Tichys Einblick
Naive Selbstüberschätzung damals wie heute

Erster Weltkrieg: Interessen und Kriegsschuld – Ursachen und Folgen

„Saturday Review“ vom 11. September 1897: „Überall, wo die Flagge der Bibel und der Handel der Flagge gefolgt ist, liegt ein deutscher Handlungsreisender mit dem englischen Hausierer im Streit.“ Dieser Streit mündete im 1. Weltkrieg.

Sultan Mehmed V. begrüßt Kaiser Wilhelm II. bei seiner Ankunft in Istanbul. Auf der linken Seite des Sultans ist Hakki Pascha, der türkische (osmanische) Botschafter in Berlin

Vor einhundert Jahren tobte auf dem europäischen Kontinent ein verheerender Krieg, der am Ende die Weltvorherrschaft der europäischen Zivilisation ebenso brechen sollte, wie er eine Generation junger Männer vernichtete.

Es war ein Krieg, der aus scheinbar nichtigem Anlass begann, und dessen Schuld nach dem Ende des Waffengangs den Deutschen angelastet wurde. Bis heute wird die Legende gepflegt, es sei der König von Preußen als deutscher Kaiser gewesen, der kriegslüstern die Welt ins Verderben zog. Doch war es tatsächlich so?

Wenden wir uns der zum Verständnis der Situation spannenden Frage zu: Welcher der beteiligten Staaten konnte 1914 ein tatsächliches Interesse an dem Konflikt haben – welches Land glaubte, sich von einem Sieg Vorteile erwarten zu können, die ihm ohne diesen versperrt geblieben wären? Konzentrieren wir uns dabei auf die „big six“, die sich in Europa die Köpfe einschlagen sollten: Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn, Russland und Vereinigtes Königreich.

I. Die Vorgeschichte

Um die Situation zu verstehen, ist es hilfreich, einen Blick auf das 19. Jahrhundert zu werfen, welches das eigentliche europäische Jahrhundert war. Es startete im wesentlichen mit dem Dualismus Frankreich-England, der seit dem Ende des Hundertjährigen Krieges im Jahr 1453 einen vorläufigen Abschluss der unmittelbaren Kriegshandlungen zwischen den beiden Ländern gebracht hatte. Beide Staatswesen etablierten sich in der Folgezeit als das, was wir heute Nationalstaaten nennen, wobei beide, Franzosen wie Engländer, bis dahin weitgehend autonome Nachbarvölker und Regionalidentitäten quasi zwangsnationalisierten.

Das keltisch geprägte Wales hatten die Engländer – oder besser: Die englischen, gut zweihundert Jahre zuvor als Normannen aus Frankreich ins Land der Angelsachsen eingefallenen Herrscher – bereits 1283 militärisch angeschlossen und 1536 zum Teil des Königreichs erklärt. 1707 wurde das in jahrhundertelangen Kleinkriegen übernommene Schottland mit England formell vereint – die Geburtsstunde des „Union Jack“.  Die irische Insel wurde 1800 integraler Bestandteil des Vereinigten Königreichs. Auch hier war eine lange Phase der Übernahme durch die Engländer vorausgegangen, begonnen mit dem Einfall der englischen Normannen im Jahr 1169. Im Nordosten der Insel waren protestantische Angelsachsen angesiedelt worden – Ursache des bis heute schwelenden Konflikts zwischen den beiden christlichen Konfessionen ebenso wie zwischen Briten und Iren im immer noch britischen Nordirland.

Parallel zur Übernahme der britischen Inseln löste England seit 1588 die bisherige Weltmacht Spanien ab. Um 1800 waren die Iberer in der Weltpolitik weitgehend in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Engländer hingegen hatten bis 1800 ein weltumspannendes Kolonialreich aufgebaut, welches dem Inselstaat ebenso weltumspannende Handelsgewinne und trotz des Verlustes der Kolonien der späteren USA den Zugriff auf Ressourcen aller Art sicherte.

Der französische Nationalstaat hatte 1481 die Provence im Süden, 1482 die Picardie im Norden und 1491 die Bretagne im Westen angegliedert. 1527 folgten die zentralfranzösischen Gebiete La Marche, Bourbon und die Auvergne. Die spanischen Niederlande – das heutige Belgien – Savoyen, Burgund, Luxemburg und die Reichslande zwischen Metz und Straßburg gehörten 1588 wie seit dem Frühmittelalter zum Heiligen Römischen Reich (HRR) der Habsburger. Die französischen Kardinäle Richelieu und Mazarin befeuerten im 17. Jahrhundert die konfessionellen Konflikte im HRR und Frankreich annektierte bis 1800 die habsburgischen Reichsgebiete Burgund als Franche Comté um Besancon (1679, zuvor seit 1033 HRR), Lothringen (1766, zuvor seit 843 HRR) und das Elsass (1648, ebenfalls zuvor seit 843 HRR). Diese Gebietserweiterungen wurden 1815 auf dem Wiener Kongress nach der militärischen Niederlage Frankreichs weitestgehend den Franzosen zugesprochen. Napoleon hatte das HRR zu Grabe getragen – und die neue Westgrenze des nunmehr Deutschen Bundes entsprach weitgehend dem heutigen Grenzverlauf zwischen Nordsee und Schweiz. Lediglich Luxemburg gehörte seinerzeit noch zum Bund, während das friesische Königreich der Vereinigten Niederlande unter den deutschen Oraniern das heutige Brüssel ebenfalls umfasste.

Der Wiener Kongress brachte 1815 insgesamt eine Neuordnung auf dem Kontinent – neben dem Kaisertum Österreich, welches weiterhin von der Habsburgischen Monarchie verwaltet wurde, hatte maßgeblich das Preußen der ursprünglich südwestdeutschen Hohenzollern die Nachfolge des HRR angetreten.

Die modernen Nationalstaaten

Im neunzehnten Jahrhundert folgten die Völker Italiens und Deutschland der Nationalstaatsidee ihrer westlichen Nachbarn: 1861 rief der König von Sardinien-Piemont das italienische Königreich aus. Bis 1870 gehörten diesem jungen Staat so ziemlich alle Regionen auf dem Stiefel an – lediglich Trient/Südtirol und Istrien/Triest verblieben im Nordosten beim Habsburger Reich, während Frankreich das 1769 besetzte Korsika behielt und im Vertrag von Turin 1860 das Herzogtum Savoyen sowie die Grafschaft Nizza gegen die den Österreichern 1859 abgerungene Lombardei tauschte.

