Tichys Einblick
„König“, „Kaiser“, Kaiserin“ und Moskva

Wenn Moskau im Sturm untergeht – das Problem mit den Namen

Im Japanisch-Russischen Krieg 1904 bis 1905 verlor der Zar letztlich seine gesamte hochseetaugliche Flotte. Allein an Schlachtschiffen versenkten die Japaner in Port Arthur die „Retwisan“, die „Zessarewitsch“, die „Petropawlowsk“ und die „Sewastopol“.

IMAGO / SNA

Die russische Marineführung hat es eingestanden: Der 1983 in Dienst gestellte Raketenkreuzer „Moskwa“ ist im Schwarzen Meer gesunken. Die ukrainischen Verteidigungskräfte machen dafür zwei Treffer ihrer modernen Neptun-Raketen verantwortlich. Die russische Seite spricht von einem nicht näher verifizierten Feuer an Bord, welches die Munition entzündet habe, woraufhin das Schiff manövrierunfähig gewesen sei. Beim Versuch, den havarierten Kreuzer nach Sewastopol zu schleppen, sei das Schiff in einen schweren Sturm geraten und gesunken.

Die Symbolik in der Marinegeschichte

So weit, so die Erzählungen aus den jeweiligen Hauptquartieren. Nun sind zwar Korruption und Schlendrian in der russischen Armee Legende, doch die Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise beim Flambieren in der Kombüse ein Küchenbrand ausbricht, der dann ungehindert die Munitionskammer ergreift, ist wenig plausibel. Am Ende allerdings spielt es auch keine Rolle – mit der Moskva ist so oder so mehr als nur ein Schiff untergegangen.

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Es ist die ewige Krux mit diesen Namensbenennungen. Als der britische Admiral Nelson bei der Schlacht bei Trafalgar gegen Napoleons Frankreich zwar fiel, aber seine Flotte dennoch siegreich ins heimatliche England zurückkehrte, hieß das Schlachtschiff „Victory“. Dieser „Sieg“ als Triumph des Empires zur See liegt heute noch im Hafen von Portsmouth – als Symbol der ewigen Überlegenheit der Briten über die „Froschfresser“ jenseits des Kanals auch dann noch, nachdem das imperiale „Britannia rule the waves“ längst in den Wogen der Ozeane entschwunden ist.

Als die Deutschen im Krieg von 1914 bis 1918 gegen Englands Seemacht auf den Atlantik zogen, befanden sich in der Marine Seiner Majestät neben der schon etwas älteren „Deutschland“ die modernsten Schlachtkreuzer mit Namen wie „König“, „Kaiser“ und „Kaiserin“. Man stelle sich nur einmal vor, der Briten Schlachtflotte hätte nacheinander erst den König (von Preußen), dann den Kaiser (von Deutschland) und dessen Gattin, die laut Verfassung nicht vorgesehene Kaiserin, und zum Abschluss dann auch noch Deutschland versenkt. Die Symbolik dieser Verluste hätte alle damit verbundenen materiellen Verluste um ein Vielfaches übertroffen.

Dennoch nicht ohne Symbolik versenkten sich „König“, „Kaiser“ und „Kaiserin“ am 21. Juni 1919 vorm schottischen Scapa Flow selbst, um der Auslieferung als Reparation an die Briten zu entgehen. „Deutschland“ war schon, um deren Untergang nicht vermelden zu müssen, seit 1917 faktisch außer Betrieb gesetzt und wurde 1922 abgewrackt. Auch das nicht ohne Symbolik im am Boden liegenden Nachkriegsdeutschland.

Als es dem Reich wieder ein wenig besser ging, legte die Marine ihre Panzerschiffe auf Kiel und nannte sie symbolträchtig „Deutschland“-Klasse. Drei dieser bei den Briten als „Pocket Battleships“ (Westentaschenschlachtschiffe) gelisteten Schweren Kreuzer wurden bis 1936 in Dienst gestellt. Das 1933 fertiggestellte Typschiff hieß nun wieder „Deutschland“ – und damit Goebbels Kriegspropaganda nicht eines Tages melden müsste „Deutschland ist untergegangen“, ließ Hitler das Kampfschiff im Herbst 1939 in „Lützow“ umbenennen. Die eigentliche „Lützow“, ein im Bau befindlicher Schwerer Kreuzer der deutlich moderneren Hipper-Klasse, hatte Hitler an seinen damals-noch-Kumpel Stalin verkauft.

