Tichys Einblick
Teil der Kriegsführung

„Humanitäre Korridore“ als Danaergeschenk

Der „Humanitäre Korridor“ liefert die Legitimation, nach dessen Schließung mit jedem Mittel und ohne Rücksicht auf die Haager Landkriegsordnung oder andere Verträge die Vernichtung der widerstehenden Stadt vorzunehmen.

Nach einem russischen Luftangriff auf ein Kinderkrankenhaus in Mariupol, 9. März 2022

IMAGO / Cover-Images

Im Russisch-Ukrainischen Krieg wird derzeit viel über sogenannte „Humanitäre Korridore“ gesprochen. Sie sollen sicherstellen, dass die unbeteiligte Zivilbevölkerung nicht unnötig unter Feuer gerät. Das klingt menschlich und fast schon unvermeidbar. Und doch ist es ein Danaergeschenk, welches das Opfer vorsätzlich in die Zwickmühle zwingt. Und das nicht nur, wenn Russland die Korridore nun in sein Hoheitsgebiet führen will, wo der unliebsame Teil umgehend in den Gulag weitergereicht werden kann.

Von Troja und Magdeburg

Als Danaergeschenk gilt eine Kriegslist, die scheinbar dem Angegriffenen dient, jedoch letztlich dessen Vernichtung herbeiführt. Der griechische Dichter Homer beschrieb sie, als die Danaer – die griechischen Aggressoren – nach zehn Jahren vergeblicher Belagerung von Troja scheinbar den Rückzug antraten und auf Anregung des Odysseus ein hölzernes Pferd als Opfer für die Götter zurückließen. In dem Holzpferd hatte sich Odysseus mit einer Eliteeinheit versteckt – die naiven Trojaner zogen das Teil in ihre befestigte Stadt – und nachts öffneten die Danaer des Odysseus heimlich die Tore und schufen so den Griechen, die nach dem Rückzug ein paar Buchten weiter wieder angelandet waren, den Einlass, um die Ägäis-Metropole zu plündern und zu zerstören.

Ähnlich gelagert sind jene „Humanitären Korridore“, um die gegenwärtig angesichts des völkerrechtswidrigen Überfalls der russischen Armee auf das Nachbarland Ukraine bedrohte Stadtbewohner sich retten lassen sollen. Hintergrund ist die erklärte Absicht Putins, die Metropolen der Ukraine zu übernehmen – und dieses, so die Übernahme nicht durch Übergabe erfolgt, bei Bedarf mit allen Mitteln.

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Nun ist jedoch die Weltöffentlichkeit auf dem Plan. Anders als zu Zeiten eines Alexander, dessen Gemetzel in der phönizischen Stadt Tyr erst in späteren Schriftwerken dokumentiert wurde, laufen derartige Überfälle heute in Echtzeit weltweit als Liveact. Das schadet der Reputation der kriminellen Aggressoren, weil es unschöne Bilder von Zerstörung, mehr noch aber von menschlichen Opfern schafft, welche als Makel untrennbar mit dem militärischen Erfolg verknüpft sind. Treiben es die Angreifer besonders arg, so kann sogar der militärische Sieg durch das Ausmaß der Vernichtung überlagert und damit für den Angreifer propagandistisch umgekehrt werden. Ein historisches Beispiel eines solchen Sieges ist der Fall der einstigen Handelsmetropole Magdeburg am 10. Mai 1631, der zynisch als „Magdeburger Hochzeit“ mit der „Magdeburgisierung“ die totale Zerstörung einer eroberten Stadt nebst Massenmord an deren Bevölkerung beschreibt.
Die Haager Landkriegsordnung sollte den Krieg „zivilisieren“

Da nicht nur im 17. Jahrhundert bei Belagerungen und anschließenden Besetzungen kein Unterschied gemacht wurde, ob „der besiegte Feind“ gekämpft hatte oder nicht, und wie es um die Kulturgüter und das private Eigentum der Besiegten bestellt ist, versuchten die sich als „zivilisiert“ betrachtenden Nationen 1907, für solche Fälle allgemein gültige Regeln aufzustellen. Dazu gehörten Verpflichtungen im Umgang mit gegnerischen Soldaten, die unnötiges Abschlachten, Morden und Misshandeln verhindern sollten. Diese grundlegenden Rechte galten nicht nur für das stehende Heer, sondern sogar für einfache Bürger, gemeinhin als Zivilisten bezeichnet, die angesichts der Bedrohung zu den Waffen greifen und sich dem Angreifer in den Weg stellen.