1871 gründete sich nach dem Überfall des französischen Usurpators Kaiser Napoleon III auf Preußen das demokratische Deutsche Reich als Bundesstaat unter Ausschluss des Habsburgischen Österreich, wobei es sich infolge des Krieges die ehemaligen Reichsgebiete Elsass und Lothringen von Frankreich zurückholte.

In Mittelwesteuropa war damit die Bildung von Nationalstaaten im Wesentlichen abgeschlossen. Lediglich dem Habsburger Reich – ein klassischer Vielvölkerstaat in der Tradition des von Ostsee bis Mittelmeer reichenden HRR – vermochte mangels österreichischem Staatsvolk diesem Weg nicht zu folgen. Statt dessen traten in der Kaiserlich-Königlichen Doppelmonarchie zunehmend mehr Differenzen zwischen den Völkerschaften auf: Tschechen, Slowaken, Ungarn, Rumänen, Slowenen, Kroaten verlangten nach Autonomie und Selbstverwaltung in dem von Deutsch-Österreichern geprägten Staatsgebilde. Die im Kern immer noch mittelalterliche Reichsidee der Habsburger sollte Österreich zum eigentlich zu spät gekommenen Staat in Europa machen – ein Prädikat, das zu Unrecht gern dem Deutschen Reich als angeblich „verspäteter Nation“ zugewiesen wird.

Diese Situation der miteinander konkurrierenden Nationalstaaten schuf die Grundlage der Konflikte, die 1914 explodieren sollten – womit es nun geboten scheint, sich auf die Interessenlagen der einzelnen Beteiligten zu konzentrieren. Sie speisen sich im Wesentlichen aus zwei klassischen Motiven: Handelsinteressen und Revanchismus als der Anspruch, eine erlittene Schmach zu revidieren.

II. Revanchismus und Handelsinteressen einen Frankreich und England

Das Vereinigte Königreich

Die Engländer hatten sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als tatsächliche und einzige Weltmacht etabliert. Ihr Imperium umspannte den Planeten und produzierte eine prosperierende Dynamik, die es um 1850 zur einzigen weltumspannend tätigen Handelsnation gemacht hatte. Mit Innovationen beispielsweise im Schiffs- und Eisenbahnbau, dem verarbeitenden Gewerbe wie der Stoff- und Bekleidungsindustrie betrug noch 1870 der Anteil Großbritanniens an der Weltindustrieproduktion 31.8 %. Zum Vergleich: Der entsprechende Anteil der noch nicht geeinten deutschen Länder lag gerade einmal bei 13,7 %. Damit hatten die Inselsachsen faktisch ein Weltmonopol – denn die restlichen knapp 55 Prozent verteilten sich auf viele. Der Boom der Industrialisierung sorgte dafür, dass die britische Landbevölkerung massiv in die dynamischen Städte wanderte – und dass es trotz aus heutiger Sicht zahlreicher Mängel im sozialen und sanitären Bereich zu einem deutlichen Bevölkerungswachstum kam. Gab es 1861 rund 29 Millionen Briten, so lebten 1911 bereits 45 Millionen Menschen auf den Inseln.

Die Vernachlässigung der bei weitem nicht so lukrativen Agrarindustrie bei gleichzeitig rasantem Bevölkerungswachstum sorgte dafür, dass die Inseln sich nicht mehr selbst ernähren konnten. Dieses sowie der Import von Konsumgütern und Maschinen waren Ursache dafür, dass das Außenhandelsdefizit regelmäßig mehr als zehn Prozent des Volkseinkommens betrug. Lediglich der Dienstleistungssektor mit dem britischen Versicherungsmonopol sowie die mit 190 Millionen Pfund um zehn Prozent unterhalb dem Außenhandelsdefizit liegenden Einnahmen aus außerhalb der Insel generierten Kapitalerträgen hielten die britische Volkswirtschaft am Leben.

Ein weiteres Problem der Briten war die Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Seit den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts traten mit den USA und dem Deutschen Reich zwei bis dahin weitgehend unbedeutende Player auf den Plan, die ähnlich den Briten ihren Schwerpunkt auf die Industrieproduktion und Konsumgüter legten. Ähnlich den Japanern in den Fünzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts und die Chinesen in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts drängten die Newcomer erst mit Billigprodukten und Plagiaten auf den britischen Markt. Am 23. August 1887 beschloss das britische Parlament deshalb die Herkunftsbezeichnungspflicht für alle importierten Güter. Zu diesem Zeitpunkt allerdings hatten sich bereits vor allem deutsche Produkte als ebenbürtig, wenn nicht hochwertiger als die heimische Produktion erwiesen – das als Importhemmnis gedachte „Made in Germany“ wurde ungewollt zum Qualitätssiegel.

Den Weltindustriemarkt beherrschten zur Jahrhundertwende die drei Länder Großbritannien, Deutschland und USA. Als am 5. März 1903 der Zuschlag zum Bau der osmanischen Bagdadbahn, die von Istanbul nun bis Basra am Golf reichen sollte, an Deutschland ging, war dieses nicht nur ein Schlag für die britische Stahl- und Eisenbahnindustrie –  mehr noch litten das Selbstbewusstsein und die kolonialen Pläne der Briten. Der Zuschlag an die Deutschen führte den Engländern, bei denen noch 1860 der Eisenbahnbau ein Viertel aller Exporteinnahmen generiert hatte, vor Augen, dass auf dem Kontinent ein überaus leistungsfähiger Konkurrent entstanden war. Gleichzeitig wurde durch die vertraglich garantierte Anwesenheit der Deutschen bis Basra und die damit verbundenen Schürfrechte auf Gas und Öl entlang der Strecke ebenso wie mit dem vom Reich angestrebten Marinestützpunkt am Golf das koloniale Ziel einer britischen Landverbindung zwischen Ägypten und Indien ausgehebelt.

