nicht mehr ist, hat auch Otto Normalmensch längst verstanden – und hofft auf grundlegende Antworten statt auf Vermehrung der Anspruchsberechtigten.

Das Integrationsgesetz

Aktuell feiert die SPD das von ihr geforderte Integrationsgesetz. Unstrittig: An einem solchen Gesetz kommt die Bundesrepublik nicht mehr vorbei. Aber auch hier gilt: Wer, der es nicht ohnehin schon getan hat, sollte deshalb die SPD wählen? Diejenigen, die wegen einer unkontrollierten Einwanderung aus Nordafrika und Zentralasien Angst um „ihre“ Republik haben, werden darin nur einen weiteren Angriff auf ihre eigene Lebenswelt sehen. Jene, die einer ungehinderten Einwanderung – aus welchen Gründen auch immer – das Wort reden, waren ohnehin schon bei den Grünen oder der SPD. Wird deshalb ein Wähler von den Grünen zur SPD gehen? Kaum. Gesamtgesellschaftliche Verantwortung in einem sinnvollen „Integrationsgesetz“, welches auch die exekutierte Ausweisung nicht integrationswilliger Zuwanderer regelt, ist das eine. Daraus neue Wähler zu generieren oder verlorene Wähler zurück zu holen, das andere.

Die Subventionierung von E-Autos

Die von der Koalition beschlossene Subventionierung von E-Autos ist unter dem Strich nichts anderes als ein staatlicher Eingriff in die marktwirtschaftlichen Prinzipien. Es ist nicht Aufgabe des Steuerzahlers, einer Automobilindustrie, die möglicherweise die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, ihr marktwirtschaftliches Versagen zu subventionieren. Wenn es überhaupt ein solches ist – denn der Markt entscheidet, was gekauft wird und was nicht. Wer kein E-Auto haben will, wird es sich auch nicht kaufen, wenn es subventioniert wird. Wenn „der Staat“ hier etwas hätte machen wollen, dann wäre die Erleichterung der Einrichtung von E-Tankstellen der Weg gewesen – nicht die Verbilligung eines Ladenhüters. Zusätzliche Wählerstimmen generiert man damit nicht.

Der bildungspolitische Selbstbetrug

Es war immer ein Hauptanliegen sozialdemokratischer Träume, dem Arbeiterkind dieselben Bildungschancen einzuräumen wie dem mit dem goldenen Löffel im Mund geborenen Klassenfeind. Statt nun aber gezielt Wege zu ebnen, das tatsächlich leistungs- und bildungsfähige Kind aus armem Elternhaus zum akademischen Abschluss zu fördern, rettete sich die SPD in den bildungspolitischen Selbstbetrug. Verliebt in die Statistik wurde Bildungsförderung durch Senkung von Bildungsstandards ersetzt mit der Folge, das Abitur zum modernen Hauptschulabschluss zu machen. Das Arbeiterkind, das es dennoch nicht bis zum Abitur schafft, hat heute nicht einmal mehr die Chance, über einen Mittelschulabschluss eine kaufmännische Karriere zu machen. Alles unter Abitur ist nichts – und so wurde das Abitur von der Hochschulqualifikation zur Massenware ohne wirklichen Wert. Der Traum der Underdogs, durch Leistung die Lebenssituation der Elterngeneration zu überwinden, wurde zum Muster ohne Wert. Eine Schar nur noch mäßig qualifizierter Abiturienten nimmt den immer noch weniger Qualifizierten die adäquaten Arbeitsplätze weg und schickt die in das Prekariat. Wer sollte diese faktische Umkehrung des proletarischen Aufstiegstraums der SPD danken – und warum?

Rumgeeier bei TTIP

Ein besonders krasses Beispiel ist das Rumgeeiere der SPD bei TTIP. Es zeigt exemplarisch das eigentliche Problem der SPD auf.