Doch die Regeln sind eher vage formuliert. So schreibt Artikel 23 der Haager Landkriegsordnung unter anderem vor, dass „die meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres“ ebenso verboten ist wie „der Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötig Leiden zu verursachen,“ und „die Zerstörung oder Wegnahme feindlichen Eigentums außer in den Fällen, wo diese Zerstörung oder Wegnahme durch die Erfordernisse des Krieges dringend erheischt wird“.

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Nun sind derartige Formeln ohne Zweifel dehnbar, weshalb sich die Vertragsparteien in Folge seit 1907 immer wieder auch auf die Ächtung bestimmter Waffensysteme einigten. Chemie- und Biowaffen stehen dort heute auf der Liste, aber auch Streu- und Splitterbomben. Gleichwohl liegt die Frage, welche „Erfordernisse des Krieges“ ein in der Landkriegsordnung ansonsten geächtetes Kriegsverhalten zulassen, zumeist in der Interpretation der Kombattanten.
Humanität im inhumanen Krieg?

Um dennoch das Gewissen der Aggressoren und der unbeteiligten Zuschauer nicht zu sehr zu belasten, gibt es mittlerweile den „Humanitären Korridor“. Auch dieser wird unterschiedlich interpretiert: Sehen die Aggressoren darin zumeist ein Mittel, aus dem zu erobernden Objekt vor dem Sturmangriff Zivilisten zu entfernen, die den Sturmangriff nur behindern könnten, so bietet der Korridor für die Belagerten in erster Linie eine Möglichkeit, die belagerte Bevölkerung mit dem Nötigsten wie Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versehen. Allein das bereits macht die Einigung auf die Einrichtung eines „Humanitären Korridors“ in aller Regel nicht einfach – und wenn es ihn dennoch geben soll, dann bestimmt zumeist der Angreifer über Zeitdauer und konkrete Nutzung dieses Korridors.

Da in derartigen Konflikten trotz aller offen ausgetragenen Brutalität die Parteien immer noch ein wenig darum bemüht sind, ihr menschliches Gesicht nicht gänzlich zu verlieren, werden solche Korridore, wenn sie denn überhaupt zustande kommen, als humanitärer Akt gefeiert. Faktisch allerdings sind sie das genaue Gegenteil: Sie sind ein Akt der Vertreibung und Vernichtung, denn die Rückkehr der Vertriebenen in ihre Wohnungen ist in der Regel nicht vorgesehen, und die nun ent-zivilisierte Stadt wird zum ausschließlichen Objekt militärischen Vorgehens.

Korridor-Modell Syrien

Im Syrienkrieg, in dem Russland als aktive Kriegspartei auf Seiten des Präsidenten Assad eingriff und der aus heutiger Sicht als Generalprobe für den Überfall auf die Ukraine verstanden werden kann, kamen solche „Humanitären Korridore“ dann zum Einsatz, wenn die Verteidiger auf verlorenem Posten zu stehen schienen. Er gab innerhalb eines Zeitfensters den Belagerten die Möglichkeit, halbwegs geordnet in Regionen zu fliehen, die vom Feind derzeit noch nicht besetzt waren. Sollten die verbliebenen Verteidiger dennoch weiterhin Widerstand leisten, hatten die Angreifer nun freie Fahrt, denn in der absurden Logik des Krieges galten diese Orte nun als von Zivilisten entvölkert.

Ein schmutziger Krieg, der keiner sein darf

Darin nun liegt auch für die Ukraine der Charakter des Danaergeschenks. Dort, wo die Aggressoren einen „Humanitären Korridor“ anbieten, hat dieses nicht das Geringste mit humanistischen Anwandlungen eines Wladimir Putin oder seiner Generäle zu tun. Ganz im Gegenteil liefert der „Humanitäre Korridor“ ihnen die Legitimation, nach dessen Schließung mit jedem Mittel und ohne Rücksicht auf die Landkriegsordnung oder andere Verträge die Vernichtung der widerstehenden Stadt vorzunehmen.

Nicht, dass sich Putin durch sein Narrativ nicht ohnehin diese Möglichkeit geschaffen hätte: Laut offizieller russischer Einlassung ist die Ukraine kein souveräner Staat. Deshalb musste dem Überfall keine Kriegserklärung vorangehen, deshalb darf in Russland nur von „Militäraktion“ gesprochen werden, deshalb sind die sogenannten Verhandlungen, die im Westen in gänzlicher Fehlbeurteilung der Lage als „Friedensverhandlungen“ missverstanden werden, nichts anderes als eine Farce mit dem Ziel, die bedingungslose Unterwerfung der Widerständler entgegen zu nehmen.