Die deutsch-britische Flottenpolitik

Das Reich hatte in seiner prosperierenden Dynamik angesetzt, seine weltumspannenden Handelsinteressen durch Bunkerstationen abzusichern, aus denen die Besitzungen in Afrika – Togo, Kamerun, Südwest- und Ostafrika – ebenso wie im pazifischen Raum resultierten. Die damaligen Reichweiten der überwiegend noch mit Kohle betriebenen Schiffe machten es in dem Bestreben, von den Handelskonkurrenten und den nach wie vor feindlich eingestellten Franzosen unabhängig zu sein, unverzichtbar, nach weiteren Standorten in Nordwestafrika – beispielsweise Marokko – und am Indischen Ozean – Basra – zu streben. Um die Route herum um das mittlerweile den mit dem Reich verbundenen, niederländischen Buren militärisch von den Briten abgerungenen Südafrika zu verkürzen, gab es im Reich die Überlegung einer afrikanischen Bahnverbindung von Deutsch-Südwest nach Deutsch-Ostafrika, die ausschließlich über deutsches Territorium führen sollte. Der Caprivi-Zipfel des heutigen Namibia ist ein Ergebnis dieser Überlegungen.

Das Deutsche Reich unter seinem Präsidenten Kaiser Wilhelm II hielt zur Absicherung des deutschen Welthandels und damit des Wohlstandes seiner exportorientierten Bevölkerung eine leistungsfähige Kriegsflotte für unverzichtbar – und war sich dabei der Tatsache bewusst, dass der wirtschaftliche Aufstieg des Reichs selbstverständlich den Argwohn der hier vornehmlich britischen Konkurrenz heraufbeschwor.

Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst hielt im Januar 1896 in einem Memorandum an den Kaiser fest:

„Die Entwicklung des deutschen Handels bringt es mit sich, daß dadurch die Eifersucht anderer handeltreibender Völker erregt wird. Das ist zu bedauern, läßt sich aber nicht ändern. Nun haben wir uns bisher bemüht, mit allen Mächten die friedlichsten Beziehungen aufrecht zu erhalten, und dies ist uns auch gelungen. Das kann sich aber ändern, und es ist nicht zu leugnen, daß eine Verschlechterung dieser Beziehungen eintreten kann. Wollen wir uns nicht in allem fügen und auf die Rolle einer Weltmacht verzichten, so müssen wir geachtet sein. Auch das freundlichste Wort macht in internationalen Verhandlungen keinen Eindruck, wenn es nicht durch eine ausreichende Macht unterstützt wird. Dazu ist den Seemächten gegenüber eine Flotte nötig.“

Für die Briten, die zu diesem Zeitpunkt die Weltmeere beherrschten, entwickelte sich das junge Deutsche Reich zum gefühlten Gegner Nummer Eins. War es den Engländern nach dem Vertrag von London 1604 gelungen, die damalige Weltseemacht Spanien zu neutralisieren, und hatten sie mit der Seeschlacht bei Trafalgar 1805 und mit dem Sieg bei Waterloo 1815 die französischen Weltmachtbestrebungen ausgehebelt, war nun das Reich zur größten Gefahr für das Empire geworden.

In der „Saturday Review“ vom 11. September 1897 wurde die Konkurrenz wie folgt beschrieben:

„Auf die Länge beginnen auch in England die Leute einzusehen, daß es in Europa zwei große unversöhnliche, entgegengesetzte Mächte gibt, zwei große Nationen, welche die ganze Welt zu ihrer Domäne machen und von ihr den Handelstribut erheben möchten. England, mit seiner langen Geschichte erfolgreicher Aggression und der wunderbaren Überzeugung, daß es beim Verfolg seiner eigenen Interessen Licht unter den im Dunkeln wohnenden Völkern verbreite, und Deutschland, Fleisch vom selben Fleisch und Blut vom selben Blut, mit geringerer Willenskraft, aber vielleicht lebhafterer Intelligenz, wetteifern in jedem Winkel des Erdballs. … Überall, wo die Flagge der Bibel und der Handel der Flagge gefolgt ist, liegt ein deutscher Handlungsreisender mit dem englischen Hausierer im Streit.“

Britannien sah seine Welthandelsdominanz bedroht. Daraus formulierte es die Selbstverpflichtung, dass die britische Seestreitkraft zu jedem Zeitpunkt mindestens so groß sein müsse, wie die zweit- und die drittgrößte Flotte zusammen. Das Reich wiederum formulierte seinen Anspruch in der Begründung des 2. Flottengesetzes im Jahr 1900 nicht minder deutlich:

„Unter den gegebenen Umständen gibt es nur ein Mittel, um Deutschlands Handel und Kolonien zu schützen: Deutschland muß eine Flotte von solcher Stärke haben, daß selbst für die größte Flotte ein Krieg mit ihm ein solches Risiko in sich schließen würde, daß ihre eigene Überlegenheit gefährdet wäre.“

Während also die Briten ihr Streben darin sahen, die maritime Konkurrenz notfalls mit militärischer Überlegenheit ausschalten zu können, formulierte Deutschland eine Politik der Abschreckung, vergleichbar jener Situation zwischen den Blöcken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Die eigene militärische Schlagkraft sollte den potentiellen Gegner davon abhalten, einen Angriffskrieg zu führen – die eigene Rüstung wurde dabei ausschließlich als Defensivinstrument betrachtet.

Diese unterschiedliche Positionierung fand ihren Niederschlag in den Rüstungsausgaben. So belief sich im Haushaltsjahr 1910/11 das Marinebudget der Briten auf gut 823 Millionen Mark – das Reich selbst hatte knapp 434 Millionen bereitgestellt.

Es folgte ein maritimer Rüstungswettlauf, in dem das Empire mit den „Dreadnoughts“ zur Entwicklung erstaunlicher Kampfschiffe in der Lage war – gefolgt von ähnlichen Innovationen der deutschen Schiffbauer. Es stießen mit dem britischen Vorherrschaftsanspruch und dem deutschen Gleichberechtigungsziel nun zwei unvereinbare Doktrinen aufeinander.

Dennoch legte das Reich seinen Schwerpunkt nicht auf die Marine und erreichte zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise das britische Niveau. So kostete seine Marine den englischen Bürger im Jahr 1905 pro Kopf 15,70 Mark – in Deutschland waren es 3,80 Mark. Am Vorabend des Krieges hatte das Königreich seine Pro-Kopf-Ausgaben 1913 auf 20,50 Mark gesteigert – das Reich lag bei 6,90. Da gleichzeitig die ebenfalls als Gegner des Reichs betrachteten Franzosen ihre Marineausgaben pro Kopf von 6,60 auf 10,40 Mark gesteigert hatten – und damit ebenfalls deutlich über den deutschen Ausgaben lagen – kann bei einem Verhältnis der Entente gegenüber dem Reich von 4,5:1 vom Aufbau einer deutschen Angriffsflotte nicht die Rede sein.