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In Russland – und auch hier ist angesichts der historischen Entwicklung seitdem eine gewisse schicksalhafte Symbolik zu erkennen – erhielt die Ex-Lützow erst den Namen „Petropawlowsk“ nach der Hauptstadt der fernen Ostprovinz Kamtschatka. Aus dem deutschen Westen kommend, signalisierte das Schiff nun das russische Expansionsstreben im Osten des Riesenreichs. 1943 lag sie, halb havariert, im Hafen von Leningrad und trotzte, nun „Tallinn“ benannt, der deutschen Belagerung. Selbstverständlich auch diese Umbenennung symbolisch: Sie unterstrich Russlands Anspruch auf die Hauptstadt des damals vom Reich besetzten, völkerrechtlich dennoch unabhängigen Estlands.

1953 wurde aus der „Tallinn“ die „Dnjepr“, die dann sang- und klanglos verschwand und vermutlich irgendwann um den Dekadenwechsel 1960 abgewrackt wurde. Dnjepr heißt der Strom, der durch die ukrainische Hauptstadt Kiew fließt – und so dokumentiert der Namenswechsel 1953 den großrussischen Machtanspruch nach den Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukrainer im „Großen Vaterländischen Krieg“ ebenso, wie das Verschwinden des Dnjepr in den Nebeln der russischen Agonie durchaus als Menetekel für die kommenden Jahrzehnte gedeutet werden könnte.

Moskau darf nicht untergehen

Nun traf es also die Moskva – oder, um es auf Deutsch zu sagen: Moskau. Denn nichts anderes heißt „Moskva“ – und es muss der russischen Marine überaus schwer gefallen sein, Moskaus Untergang zu verkünden, so wie wir auch die beharrliche Weigerung, einen ukrainischen Raketentreffer anzuerkennen, unschwer als Folge der überaus unangenehmen Symbolkraft verstehen können. Wie hätte es in den Ohren der siegesverwöhnten Russen geklungen, wenn die Regierung hätte verkünden müssen: „Moskau wurde von den ukrainischen Faschisten vernichtend getroffen!“

Da fabuliert es sich schon besser von irgendwelchen zufällig entstandenen Feuern, die ebenso zufällig dann die Munitionskammer zur Explosion gebracht haben, worauf ein schwerer Sturm Moskau den Rest gegeben hat. Immer noch nicht schön, den Untergang der Hauptstadt in den Wogen des Schwarzen Meeres vermelden zu müssen – aber besser eine Naturgewalt in Folge allgegenwärtigen, russischen Schlendrians als ein Vernichtungstreffer durch den zu unterwerfenden Feind.

Auch Sewastopol hat Geschichte

Wer nun allerdings meint, damit könnte der Symbolik der russischen Schwarzmeerflotte Genüge getan sein, mag sich schnell eines Besseren belehren lassen müssen. Denn die tödlich getroffene „Moskau“ befand sich in Begleitung der Fregatte „Admiral Essen“. Dieses erst 2016 in Dienst gestellte, 125 Meter lange Kampfschiff der Schwarzmeerflotte mit Marschflugkörperbewaffnung lag lange vor der syrischen Küste und wurde erst kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine zurückbeordert. Benannt ist es nach dem deutsch-baltischen Nikolai Ottowitsch von Essen. Als Reformer der zaristischen Marine und Oberbefehlshaber der baltischen Flotte zu Beginn des Völkerkriegs von 1914 verfolgt ihn der Ruhm als Fähigster der Admirale des russischen Zaren.

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Ganz unbefleckt ist allerdings auch Essens Vita nicht. Als 1904/05 die Japaner im fernen Osten des Zarenreichs dessen Expansion ein imperiales Ende setzen wollten, befand sich der Admiral in dem belagerten, russischen Marinestützpunkt Port Arthur am Chinesischen Meer. Nachdem die Japaner die dort vor Anker liegende Hochseeflotte mit fast allen Schlachtschiffen vernichtet hatte, versuchte Essen mit der einzig noch halbwegs manövrierfähigen „Sewastopol“ einen Ausbruch. Es misslang, der Admiral musste mit den recht beschädigten Resten seines Schlachtschiffs zurück in den Hafen, wo er Sewastopol am 2. Januar 1905 selbst versenkte, damit es nicht den Feinden in die Hände falle.