Für den russischen Diktator handelt es sich beim Feldzug gegen das Nachbarland tatsächlich nicht um einen Krieg. Sein Narrativ von der Militäraktion ist nicht nur Propaganda – Putin glaubt an seine eigenen Lügen. Er muss sie glauben auch deshalb, weil andernfalls laut Landkriegsordnung sogar Schadenersatz eingefordert werden könnte, sollte Russland die dort vereinbarten Bestimmungen verletzen.

Insofern ist auch ein zusätzlicher Pferdefuß, den Putin an die Korridore in der Ukraine geknüpft hat, in besonderem Maße perfide. Denn anders als in Syrien, wo die Betroffenen sich in vom Feind (noch) unbesetzte Gebiete retten konnten, sollen die ukrainischen Städter umgehend direkt nach Russland und in dessen Vasallenstaat Weißrussland gebracht werden. Putin könnte die Geschundenen dann wahlweise als gerettete „Russen“ oder geschlagene Ukrainer präsentieren – und nach Belieben selektieren, was unmittelbar in seinem Gulag verschwindet.

Eine Humanität, die mit Humanität nichts zu tun hat

Der tatsächliche Hintergrund, weshalb Putin „Humanitäre Korridore“ zulässt, hat mit Humanität nicht das Geringste zu tun. Ganz im Gegenteil soll ihm der „Humanitäre Korridor“ die Möglichkeit schaffen, seine Rache für die gefühlte Schmach von 2014 ungebremst ausleben zu können. Das dazu notwendige Narrativ lieferte jüngst ungeniert ein Vizepräsident der Russischen Duma, der das recht simpel gestrickte Märchen von der unterdrückten Bevölkerung perfektionierte.

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Für die Kriegstreiber in Russland stellt sich die Situation in der Ukraine nach wie vor so dar, dass es dort eine im Kern moskautreue Bevölkerung gibt. Neben dieser stehe eine ukrainische Armee, die, verblendet durch die entsprechende Indoktrination westlicher (US-) Vertreter unverständlicherweise nicht schon längst zu den russischen Befreiern übergelaufen ist. Deshalb müssten diese Einheiten bekämpft und so lange vernichtet werden, bis sie keine Gefahr mehr für die „Befreier“ darstellen. Dritter im Konflikt sei der sogenannte „Rechte Sektor“. Darunter verstehen die Moskowiter Ukrainer, die als irreguläre Einheiten in angeblich faschistischer Tradition gegen die wohlmeinenden Russen kämpfen. Diese irregulären Freischärler – faktisch all jene Ukrainer, die als Nicht-Armeeangehörige nun in den Widerstand gegen Russland gegangen sind – würden das pro-russische Volk zur Geisel nehmen und sich hinter diesem verstecken, um so ihren irregulären Krieg gegen die Befreier fortzusetzen. Soweit die Moskauer Märchenstunde.
Ein Volk von Faschisten

Da nun jedoch ein Großteil des ukrainischen Volkes gegen Russland in den Krieg zieht, vermehren sich gemäß russischem Narrativ diese „Faschisten“ gegenwärtig. Im Ergebnis werden sie als Partisanenkämpfer den Invasoren mehr Probleme bereiten können, als dieses die reguläre ukrainische Armee vermag.

An dieser Stelle des Bürgerwiderstands nun kommen die „Humanitären Korridore“ ins Spiel. Russland stellt sie vorgeblich bereit, damit die unbeteiligte, nicht-faschistische Bevölkerung sich vor einer bevorstehenden Säuberungsaktion in Sicherheit bringen kann. Wird der Korridor dann geschlossen, gelten zwei variierende Kriegserzählungen, denen dieselbe Basis zugrunde liegt.

Da in der belagerten Stadt nun alle gutwilligen Bewohner verschwunden sind, kann es in der Stadt, so die Russen beim Einmarsch auf Widerstand stoßen, nur noch ukrainisches Militär oder faschistische Freischärler geben. Damit greifen keinerlei Rücksichtnahmen mehr auf eine mögliche, gedacht prorussische Zivilbevölkerung und der Angriff mit allen verfügbaren, auch schmutzigsten Mitteln ist gerechtfertigt. Russland wird – wie es dieses bereits in Grosny getan hat – nicht mehr den Versuch unternehmen, die belagerte Stadt im mühsamen und opferreichen Straßenkämpfen zu nehmen, sondern sie bei Bedarf so lange in Grund und Boden bomben, bis auch der letzte ukrainische Kämpfer unter den Trümmern sein Leben gelassen hat. Sollte sich daraufhin weltumspannend ein Aufschrei des Entsetzens über Putin entladen, gibt es zwei Narrative, die das eigene, russische Gewissen beruhigen und die Kritik abfedern sollen.