Für das Vereinigte Königreich war seine maritime Überrüstung ebenso desaströs, wie sie aus britischer Sicht unverzichtbar schien. Das Empire hatte sich nach dem Verlust seiner Führungsposition in der Industrieproduktion an das Reich und die ebenfalls prosperierenden Vereinigten Staaten von Amerika zunehmend als Dienstleister auf den Welttransport konzentriert. Die daran gekoppelte Versicherungswirtschaft mit dem Quasi-Monopolisten Lloyd`s machte London zum Finanzplatz Nummer Eins.

1913 erwirtschafteten die Transportdienstleistungen 90 Millionen Pfund des britischen Haushalts. Banken und Versicherungen trugen 70 Millionen bei. Die dritte Säule waren die Kapitalerträge aus Auslandsinvestitionen – vorrangig in den weltumspannenden Kolonien. Sie lagen bei 190 Millionen Pfund. In Sachen Stahl, Chemie und Maschinenbau waren die Engländer von den USA und dem Reich mittlerweile auf die Plätze verwiesen worden.

Gegen die Einnahmen aus Dienstleistungen und Kapitalertrag stand ein Außenhandelsdefizit in Höhe von rund 200 Millionen Pfund. Ursache dafür waren neben dem Ankauf von Konsum- und Industriegütern maßgeblich die Lebensmittelimporte – so wurde für die britische Bevölkerung, die sich nicht mehr selbst ernähren konnte, Getreide billig aus den USA und Russland herangeschafft.

England hatte sich bis zum Vorabend des Krieges in die Abhängigkeit von Handelsflotte und Finanzdienstleistern manövriert – und der Warenimport britischer Produkte in die eigenen Kolonien war mit einem Anteil von 61 % der britischen Exporte neben den Kapitalerträgen der entscheidende Motor, diese Geldquelle am Sprudeln und für die britische Manufaktur- und Industrieproduktion einen Markt aufrecht zu halten. Genau diese letztverbliebene Geldquelle schien durch die deutsche Dynamik massiv gefährdet.

So verfügte die Deutsche Handelsmarine 1913 mit 3,3 Millionen Registertonnen nach dem Königreich mit 12 mio BRT bereits über die zweitgrößte Handelsflotte der Welt – und ihre Wachstumsdynamik lag deutlich vor der britischen. Das Reich setzte an, auch auf diesem Markt die Vormachtstellung der Briten anzugreifen – was im Erfolgsfalle dazu hätte führen können, im Gefolge die Finanzdienstleister nebst Versicherungswirtschaft zunehmend mehr aus London nach Berlin oder Hamburg umsiedeln zu lassen.

Zwar wurde die wirtschaftliche Zukunft des Empires zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Standortvorteile der ihren Kontinent erschließenden Nordamerikaner noch mehr bedroht als vom Reich – doch spielten sich die deutschen Ambitionen unmittelbar vor der britischen Haustür ab und das Reich trat auch im Segment der überseeischen Absicherung von Rohstoffimporten und Handelswegen über maritime Stützpunkte in eigenen Kolonien deutlicher als die Amerikaner ebendort auf, wo England sich bereits als etabliert betrachtete. Wollte das Königreich nicht von der deutschen Dynamik an die Wand gedrückt werden, musste aus britischer Sicht vorrangig eben diese Dynamik gestoppt werden. Und so blieb der Versuch des damals noch jungen Winston Churchill erfolglos, die sich anbahnende Konfrontation zu verhindern. Bereits 1908 hatte er als frisch gekürter Handelsminister erklärt, er sehe „nichts, worum diese beiden großen Völker kämpfen sollten“. Noch im Frühjahr 1914 – nunmehr Marineminister – wollte er den drohenden Krieg um die britische Vorherrschaft vermeiden und einen Weg finden, das Wettrüsten zu beenden. Er empfahl seinen Kabinettskollegen, sich anlässlich der Kieler Woche mit dem Kaiser zu treffen und eine Lösung auf Gegenseitigkeit zu verhandeln. Doch seine Kabinettskollegen winkten ab. Sie hatten kein Interesse an einem friedlichen Ausgleich und wollten die britische Weltdominanz dadurch wiedererlangen, dass sie das aufstrebende Reich in die Knie zwangen.

Frankreich

Das Reich der Franzosen durchlitt im 19. Jahrhundert eine Phase politischer Unsicherheit. Nach der Niederlage Napoleon I bei Waterloo wurde das Königreich der Bourbonen restauriert. Durch eine republikanische Revolution abgelöst, usurpierte 1851 Napoleons Neffe Charles Louis mit einem militärischen Staatsstreich die Republik und ließ sich per Referendum 1852 als Napoleon III zum Kaiser ausrufen. Im Bestreben, die historische Große seines Onkels zu erreichen und die Schmach von Waterloo wettzumachen, trieb er nach einer verlustreichen Beteiligung am gegen Russland gerichteten Krimkrieg (1853-56) sein Land 1870 aus nichtigem Anlass in den Krieg gegen Preußen – und schuf so die deutsche Solidarität, die erst zur militärischen Niederlage Frankreichs und 1871 zur Gründung des ersten deutschen, demokratisch verfassten Bundestaates zwischen Nordsee und Alpen führte.

Frankreich konnte nach dem kriegsbedingten Abgang auch dieses Napoleons mit der Dritten Republik behutsam Fuß fassen. Wirtschaftlich und kulturell ging es voran – doch das Reich der Franzosen hinkte in Industrieproduktion und Wirtschaftskraft deutlich hinter seinen beiden europäischen und dem amerikanischen Konkurrenten hinterher. Große Teile der französischen Führung sahen eine maßgebliche Ursache dafür im Verlust der Bergbau- und Industrieregionen in Lothringen, das 1871 ebenso wie das Elsass als ehemalige Gebiete des HRR zurück an das junge Deutsche Reich gegangen war.