SPD-Chef Sigmar Gabriel weiß mit dem Kopf, dass ein vernünftiges TTIP-Abkommen den deutschen Wohlstand nicht nur sichern, sondern mehren könnte. Deshalb will er dieses Abkommen. Sein Bauch aber – der auch der Bauch der alten Tante SPD ist – will dieses Abkommen nicht. Egal, was am Ende darin stehen wird. Hier obsiegt der tief in den sozialdemokratischen Genen verankerte Anti-Kapitalismus, der gleichzeitig ein Anti-Marktismus und damit ein Anti-Amerikanismus ist. Dabei hilft auch nicht, dass die Umwelt- und Gesundheitsstandards der USA in nicht wenigen Fällen weiter sind als die unserer Republik. Das Gegrummel im Bauch kämpft mit dem Kopf – und wird am Ende obsiegen.

Das Grundproblem der SPD – nicht regierungsfähig

Das TTIP-Dilemma offenbart das Grunddilemma der SPD. Der Blick in die Geschichte zeigt: Die meiste Zeit war sie Opposition. Im Kaiserreich ohnehin. In der Weimarer Republik war die SPD nur in den Jahren von 1919 bis 1921 an der Regierung beteiligt. Damals erlebte sie genau das, was ihr gegenwärtig zustößt – sie schrumpfte zusammen.

Erst in der Bundesrepublik konnte die SPD sich als Regierungspartei etablieren. Eine damals wirklich noch Große Koalition ebnete 1966 den Weg in die Regierungsverantwortung. Diese endete erstmals 1982, um dann von 1998 bis 2009 und seit 2013 erneut in diese genommen zu werden. Der Niedergang ist wie in der Weimarer Republik die Quittung

Die SPD ist für Utopien zuständig

Die Gründe für diesen Niedergang sind im Grunde recht simpel:  Die SPD ist keine Regierungspartei. Sie startete im 19. Jahrhundert als eine Partei der ganz kleinen Leute, die deren Hoffnungen und Wünsche auf ein besseres Leben bündelte und vertrat. An dieser sozialistischen Grundausrichtung hat sich nie etwas geändert: Die SPD war und ist die Partei der Träumer von einer besseren Welt. Als solche war sie in der Opposition überaus erfolgreich. Sie hat aus der Opposition heraus Träume wahr werden lassen, von denen ihre Gründungsväter niemals zu träumen gewagt hätten. Umfassende Arbeitnehmerrechte, maßgebliche Beteiligung der Lohnabhängigen an Weltunternehmen, die Chance, selbst in solchen Unternehmen – bis hin zu erzkapitalistischen Unternehmungen wie Mercedes-Benz – ganz an die Spitze vordringen zu können. Ob Hartz oder Steinkühler – sie sind der wahr gewordene Traum des kleinen Mannes, selbst bis ganz nach oben zu kommen.

Mit dieser Sozialdemokratisierung der Republik aber kam auch die Verantwortung. Wer Verantwortung für ein Gemeinwesen übernimmt, dessen Träume verblassen jedoch recht schnell. Denn wenn aus der fernen Utopie die Bewältigung der Gegenwart wird, scheitern Visionen schnell am Pragmatismus. Keiner entzauberte hierbei die Möglichkeiten der SPD derart offensichtlich wie Helmut Schmidt mit seiner Aussage, wer Visionen habe, möge zum Arzt gehen. Denn das war nichts anderes als das Eingeständnis des zum Scheitern-verdammt-Sein seiner SPD, wenn sie in die Regierungsverantwortung geht. Schmidt musste dieses bei seinem eigenen Scheitern selbst erleben. Es war nicht die christdemokratische Opposition und es war auch nicht der „Verrat“ der FDP, die Schmidt aus dem Kanzleramt jagte – es war der unlösbare, innere Widerspruch der SPD, der Schmidt scheitern lassen musste. Er, dem zurecht eine verantwortungsvolle Politik für das Gemeinwesen Bundesrepublik zugesprochen wird, musste seinen sozialdemokratischen Träumern von einer besseren Welt den Zahn ziehen. Das misslang, weil es misslingen musste.