Narrativ 1: Da Russland allen friedliebenden Zivilisten die Möglichkeit gegeben hatte, die Stadt zu verlassen, kann es beim Angriff nur noch irreguläre Kämpfer des Rechten Sektors und vielleicht ein paar verlorene Reste einer irregulären ukrainischen Armee gegeben haben. Die Totalzerstörung der Stadt war insofern kein kriegerischer Akt, sondern eine bereits in den Grundsätzen der „Militäraktion“ wiederholt dargelegte Säuberung der Ukraine von Faschisten. Wer mit diesen in den Tod gegangen ist, hat sich das folgerichtig selbst zuzuschreiben – und auch die Totalzerstörung der Stadt nebst aller Logistik und Kulturgütern ist nicht Russland anzulasten, sondern ausschließlich dem „Rechten Sektor“, der in der Ukraine vernichtet werden musste und durch seinen Widerstand die Maßnahmen verursacht hat.

Narrativ 2: Sollte es – wie zu befürchten – dennoch bei der Zerstörung der Städte zu derart vielen Opfern unter der Bevölkerung kommen, dass die Weltöffentlichkeit laut vernehmlich aufschreit, so sind auch diese nicht Russland, sondern dem „Rechten Sektor“ anzulasten. Denn dieser trage die ausschließliche Verantwortung dafür, dass er nicht all seine zivilen Geiseln durch den großmütig bereitgestellten „Humanitären Korridor“ habe ausreisen lassen. Russland bedaure zwar die zivilen Opfer zutiefst – aber es wasche seine Hände in Unschuld.

Als erstes stirbt Mariupol

Die erste Stadt, die so der Rache Putins geopfert werden wird, ist Mariupol. Die Hafenstadt am Asowschen Meer liegt den Invasoren bereits seit 2014 quer im Magen, weil der Widerstand der dortigen Bevölkerung die von den Donezk-Terroristen geplante Landbrücke zur Krim verhindert hatte. So wird der Soldateska kaum Einhalt geboten werden, dieses „Widerstandsnest des Rechten Sektors“ dem Erdboden gleichzumachen. Zugleich wird damit ein Exempel statuiert im Vernichtungskrieg gegen die großen und bedeutenden Metropolen, denen ihr Schicksal demonstriert wird, sollte keine bedingungslose Übergabe erfolgen.

Das künftige Angebot an ein zum Widerstand bereites Kiew, einen „Humanitären Korridor“ einzurichten, wird ein identisches Narrativ schaffen. Kommt der Korridor zustande, ist jeder, der in Kiew bleibt, ein Rechtsfaschist, der erbarmungslos „neutralisiert“ werden muss. Wird dabei die Stadt zu Asche, weist Russland alle Verantwortung von sich, denn diese läge ausschließlich bei jenen irregulären Kämpfern, die die Ukraine vergewaltigt und zur Geisel genommen hätten. Schließlich hätten es die Ukrainer selbst in der Hand gehabt, den „Rechten Sektor“ zu beseitigen und so der Vernichtung ihrer kulturellen Identität zu entgehen.

Der Korridor als perfide Art der Kriegsführung

Jedes Angebot eines „Humanitären Korridors“ ist insofern ein Danaergeschenk und bringt die Verteidiger zudem in einen unlösbaren Gewissenskonflikt. Stimmen sie dem Korridor zu, um die Menschen vor der Ermordung zu bewahren, geben sie damit Putin grünes Licht für die Totalzerstörung ihrer Stadt. Stimmen sie dem Korridor nicht zu, wird Russland sie zudem der Unmenschlichkeit anklagen – und die Zerstörung der Stadt nebst Ermordung ihrer Menschen dennoch nicht unterlassen.

Insofern will es die erbarmungslose Logik dieses von Putin im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte initiierten Krieges, dass die Vernichtungsangriffe so oder so stattfinden werden. Denn wie alle seine Vorgänger – Michail Gorbatschow und Boris Jelzin vielleicht ausgenommen – verachtet Putin sein eigenes Volk und mit diesem jenes, das er als solches behauptet. Wenn nun schon für seine Vision des wiedergeborenen Großrusslands unzählige Menschen sterben werden, dann macht es sich besser für die Geschichtsbücher, wenn dieses keine russischen „Befreier“ und auch keine russischen Ukrainer, sondern gemeingefährliche „Faschisten“ sind.

Das zu wissen ist wichtig, wenn über „Humanitäre Korridore“ erzählt wird. Mit Humanität haben sie leider nicht das Geringste zu tun – nur mit einer besonders perfiden Art der Vernichtung gedachter Feinde und deren Kultur.

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