Ohnehin hatte die selbstverschuldete Niederlage von 1870/71 das französisch-deutsche Verhältnis auf den Nullpunkt gebracht. Beide Länder betrachteten sich als Erbfeinde und ständige Bedrohung der eigenen Sicherheit. Frankreich wollte die seit dem 17. Jahrhundert annektierten, deutschen Reichsgebiete zurückholen, strebte weiterhin auch den Unterlauf des Rheins als Staatsgrenze an. In Übersee kollidierten die Interessen der beiden Nachbarn regelmäßig – ob im Buhlen um das Osmanische Reich oder in Marokko und selbst im zentralafrikanischen deutschen Kamerun und Togo, die Frankreich als Makel in seinem von Algier bis Brazzaville reichendem, westafrikanischen Kolonialreich betrachtete. Die Franzosen schmiedeten Allianzen mit den Briten und den Russen, die sie noch fünfzig Jahre zuvor auf der Krim bekämpft hatten.

Die Folge der schwelenden Konfrontation war angesichts der gemeinsamen Grenze eine massive Aufrüstung der Landstreitkräfte vor allem auf französischer Seite. 1905 steuerte jeder Franzose umgerechnet 15,50 Mark zur Armee bei. Der Deutsche musste nur 11,50 Mark berappen. Bis 1913 hatten die Franzosen ihre Pro-Kopf-Ausgaben für die Landstreitkräfte auf 19,30 Mark gesteigert. In Deutschland lagen sie bei 14,90 Mark.

Ein psychologisches Problem der Franzosen war die sich dort bereits zu diesem Zeitpunkt abzeichnende Stagnation der Bevölkerungsentwicklung. In den acht Jahren zwischen 1905 und 1913 wuchs die französische Bevölkerung gerade einmal um eine halbe Million Menschen auf 39,7 Millionen. Das germanische Nachbarreich steigerte sich dagegen um 6,9 auf 67,5 Millionen. Die französische Politik sah sich auch infolge der Niederlage von 1870/71 einem an Masse, Wirtschaftskraft und militärischer Fähigkeiten überlegenem Gegner gegenüber, gegen den es allein sich außerstande sah zu bestehen.

Anders als 1870 war sich Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Unmöglichkeit bewusst, den ungeliebten Nachbarn militärisch allein überwinden zu können. Deshalb suchte und fand es den Schulterschluss mit den Briten. Beide einte die Angst vor der wirtschaftlichen Dynamik und der militärischen Stärke der seit 1871 bestehenden kleindeutschen Demokratie.

Von Entente cordiale zur Triple Entente

Das 1904 als „Entente cordiale“ („Herzliche Verbindung“) mit dem Königreich geschlossene Abkommen zwischen England und Frankreich über die Regelung der jeweiligen Interessen auf dem afrikanischen Kontinent sollte sich zu einer maßgeblich gegen das Deutsche Reich gerichteten Allianz entwickeln. Spätestens mit dem Beitritt Russlands zur nun „Triple Entente“ genannten Koalition befanden sich das Reich ebenso wie die Österreich-Ungarische Doppelmonarchie ab 1907 in der Zange. Sollte es zu einem bewaffneten Konflikt mit einem der drei Länder kommen, stand auf europäischem Boden ein Zweifrontenkrieg ins Haus – flankiert von einem Seekrieg gegen die immer noch mächtigste Flotte der Erde.

III. Das Deutsche Reich als Konkurrent

Die infolge der drei Kriege der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts entstandene, erste deutsche Demokratie hatte mit der von Preußen betriebenen Trennung von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Führung der Habsburger und der Abgrenzung zum Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn 1871 zum modernen Nationalstaat gefunden. Durch den militärischen Sieg über Frankreich hatte es sich neben Franzosen und Briten als dritte Großmacht Westeuropas etabliert.

Der junge Nationalstaat entwickelte eine erstaunliche Dynamik in Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung. In den Achtzigerjahren war die Sozialversicherung eingeführt worden, was deutlich zur Bevölkerungsdynamik beitrug. Zwischen 1875 und 1913 wuchs die deutsche Bevölkerung von 43 auf 67 Millionen. Das Bruttosozialprodukt war in demselben Zeitraum von 17,7 auf 48 Milliarden Mark gestiegen, die Reallöhne der gewerblichen Arbeitnehmer hatten sich verdoppelt, wobei insbesondere Fachkräfte sozial aufstiegen. Dennoch lagen die deutschen Löhne unter denen in Großbritannien und den USA auf dem Niveau Frankreichs – ein globaler Wettbewerbsvorteil gegenüber den beiden Hauptkonkurrenten. Um die wirtschaftliche Dynamik abzusichern, wurden 1913 bereits sieben Prozent der Arbeitskräfte von Gast- und Saisonarbeitern aus dem russischen Teil Polens, Italien und Provinzen der österreichischen K.u.K.-Monarchie gestellt.

Die deutsche Forschung und damit die Innovationsfähigkeit hatte Schwerpunkte in der Herstellung hochwertigen Stahls und den jungen Industriezweigen der Elektrotechnik und der chemischen Industrie entstehen lassen. Deutschlands erste Demokratie war in gewisser Weise das Silicon-Valley des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Wesentliches Standbein der Dynamik war die Energieerzeugung. Allein in den sechs Jahren zwischen 1907 und 1913 wurde die zur Verhüttung notwendige Steinkohleförderung von 143 Millionen Tonnen auf 191 Millionen Tonnen gesteigert. Deutschland war 1913 zum zweitgrößten Stahlhersteller der Welt avanciert. Belegten die USA mit 32 Millionen Tonnen Platz Eins, so betrug die deutsche Bilanz 17,8 Millionen Tonnen. Großbritannien folgte mit 7,8 mio t abgeschlagen auf dem dritten Platz; Frankreich, obgleich es seine Stahlproduktion zwischen 1890 und 1913 versechsfacht hatte, mit 4,7 mio t auf Platz 4.

Beim Weltchemieexport lag Deutschland 1913 mit 28 % ebenfalls deutlich vor den Engländern mit 16 %. In der Elektrotechnik hatten sich das bereits 1847 gegründete Unternehmen „Siemens“ und die 1883 geschaffene „AEG“ an der Weltspitze etabliert.

Die Dynamik der deutschen Produktion spiegelt sich wider in den Zahlen der Weltindustrieproduktion. Kamen die Staaten des Norddeutschen Bundes um 1860 gerade einmal auf einen Anteil von knapp 5 %, so war Deutschland in den 90ern bereits auf Platz 3 vorgerückt. Erstmals 1913 überholte das Reich die Briten, lag mit einem Anteil von 14,8 % spürbar vor der Inselkonkurrenz mit 13,6 %. Einsam an der Spitze lagen zu diesem Zeitpunkt bereits die USA mit einem Anteil von 32 %.

