Tichys Einblick
Stalin, Chaos und Zerfall

Was die USA für Russland nach Putin erwarten

Noch sitzt Wladimir Putin scheinbar fest im Sattel. Doch mit der Mobilmachung hat er seinen Überfall auf die Ukraine in die Wohnzimmer der Russen katapultiert. Es beginnt zu rumoren. Zeit für US-Denkfabriken, über die Zeit nach Putin nachzudenken – wann und wie immer die auch beginnen wird.

Ein Demonstrant gegen die russische Regierung wird in Moskau festgenommen, 21.09.2022

IMAGO / SNA

Mit seinem Mobilmachungsbefehl hat Wladimir Putin den Krieg in die Wohnzimmer seiner Russen getragen. Von der Einberufung bedrohte Männer verlassen, so sie können, das Land – und Sohn Nikolaij des Kremlsprechers Dmitrij Peskow erklärt bei einem Fake-Anruf des Nawalny-Teams, lieber auf seine Kontakte vertrauen zu wollen als auf die Order des Rekrutierungsbüros. Motto: Papa wird’s schon richten.

Peskow Juniors Kampfesunlust

Eine kurze Zusammenfassung des Telefonats zeigt Nikolaijs Dilemma. Anrufer: „Wir haben Ihnen, Herr Peskow, heute auf elektronischem Wege eine Einberufung geschickt, aber Sie haben noch nicht reagiert. Oben steht eine Nummer, die Sie anrufen müssen, und morgen um 10 Uhr müssen Sie sich in einem Einberufungszentrum melden.“ Peskow: „Natürlich werde ich um zehn Uhr nicht da sein. Wenn Sie wissen, dass ich Herr Peskow bin, dann müssen Sie auch verstehen, wie sehr das falsch ist, dass ich dort sein werde. Ich werde es auf einer anderen Ebene lösen. … Ich muss ganz allgemein verstehen, was vor sich geht und welche Rechte ich habe. Dass Sie mich morgen einziehen – glauben Sie mir, das brauchen weder Sie noch ich.“

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Immerhin so viel Putniotismus ist in dem 32-jährigen Mann, dass er erklärt: „Ich werde tun, was mir gesagt wird. Wenn Wladimir Wladimirowitsch sagt, ich muss dorthin gehen, werde ich gehen.“ Das live auf YouTube übertragene Telefonat machte schnell die Runde, veranlasste seitens der Regierung die Richtigstellung, dass Einberufungsbefehle „ausschließlich schriftlich per Post“ an die Betroffenen gingen. Peskow Senior, dem das Verhalten seines Sohnes nicht gefallen konnte, versucht sich in den üblichen Herausredereien: Es sei nur ein belastender Teil des Fake-Gesprächs veröffentlicht worden. Was nicht der Fall ist, denn das ungeschnittene Gespräch ist über YouTube abzurufen. Doch mit Fakten hatte es Peskow noch nie so richtig.
Die Nach-Putin-Szenarien

Während in Russland der Wurzelwiderstand wächst, machen sich im fernen Washington die Denkfabriken Gedanken darüber, wie möglicherweise ein Nach-Putin-Russland aussehen könnte. Dazu als erster Hinweis: Keines der denkbaren Szenarien sieht vor, Russland anzugreifen oder es gar zu besetzen. Wie bereits nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat keine westliche Macht ein Interesse daran, sich unmittelbar in die russischen Angelegenheiten einzumischen. Vielmehr sollen die Szenarien dafür dienen, auf mögliche Entwicklungen vorbereitet zu sein – und vor allem die davon ausgehenden Gefahren abschätzen zu können. Dabei gibt es eine erschreckende Einigkeit: Alle Überlegungen gehen davon aus, dass es nach Putin nur noch schlimmer als heute werden wird.

Szenario 1 – Der Neostalinismus
Das erste Szenario geht davon aus, dass die von Putin bereits installierten, stalinistischen Herrschaftsinstrumente noch weiter intensiviert werden. Es würde ein neuer Stalin an die Spitze des Staates rücken, doch gibt es aktuell keinerlei Vorstellungen, um wen es sich dabei tatsächlich handeln könnte. Eine Art „Kronprinz“ kann in den USA nicht erkannt werden. Einig allerdings sind sich die Vordenker, dass „der Neue“ noch skrupelloser und brutaler vorgehen werde als Putin.

Szenario 2 – Der Bürgerkrieg
Mit dem Ausscheiden Putins kommt es zu revolutionären Unruhen, in denen Teile des Volkes gegen die bestehenden Machtstrukturen aufstehen. Da mit Putin der eigentliche Anker der Diktatur ausfällt, stellen sich Teile der Sicherheitskräfte auf die Seite der Revolutionäre, während die Nomenklatura ihre Privilegien mit aller Gewalt zu verteidigen sucht. Das Land rutscht ab in einen Bürgerkrieg mit verheerenden Folgen, ähnlich jener Situation zwischen 1918 und 1922.