Der fundamentale Unterschied zwischen Links und Rechts

Wer wie die SPD davon lebt, die Träume der einfachen Menschen leben zu wollen, der kann dieses glaubwürdig nur aus der Opposition heraus tun. Die große Leistung der SPD sind weder die Ostverträge – die wären auch unter einem Kanzler Rainer Barzel gekommen – und nicht all die kleinen und großen Eingriffe in die Sozialpolitik, mit denen die SPD Stück um Stück die Träume der kleinen Leute Wirklichkeit werden lassen wollte und doch immer nur kleine Teilgruppen ihrer klassischen Klientel erfasste. Das eigentliche Verdienst der SPD ist es, aus einer Rolle der verantwortungsbewussten Opposition heraus die Regierenden ständig dazu gezwungen zu haben, den Wohlstand der kleinen Leute zu mehren um so den sozialen Frieden zu gewährleisten.

Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen den christdemokratisch-sozialen und freidemokratischen Parteien auf der einen und den linken Parteien auf der anderen Seite. Die sogenannten bürgerlichen Parteien haben ihren Machtanspruch, ihren Willen, den Staat zu führen, immer deklariert. Deswegen entwickeln sie kaum Utopien – und werden auch nicht deshalb gewählt. Sie bekommen die Unterstützung des Bürgers, weil dieser genau diesen Führungsanspruch erwartet und mit dieser Erwartung den Anspruch verknüpft, pragmatisch und im Sinne des Gemeinwohls regiert zu werden.

Linke Parteien aber werden gewählt, weil der Wähler damit seine persönlichen Utopien auf eine bessere Zukunft, auf jene immer wieder postulierte „Gerechtigkeit“  – die er sich letztlich ganz persönlich und individuell definiert – verknüpft. Diese Utopien aber kann keine linke Partei, wenn sie tatsächlich in die Regierungsverantwortung kommt, realisieren. Darin und in nichts anderem liegt das Urdilemma der Sozialdemokratie. Sie kann ihre Wählerschaft nur so lange binden, wie sie als Nicht-Regierungspartei Träume artikulieren und befördern kann. Nur dann wird jedes Durchsetzen selbst kleinster Teilträume zu einem Erfolg der SPD – und sie wird weiter gewählt werden weil immer noch genug Träume vorhanden sind, um derentwillen der Bürger die SPD unterstützen kann.

In der Regierungsverantwortung jedoch kehrt sich die Realisierung des kleinen Teiltraumes in das Gegenteil – denn er wird niemals ausreichen können, um die großen Träume der sozialdemokratischen Wähler Wirklichkeit werden zu lassen – weil sie als Utopien eben immer Träume bleiben müssen und immer neue Träume entstehen, an denen man sich festzuklammern sucht.

Deshalb auch sind die Jusos eigentlich jene, die immer wieder neue Träume definieren und damit Erwartungen wecken, die die Alt-Sozis in der Regierung niemals erfüllen können. Die SPD wird damit in den Augen ihrer Wählerschaft zu einem unglaubwürdigen Papiertiger, der nicht hält, was er verspricht. Mit diesem permanenten Widerspruch aus sozialistischen Träumereien und regierungspragmatischer Notwendigkeit entzaubert sich die SPD. Das tat sie in der jungen Weimarer Republik – und sie tut es gegenwärtig, indem es die Träumer verprellt, verprellen muss.

Ein systemisches Problem

Dennoch kann der SPD an dieser zwangsläufigen Entwicklung letztlich nicht einmal die Verantwortung zugewiesen werden. Denn dahinter steht nichts anderes als ein systemisches Problem.

Im Kaiserreich gab es eine klare Gewaltenteilung. Der Kaiser berief die Regierung – sie bestand vorrangig aus erfahrenen Persönlichkeiten mit langjähriger Verwaltungserfahrung und ohne erkennbare Parteizugehörigkeit. Als Exekutive vertrat diese Regierung eine eher konservative, pragmatisch-utopiefreie Politik. In einer solchen Situation konnte die Sozialdemokratie ihre absolute Wirkkraft entfalten – eben weil sie als Opposition diejenigen Utopien entwickelte, mit denen sie die Regierung vor sich hertreiben konnte. Im Kaiserreich war die SPD das, was vor vierzig Jahren die Grünen waren und heute die AfD ist: Der Stachel im Fleisch der Etablierten. Nur war die SPD damals deutlich radikaler – was ihre bis heute wirkende Abneigung gegen das Kaiserreich erklären hilft.