Territorial hatte das Reich 1871 seine kontinentaleuropäischen Ambitionen erfüllt. Im Norden war das ursprünglich dänische Schleswig mit seiner mehrheitlich deutschsprachigen Bevölkerung eingemeindet. Im Osten grenzte das Reich mit den polnisch-sprachigen Gebieten Westpreußens und Zentralpolens an das russische Zarenreich. Im Westen waren mit Lohringen und dem Elsass die in Folge des 30-jährigen Krieges von Frankreich annektierten Reichsgebiete zurückgeholt worden.

Das Reich hatte seine territorialen Ansprüche infolge der wirtschaftlichen Dynamik, der Rohstoffgewinnung und der Absicherung der Seewege auf andere Kontinente verlegt und verfügte als kolonialer Nachzügler über Stützpunkte nebst deutsch verwaltetem Hinterland in Zentral-, Süd- und Ostafrika, China und Ozeanien. Die „Schutzgebiete“ entwickelten sich schnell zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. So steigerte sich das Handelsvolumen zwischen dem deutschen Kernland und den überseeischen Gebieten im Zeitraum zwischen 1906 und 1913 von 72 auf 264 Millionen Mark. Im diesem Zeitraum verdoppelte sich die Produktion von Palmöl und Kakao, und es vervierfachte sich die Kautschuk-Produktion – unverzichtbarer Grundstoff für das Hochtechnologieprodukt Kraftfahrzeug. Deutsch-Ostafrika, das spätere Tansania, verzehnfachte seine Baumwollproduktion.

Weitere Player im europäischen Game of Thrones

Neben den „Erbfeinden“ Frankreich und Deutschland und der Weltmacht des Vereinigten Königreichs gab es mit Italien, Russland und dem Habsburger Reich drei weiter wichtigte Player auf dem europäischen Kontinent, die um Macht, Anerkennung und Bedeutung kämpften. Gleichzeitig jedoch unterschieden sie sich von den drei dominierenden Staaten sowohl in ihren Möglichkeiten wie in ihrer Staatsphilosophie.

Italien

Ähnlich dem Deutschen Reich als nördlicher Teil des früheren Heiligen Römischen Reichs war auch Italien als dessen südlicher Teil erst im 19. Jahrhundert infolge französischer Besetzung zum Nationalstaat geworden. Im Zuge des „risorgimento“, der „Wiedererstehung“, hatten national-italienische Kräfte unter Führung des Königreichs Sardinien, zu welchem neben der Mittelmeerinsel auch Savoyen-Piemont mit den Metropolen Turin und Nizza gehörte, 1861 das „Königreich Italien“ ausgerufen. Der Einheitsprozess wurde 1870 mit der militärischen Besetzung Roms als Zentrum des bis dahin autonomen Kirchenstaats vorläufig abgeschlossen.

Im Zuge des Einheitsprozesses trat Victor Emmanuel II 1860 als Dank für die französische Unterstützung beim Risorgimento das alpine Savoyen zwischen Rhone und Mont-Blanc-Massiv sowie die Grafschaft Nizza an Frankreich ab. Der junge italienische Nationalstaat erhob auch nach dem vorläufigen Abschluss seines Einigungsprozesses weiterhin Ansprüche auf die zu Österreich-Ungarn gehörenden Gebiete Trient und Südtirol sowie Istrien und dem wichtigsten Habsburger Mittelmeerhafen Triest. Nationalistische Kreise träumten davon, auch die ehemals venezianischen Besitzungen entlang der kroatischen Küste sowie die Grafschaft Nizza heim ins Königreich zu holen.

Ähnlich dem Deutschen Reich kam es im geeinten Italien zu einem wirtschaftlich-industriellen Aufschwung, auch wenn dieser mit der Dynamik der Nordeuropäer nicht mithalten konnte. Dennoch erwuchsen daraus italienische Ansprüche an der Beteiligung der Aufteilung der Welt durch die Europäer. Ab 1882 wurden Äthiopien, Eritrea und der Norden Somalias zur Kolonie Italienisch-Ostafrika erklärt. 1912 übernahm Italien nach Angriffskriegen von den Osmanen die Ägäis-Inseln der Dodekanes sowie Tripolitanien – das heutige Libyen. Ansprüche erhoben die Italiener auf das seit 1881 französische Protektorat Tunesien. Auch in Fernost und am Indischen Ozean strebte das Stiefelreich nach Stützpunkten, scheiterte dabei jedoch an den Widerständen vor allem Großbritanniens und der USA.

Die Konkurrenz vor allem zu Frankreich sowie der unterschwellige Konflikt um das seinerzeit abgetretene Nizza hatte das junge Italien trotz der Ansprüche auf habsburgische Gebiete im frühen 20. Jahrhundert zunehmend mehr auf die Seite von Reich und Doppelmonarchie gedrängt – diese fragile Einigkeit sollte jedoch dem Seitenwechsel nach Kriegsbeginn nicht entgegen stehen, als seitens der Alliierten bessere „Angebote“ für den Fall des Sieges über die Mittelmächte gemacht wurden.

Österreich-Ungarn

Die Habsburger Doppelmonarchie war zur Wende zum 20. Jahrhundert gleichsam der Dinosaurier unter den Staaten Europas. Wie kein anderer Staat verharrte er entgegen den nationalen Bewegungen der Zeit auf der Idee des Vielvölkerstaats. Da jedoch unter der Ägide des Kaisers Franz Josef I eine von den Nationen geforderte Demokratisierung und größere Autonomie der Habsburger Besitztümer ausblieb, verschärften sich die inneren Konflikte im Kaiserlich und Königlichen Österreich-Ungarn.

Der K.u.K.-Staat sah sich außenpolitisch einerseits von Italien bedrängt, das zu seinen Lasten bereits die Regionen Lombardei und Venetien in das Königreich Italien übernommen hatte. Vor allem Österreichs wichtigster Überseehafen Triest wurde von den nationalen Interessen Italiens bedroht, das gleichzeitig mit einer Annektion Trients und Südtirols die Alpengrenze am Brenner anstrebte.