Essen selbst ergab sich den Japanern und kehrte nach Kriegsende nach Sankt Petersburg zurück. Sewastopol – das ist ausgerechnet jener Hafen auf der annektierten Krim, zu dem die Fregatte „Admiral Essen“ nun die havarierte „Moskau“ bringen sollte, um sie vor dem Untergang zu retten. Und so sagt uns die Symbolik hier: Misslang es Essen 1905, Sewastopol zu retten, so konnte Essen 2021 erst den Untergang Moskaus nicht verhindern – und wie es nun mit Sewastopol weitergehen wird, muss die Geschichte zeigen.

Ein historischer Rückblick

Nur der Vollständigkeit halber: Manch einer spricht davon, der Untergang der Moskau sei der herbste Verlust, den die russische Marine jemals hat hinnehmen müssen. Wer dieses sagt, sollte ein wenig seinen Horizont erweitern. Im Japanisch-russischen Krieg 1904 bis 1905 verlor der Zar letztlich seine gesamte hochseetaugliche Flotte. Allein an Schlachtschiffen versenkten die Japaner in Port Arthur die „Retwisan“, die „Zessarewitsch“, die „Petropawlowsk“ und die „Sewastopol“. Von der zum Entsatz über Atlantik, Indischen Ozean und Pazifik nach Port Arthur entsandten Baltischen Flotte des Zaren blieb nach der Seeschlacht bei Tsushima so gut wie nichts übrig. Die sieben Schlachtschiffe sowie 14 kleinere Einheiten wurden von den Japanern versenkt, sieben weitere Schiffe geentert und sechs entwaffnet. Russland sollte sich von diesem Vernichtungsschlag lange Zeit nicht mehr erholen.

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Die Ursache damals: russischer Schlendrian, Unwilligkeit unter den Soldaten – und vor allem die Hybris der Russen, die die Japaner für irgendwelche halbwilden Mongolenstämme hielten, die sie, wie in den vorangegangenen Jahrhunderten die Bewohner der Weiten Sibiriens, im Handstreich hinwegfegen und unterwerfen würden. So bekommt die Symbolik von Namen selbst hier noch eine höchst aktuelle Dimension. Denn der nun zu vermeldende Untergang Moskaus in Begleitung eines Essen, der Sewastopol nicht retten konnte, hat 2021 ähnliche Ursachen wie 1905. Geschichte wiederholt sich zwar nicht – aber manche Abläufe zeigen erstaunliche Parallelen.

Damals ging die Geschichte so weiter: Nachdem die Marine des Zaren vernichtet war und Russland nicht nur auf die weitere Expansion verzichten, sondern sogar nach verlorenen Schlachten auch auf dem Festland annektierte Territorien abtreten musste, ging es mit Russlands wirtschaftlicher Lage dank Korruption und politischer Unfähigkeit noch rasanter bergab. Es kam zu zahlreichen Aufständen, in deren Konsequenz der Zar im Februar 1917 durch eine bürgerliche Regierung ersetzt wurde. Die allerdings hielt sich gerade gut ein halbes Jahr, bis im Spätherbst des Jahres kommunistische Berufsrevolutionäre die Macht usurpierten und das Russische Imperium in ein räterepublikanisches umwandelten. Der nachfolgende, langjährige Bürgerkrieg zeugte verbrecherische Politiker wie Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt „Lenin“, Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, genannt „Stalin“ – und in seiner Spätfolge jenen Wladimir Wladimirowitsch Putin, der unter Bruch geltender Verträge ein Nachbarland überfällt und dessen Bevölkerung eine eigene Volksidentität grundsätzlich abspricht.

Wie gesagt: Geschichte wiederholt sich nicht. Aber manche Parallelen sind durchaus auch dann symbolisch, wenn sich der weitere Weg in die Zukunft noch nicht abzeichnet.

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