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In der außenpolitischen Betrachtung hierbei besonders problematisch: Die Rohstoffexporte, vor allem Öl und Gas, würden zusammenbrechen, was insbesondere für jene Länder wie die Volksrepublik China und Indien dramatische Folgen haben könnte, die sich aktuell angesichts des Ausstiegs der Westeuropäer aus dem Import in neue Abhängigkeiten bringen. Daraus könnten sich, so die Vordenker, Interventionsnotwendigkeiten der vom Energieimport abhängigen Staaten ergeben mit der Folge, dass der Bürgerkrieg internationalisiert wird.

Ein weiteres Problem: Im Falle eines Bürgerkriegs wäre die Kontrolle über das Atomwaffenarsenal Russlands nicht mehr zu gewährleisten. Es könnte schlimmstenfalls zum Einsatz gegeneinander oder auch zu Kurzschlussreaktionen gegen Außenstehende kommen. Wie sich die nicht unmittelbar beteiligten Länder dagegen schützen könnten, ist derzeit offen – eine solche Gefahr müsse jedoch bedacht werden.

Szenario 3 – Der Zerfall der Russischen Föderation
Nach dem Ausscheiden Putins und den Unruhen der Unzufriedenen brechen die bereits bestehenden Risslinien innerhalb der Föderation auf. Die transuralischen Regionen und die Provinzen im Kaukasus sind die ersten, die sich von der zusammenbrechenden Föderation lösen wollen. In Moskau kommt es zu Gegenreaktionen, die die Separatisten mit Gewalt in die Vision eines Großrussland zwingen wollen, doch der nun entstehende Flächenbrand ist mit militärischen Mitteln nicht mehr zu befrieden.

Auf dem Gebiet der heutigen Russischen Föderation entstehen zahlreiche „Westentaschenstaaten“ mit überwiegend nicht demokratisch legitimierten Gewaltherrschern und Warlords. Neu entstehende Grenzkonflikte ebenso wie jene, die bereits mit der Unabhängigkeit nach 1990 geschaffen wurden, führen zu einer Art Dauerkrieg auf russischem Boden. In einigen Regionen wie der Ukraine und Belarus kann die Anbindung an den westeuropäischen Kulturkreis das Schlimmste verhindern – es entsteht ein neuer „Eiserner Vorhang“ gegen das mit sich selbst beschäftigte, im Zerfall befindliche Russland.

In Sibirien sowie dem Kaukasus werden Länder wie China und die Türkei als neue Ordnungsmächte den Versuch unternehmen, nicht nur die vom Zerfall ausgehenden Bedrohungen abzuwenden, sondern eigene Interessen durchzusetzen. Das führt dazu, dass diese Länder selbst Partei im Bürger- und Zerfallskrieg werden – ähnlich wie im Russischen Bürgerkrieg von 1917 bis 1922, als die Entente-Mächte den Versuch unternahmen, zugunsten der „Weißen“ in den Krieg einzugreifen.

Der Konflikt zieht sich bis weit in die Dreißigerjahre des gegenwärtigen Jahrhunderts und läuft auf eine Neuordnung des Nordens Asiens hinaus. Russland wird zurückgeführt auf sein europäisches Kernland ohne Kaukasus, Königsberg und weitere Regionen, die sich im Zuge des inneren Konflikts abgesetzt haben. Wenn die asiatische Neuordnung abgeschlossen ist, wird sich das ausgeblutete Kernrussland als postkolonialer Staat neu erfinden müssen.

Keine demokratische Entwicklung erkennbar

Bemerkenswert ist, dass kein Szenario einen friedlichen Übergang zu einem demokratischen Modell vorsieht – offenbar steckt den Amerikanern die Entwicklung nach den entsprechenden Ansätzen Jelzins durch Putin zu sehr in den Knochen, als dass sie sich für Russland eine Demokratisierung von Innen heraus vorstellen können. In den amerikanischen Denkstuben bestimmt offenbar das Klischee vom autoritätshörigen, halbbarbarischen Russen das Bild. Nach den Erfahrungen in anderen Ländern haben sich die USA zudem von der Vorstellung gelöst, ihr Demokratiemodell als Master eines Gesellschaftsumbaus weltweit exportieren zu können.

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Russland soll insofern sich selbst überlassen bleiben – soweit es sich um das Russland in den Grenzen von 2013 handelt. Die zwangsannektierten Gebiete ebenso wie die von Putin installierten „frozen conflicts“ allerdings werden im Zuge des russischen Kollaps’ ohnehin an ihre ursprünglichen Eigentümer zurückgehen, weil Moskau keine Kraft mehr haben wird, diese selbst produzierten Brandherde weiter zu befeuern.

Soweit die gegenwärtigen Überlegungen aus den Denkstuben der US-Ostküste. Ansonsten gilt: Es gibt in der Politik keine Gesetzmäßigkeiten – und Prognosen sind nach wie vor insbesondere dann schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.