Auf dem Balkan, den die K.u.K.-Monarchie als ihr Einflussgebiet betrachtete, kollidierten die Habsburger Interessen sowohl mit denen Russlands wie denen des Osmanischen Reichs. Zwar waren im Südosten mit Moldavia, der Walachei und Serbien Pufferstaaten entstanden, doch die Konflikte vor allem mit Serbien und den auf dem Balkan um mehr Einfluss bemühten Russen sollten 1914 mit der Ermordung des Habsburgischen Kronprinzen durch einen serbischen Terroristen jenen Funken zünden, der das Ende der europäischen Weltherrschaft einläuten sollte.

Russland

Das russische Zarenreich hatte sich im 19. Jahrhundert schwer getan, den politisch-gesellschaftlichen Anschluss an die Ideen der westeuropäischen Staaten zu finden. Obgleich auch in Russland der industrielle Fortschritt nach einer Überwindung der klassischen Ordnung strebte, tat sich das Zarenreich der Romanows schwer damit, bürgerlichen und sozialen Erneuerungsbestrebungen gerecht zu werden. So kam es auch angesichts außenpolitischer Rückschläge 1905 zur Revolution, die jedoch vom zaristischen System mit Waffengewalt unterdrückt wurde. Erst 1917 sollte der Zusammenbruch der Zarenherrschaft über eine kurze Phase bürgerlicher Republik zur Machtusurpation durch die Marxisten unter Lenin führen.

Außenpolitisch strebte Russland, nachdem es sich mit der Übernahme Finnlands (1809), des Baltikums (1714) und Ostpolens (1795) bereits deutlich nach Westen erweitert hatte und zur Ostseemacht geworden war, weiterhin nach einem unmittelbaren Zugang zu Atlantik und Mittelmeer. Befördert durch den Russisch-Orthodoxen Klerus sah es in den bis 1867 vom osmanischen Reich dominierten Serben ein slawisches „Brudervolk“ mit einer nationalistisch-emotionalen Bindung, die jenseits rationaler Überlegungen die russische Politik bestimmen konnte. Daraus ebenso wie aus dem Streben an das Mittelmeer resultierte jene beständige, geopolitische Konkurrenz zu habsburgischen Interessen vor allem auf dem Balkan.

Traditionell richtete sich russische Politik gegen das islamisch geprägte, Großtürkische Reich entlang seiner Südwestgrenze, dessen Einfluss bis weit in den russischen Kaukasus reichte.

Im Osten des größten, zusammenhängenden Kolonialreichs der Erde strebte Russland nach Erweiterung der von ihm beherrschten Territorien nach Süden, wodurch es mit dem kolonialen Konkurrenten Japan in Konflikt geriet und 1905 sowohl auf See (Tsushima) und an Land (Mukden) die mit größten Niederlagen seiner Geschichte hatte hinnehmen müssen.

Verspätete Nationen?

Gern wird im Rückblick auf die europäische Situation des jungen 20. Jahrhundert von Deutschland als „verspäteter Nation“ gesprochen. Tatsächlich allerdings führt diese Bezeichnung an der Sachlage vorbei. Denn während die angeblich „frühen“ Nationen England und Frankreich ihren Nationalstaat maßgeblich auf monarchistischem Zentralismus begründeten und zwecks Gebietserweiterung die Territorien anderer Staaten oder Volksidentitäten annektierten, entstand in den deutschen Ländern nach Napoleon tatsächlich ein deutsch-nationaler Volkspatriotismus, der bis 1920 auch die Deutsch-Österreicher ergriff. Während Schotten und Iren sich niemals als „Briten“ fühlten und Korsen wie Bretonen der Pariser Zentralstaat weitgehend fremd blieb, organisierte der deutsche Föderalismus nach 1871 tatsächlich eine deutsche Identität, unterhalb derer die regionale nicht erdrückt oder zwangsunterworfen wurde: Das Reich der Deutschen war insofern nicht nur in seiner Verfassung demokratisch – es fußte trotz regionaler, in der Bundesstaatskonstruktion berücksichtigter Unterschiede auch auf dem demokratischen Willen der deutlichem Mehrheit seiner Bürger.

Das wiederum unterscheidet das Reich maßgeblich selbst vom italienischen Nationalstaat, dessen Nationalbewusstsein im 19. Jahrhundert eine weitestgehend auf die intellektuellen Eliten beschränkte Idee blieb.

Schauen wir, nachdem wir einen Blick auf die Staaten am Vorabend des „Europäischen Völkerkrieges“ von 1914/17 geworfen haben, nun auf die möglichen Gewinne, die ein Konflikt der europäischen Nationen und Staaten den einzelnen Beteiligten bringen konnte.

IV. Vom Nutzen des Krieges

Frankreich – zwischen Paranoia und Revanchismus

Frankreich war es vorrangig darum zu tun, seine frühneuzeitlichen Gebietsgewinne westlich des Rheins zurückzuholen und am Mittelmeer abzusichern. Gleichzeitig blickte es vor allem aus wirtschaftlichen Gründen auf die Kohleregionen der Deutschen: Das Saarland als ebenfalls linksrheinisches Gebiet, aber auch das rechtsrheinische Ruhrgebiet würden das wirtschaftlich abgehängte Frankreich wieder an eine Weltspitzenposition bringen können. Unabhängig davon galt die Maxime, dass alles, was Deutschland wirtschaftlich schwächen würde, Frankreich stärken müsste. Diese Auffassung verstärkte die Motivation, die als Bedrohung empfundene Stahl- und Rüstungsproduktion durch den Entzug der Bergbau- und Industriegebiete im Saarland und an der Ruhr, aber auch in Oberschlesien zu schwächen.

Gleichzeitig strebten die Franzosen nach einem möglichst komplexen Französisch-Westafrika. Hier standen neben Marokko vorrangig die deutschen Schutzgebiete Togo und Kamerun im Focus.

Die Schwerpunktlegung der Rüstung auf die Landstreitkräfte ebenso wie der Ausbau der „Barrière de fer“ („Eiserne Barriere“) an der neuen Grenze zu Deutschland machen deutlich, dass Frankreich vor allem einen Angriffs- oder Präventivkrieg des Reichs befürchtete. Dieses ist angesichts der Erfahrungen von 1870/71 insofern nachvollziehbar, als die deutschen Armeen seinerzeit mit ihrem Gegenangriff tief in das französische Kernland vorstoßen konnten. Die Tatsache, dass Deutschlands territoriale Ansprüche gegenüber Frankreich mit der Rückübertragung der historischen, überwiegend deutschsprachigen Reichslande Elsass und Lothringen befriedigt waren, wurde von Frankreich nicht zur Kenntnis genommen.