Mit der Abschaffung der Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament ab 1919 aber wurde die Parlamentarische Tätigkeit automatisch auch zu einem Karrieresprungbrett in ein künftiges Regierungsamt. Ganz selbstverständlich wird in unserer Republik die Opposition als Regierungsalternative verstanden. Damit aber gehen nicht nur die oben ausführlich geschilderten Probleme einher – der Parlamentarier verliert auch seine ursprüngliche Funktion. Denn vom Kontrollorgan der Regierung wird er selbst zum Teil derselben selbst dann, wenn keine Vertreter seiner Partei an der gegenwärtigen Regierung beteiligt sind. Doch das Streben des Politikers richtet sich eben immer darauf aus, vielleicht selbst eines Tages in der Regierung zu sitzen. Das ist bei der SPD so – und mittlerweile nicht minder bei Grünen und der PdL. Wer aber seine parlamentarische Tätigkeit – und sei es nur unbewusst – mit dem Ziel der eigenen Regierungstätigkeit verknüpft, der verliert seine Kritikbereitschaft gegenüber der Regierung spätestens dann, wenn diese von der eigenen Partei gestellt wird. Wir können dieses Phänomen landauf-landab beobachten – und es ist die eigentliche Ursache dafür, dass scheinbar unerwartet und letztlich doch absehbar Bewegungen wie die AfD entstehen, die in Radikalopposition nun die Wünsche und Hoffnungen der kleinen Leute sammeln, welche sich durch ihre früheren Traumwerkstätten verraten fühlen.

Zurück zur strikten Gewaltenteilung?

So bleibt am Ende dieser Feststellung eigentlich nur die Erkenntnis: Die beste Überlebenssicherung der SPD wäre es gewesen, das politische System des von ihr so verschmähten Kaiserreichs auf ewig zu behalten. Denn dann hätte sie auf ewig die Träume der kleinen Leute als eigene vorantreiben können.

Eine immer noch vielleicht vorstellbare Überlebensmöglichkeit wäre es, den fast schon automatischen Übergang vom Parlamentarier zum Regierungsmitglied zu verunmöglichen: Eine Exekutive der Technokraten, die sich in ständiger, konstruktiver Konfrontation mit der Legislative befindet.

Die Realität aber spricht dagegen. Denn die SPD ist seit spätestens Mitte der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts ebenso wie die unutopistischen Parteien der damals rechten Mitte zum selbstverständlichen Karrieresprungbrett in höchste Staatsämter geworden. Weil sie aber den damit verbundenen Spagat zwischen Traum und Wirklichkeit niemals wird bestehen können, befindet sie sich derzeit in einem heftigen Abwärtsstrudel. Ihre einzige Chance wäre der schnellstmögliche  Regierungsaussteig und der dauerhafte Selbstverzicht auf Regierungsbeteiligung. Das aber werden all jene, die heute in der Partei bestimmen und die nur deshalb dort eingetreten sind, weil sie darüber eben diese Karriere machen wollten, nicht zulassen. Und deshalb macht sich die SPD rasant überflüssig und wird in absehbarer Zeit durch Parteien ersetzt werden, die die kleinen und großen Träume der Underdogs wieder glaubwürdig vertreten können, weil sie auf jeden Regierungsanspruch verzichten und sich ausschließlich als Opposition zu den Herrschenden verstehen.

Das ist eine für die besonders materialistischen Vertreter der sozialdemokratischen Karriere-Generation wie Andrea Nahles und Heiko  Maas bittere Erkenntnis. Aber diese haben ihre Schäflein längst ins Trockene gebracht und werden bis zum nicht wenig bitteren Untergang ihrer Partei an der pathologischen Schizophrenie ihrer Welt aus Regierungswirklichkeit und unerfüllbarer Utopie festhalten. C’est la vie – der Untergang ist unvermeidbar.