Tichys Einblick
Lage in der Ukraine

Ukraine startet die Südoffensive – Militärführung meldet russischen Rückzug

Seit Wochen bereits attackiert die Ukraine russische Nachschubwege und Munitionslager in der besetzten Südukraine. Montagmittag dann die Meldung: Die lange angekündigte Südoffensive hat offenbar begonnen.

Zerstörter russischer Panzer im Raum Mykolajiw, 19.08.2022

IMAGO / ZUMA Wire

Diese Meldungen gehören seit einigen Wochen zum täglichen Geschäft: In X ist ein Munitionslager in Flammen aufgegangen, in Y wurde die Bahnstrecke beschädigt, in Z wurde eine Brücke gesprengt. Die Reihe der Attacken auf die russische Logistik in der besetzten Südukraine ist lang. Die Zerstörung mehrerer Kampfjets auf der Krim, ebendort Explosionen entlang der wichtigen Bahnverbindung von Kertsch und im besetzten Süden entlang der Strecke zum Donbass. Die Brücken über den Dnjepr weitgehend unbrauchbar – kurzum: Die Versorgung der weit nach Westen vorgerückten russischen Truppen wird zunehmend schwieriger.

Bereits vor geraumer Zeit hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Offensive zur Befreiung der Krim angekündigt. Doch je länger diese auf sich warten ließ, desto mehr setzte sich der Eindruck durch, dass dadurch nur eine Entlastung im Osten erreicht werden sollte.

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Gut möglich allerdings, dass die Zeit des Wartens und Spekulierens nun ein Ende hat. Am 29. August gegen 13.00 Uhr teilte Natalja Humenjuk, Sprecher der Südgruppe der Ukrainischen Armee, mit: „Die Streitkräfte haben in vielen Abschnitten im Süden der Ukraine Offensivhandlungen gestartet.“

Zeitgleich gab es im russisch besetzten Nova Kakhovka in der Region Cherson Luftalarm. Die Menschen sollten ihre Arbeitsplätze verlassen und in Schutzräumen Zuflucht suchen. Der Ort liegt direkt am Staudamm, der den 240 Kilometer langen Kachowkaer See bildet und an dessen Südufer die Kernkraftanlage Saporischschja liegt.

Dazu passt die Mitteilung zweier hochrangiger US-Beamter, wonach der Kampf im Süden nun in eine Phase eingetreten sei, in der die Ukraine damit beginne, das Schlachtfeld für die entsprechende Gegenoffensive vorzubereiten. Die USA gehen davon aus, dass die Offensive Luft- und Bodenoperationen umfassen wird. 

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Irgendwo entlang der Frontlinie sollen bereits Separatistentruppen und russische Marineinfanteristen zum Rückzug gezwungen worden sein. Doch auch die Russen bleiben nicht tatenlos. Mykolajiw, fast schon Schwesterstadt des russisch besetzten Cherson, meldet Dauerbeschuss durch russische Raketen. Auch hier verbringen die Menschen den Nachmittag in den Bunkern: „Das Zentrum der Stadt wird schwer beschossen. Es werden immer noch Raketen abgefeuert. Verlassen Sie die Schutzräume nicht“, empfiehlt der örtliche Gouverneur, Witalij Kim, über „Telegramm“ am Nachmittag.
Putins Armee zu Kriegsspielen im Osten

Sollte es sich bei den Aktionen tatsächlich um die angekündigte Offensive handeln, dann ist der Zeitpunkt gut und auch nicht gut gewählt.

Gut deshalb, weil Russland gerade im Osten der Russischen Föderation ein Großmanöver mit über 50.000 Soldaten abhält. Diese Einheiten dann, wenn es in der Südukraine eng werden sollte, im Eiltempo nach Westen zu verlegen, macht sich für Putin nicht gut, hat er doch zahlreiche Gäste und Partner aus Zentral- und Südasien zu seiner Kriegsshow geladen. Ein überstürzter Abzug müsste den Freunden aus der Volksrepublik China, Indien und den Ex-Sowjetrepubliken als Eingeständnis gelten, dass in der Ukraine etwas aus dem Ruder läuft. Dabei wollte Putin doch mit diesem Manöver signalisieren: Russland hat keine militärischen Probleme – die Spezialoperation läuft derart gut, dass ein Großteil unserer Streitkräfte problemlos am anderen Ende der Welt ins Manöver ziehen kann.

Das Kernkraftwerk in der Krise

Weniger gut gewählt allerdings ist der Zeitpunkt mit Blick auf die Stromfabrik am Stausee. Die sechs derzeit von den Russen besetzten Druckwasserreaktoren mussten bereits vergangene Woche heruntergefahren werden, weil es infolge eines Kabel- oder Transformatorschaden unmöglich wurde, das Netz zu bedienen. Unmittelbare Folge: Ein viele Stunden dauernder, totaler Blackout in der gesamten besetzten Südukraine.

Zwar sind die Schäden mittlerweile weitgehend repariert, doch die Kernkraftanlage russischer Bauart gilt nach wie vor als hochgefährdet. Regelmäßig gehen dort und in der Umgehung Raketen und Granaten nieder. Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig – so sollen die Russen schweres Gerät zum Beschuss der auf der anderen Seite des Stausees gelegenen, namensgebenden Stadt bewusst bei den Meilern stationiert haben, um sie angesichts der Gefahr einer Atomkatastrophe vor Angriffen der Ukraine zu schützen. Andererseits könnte vor allem der Blackout durchaus im Interesse der Ukraine gewesen sein, um damit die durch Kollaborateure besetzte Verwaltung in den Südprovinzen ebenso zu schädigen wie die russischen Einheiten, die ebenfalls auf Strom angewiesen sind. Im Raum steht jedoch auch die Ankündigung der Okkupanten, die Ukraine vom Kraftwerk zu trennen, um den Strom vollständig nach Süden und auf die Krim zu leiten.

In dieser Gemengelage sollte nun in dieser Woche eine Delegation der Internationalen Atombehörde IAEA das Kraftwerk inspizieren. Die Anreise muss über das russisch besetzte Gebiet erfolgen – eine ukrainische Großoffensive könnte nun eine Situation erzeugen, in der diese Inspektion ausgesetzt werden muss.

Plant die Ukraine einen großen Kessel?

Unabhängig davon deutet der Alarm in Nova Kakhovka auf eine durchdachte Operation der Ukraine hin. Die Regierung in Kiew könnte so nicht nur die Kontrolle über den Staudamm zurückgewinnen – der Ort ist auch der ideale Ausgangspunkt, wollte die Ukraine einen riesigen Kessel bilden, um so die Stadt Kherson zu befreien, ohne sie zerstören zu müssen. Die Ukrainische Armee müsste hierfür einen Korridor in den besetzten Süden schneiden, der bis an die Landenge zur Krim reicht.

Könnte sie diesen Korridor halten, steckt ein nicht unwesentlicher Teil der russischen Invasoren in der Falle. Den derzeit noch westlich des Dnjepr stationiert Russen fiele zudem durch die zerstörten Brücken ein geordneter Rückzug überaus schwer. So könnte allein schon die drohende Gefahr eines Kessels bei den am westlichen Schwarzen Meer stationierten Einheiten Chaos entfalten – und Putin wäre gezwungen, erhebliche Kräfte zu mobilisieren und von anderen Frontabschnitten abzuziehen, um diese Armeeteile nicht zu verlieren.

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