Wie gegenüber Italien empfand Frankreich seine territorialen Eroberungen und Zugewinne als legitime Bestandteile seines Staates. Daran änderte weder die Tatsache etwas, dass gegenüber dem HRR die Verträge von Verdun des Jahres 843 einseitig gebrochen und die Eroberungen mit militärischer Intervention durchgesetzt worden waren, noch dass der „Vorfriede von Versailles“ und der „Frieden von Frankfurt“ 1871 diese Gebietsrückgaben völkerrechtlich verbindlich festgeschrieben hatte.

UK – Angst vor dem wirtschaftlichen Niedergang

Die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs befand sich seit seiner weltdominierenden Stellung zur Mitte des 19. Jahrhunderts in einem kontinuierlichen Niedergang. Wesentliche Standbeine waren Anfang des 20. Jahrhunderts der Handel mit den eigenen Kolonien sowie das Welttransportmonopol nebst Finanz- und Versicherungswirtschaft mit Sitz in London. Das Hauptaugenmerk des britischen Imperiums gegenüber Deutschland lag daher sowohl darauf, dessen koloniale Bestrebungen zu unterbinden, als auch die von einer unabhängigen, durch leistungsfähige Seestreitkräfte und Bunkerstationen abgesicherten Handelsmarine ausgehende Konkurrenz auszuschalten. Gleichzeitig war ihm darum zu tun, die qualitativ hochwertigeren Produkte der Deutschen soweit möglich aus dem Welthandel zu entfernen in der Hoffnung, dass so die Nachfrage nach britischen Gütern zu steigern und damit die immensen Außenhandelsdefizite abzubauen wären. Im Mittleren Osten strebte das Königreich die Übernahme der Bagdadbahn nebst Landnahme osmanisch beherrschter Territorien an Mittelmeer und Golf an, um so langfristig die Landverbindung zwischen Ägypten und Indien zu erreichen.

Italien auf dem Weg zum Römisch-Venezianischen Reich

Für Italien war das Risorgimento zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen. Nationale Politiker strebten sowohl die Rückholung der Grafschaft Nizza, die Brennergrenze als auch die Dominanz über die Adria an. Im östlichen Mittelmeer wurde der Blick auf die ehedem venezianischen Besitzungen geworfen, an der Nordküste Afrikas von der Wiederherstellung des antiken Römischen Reichs geträumt. Das Nationalprestige forderte darüber hinaus die Errichtung von weltweit platzierten Kolonien ein – ein Unterfangen, bei dem Italien regelmäßig mit den Interessen der bereits etablierten „Platzhirsche“ kollidierte.

Der italienische Nationalstaat hatte insofern keinen Mangel an potentiellen Gegnern:  Im Westen die Franzosen, im Norden und Osten die K.u.K-Monarchie, im Mittelmeer die Osmanen und wiederum die Franzosen, welche neben dem Vereinigten Königreich und den USA auch zu den Hauptkonkurrenten bei seinen kolonialen Ambitionen gehörte. In dieser Situation war es trotz der ungelösten Konflikte mit Österreich bereits 1879 zum Beitritt Italiens zum „Dreibund“ mit Deutschland und Habsburg gekommen. Nach Ausbruch des Krieges 1914 jedoch scherte das anfangs neutrale Italien aus diesem Defensivbündnis aus und stellte sich, verbunden mit der Verpflichtung des Kriegseintritts gegen die früheren Vertragspartner, mit dem am 26. April 1915 geheim geschlossenen „Londoner Vertrag“ an die Seite der Alliierten. Hierdurch band es vor allem Habsburgische Einheiten in der Alpenfront, was zu einer Schwächung der Kräfte gegen Russland führte.

Zugesprochen wurden den Italienerin in diesem Vertrag weite Teile der dalmatinischen Küste nebst Triest/Istrien, das Trentino und Südtirol sowie die kleinasiatische Region der Pamphylen um das osmanische Antalya. Garantiert wurde der bestehende Besitz der Ägäis-Inseln und Libyens.

Russland als slawische Schutzmacht

Für das russische Zarenreich stand die Möglichkeit der Erweiterung an Adria und Mittelmeer im Vordergrund. So wurde die Habsburger Kriegsdrohung gegen das als slawische Brudernation empfundene Serbien nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo Anlass, die eigenen Balkan-Ambitionen unter dem Schlagwort des Panslawismus durchzusetzen. In der konkreten Kriegssituation gegen die Mittelmächte, denen sich Bulgarien und das Osmanische Reich angeschlossen hatten, bot sich weiterhin die Möglichkeit, den Einfluss auf das Schwarze Meer und im Kaukasus auszudehnen und damit die Vision eines unmittelbaren Mittelmeerzugangs zu erreichen.

Die Anfangserfolge gegen das Deutsche Reich schienen parallel dazu die Erweiterung nach Westen – Ostpreußen und das preußische Westpolen – in greifbare Nähe zu rücken.

Deutschland – in naiver Selbstüberschätzung in den Krieg

Das Deutsche Reich war 1914 das einzige europäische Land, dem bei Kriegsausbruch keine tatsächlichen Kriegsziele imperialer Natur zuzuweisen sind. Weder gab es zu diesem Zeitpunkt Bestrebungen, das europäische Territorium auszuweiten, noch konnte ein internationaler Krieg der mittlerweile überseeisch orientierten Wirtschaft und Exportindustrie tatsächlichen Nutzen bringen. Auch territoriale Erweiterungen der kolonialen Gebiete durch kriegerische Auseinandersetzungen mit den europäischen und amerikanischen Konkurrenten standen zu keinem Zeitpunkt auf der Agenda deutscher Politik.

Dennoch wurde die deutsche Demokratie durch seine ebenfalls irrationale, nationale Bindung an die deutschen Österreicher umgehend zu einem Hauptakteur beim Ausbruch der europäischen Selbstvernichtung. Als die Bemühungen des Deutschen Kaisers, zwischen den Häusern Habsburg-Lothringen und Romanow zu vermitteln, auch deshalb scheiterten, weil das Reich über seinen Kanzler Theobald von Bethmann-Hollweg den Österreichern am 6. Juli 1914 quasi bedingungslose „Treue“ im anstehenden Krieg gegen Serbien als „Angelpunkt des Panslawismus“ (so Kaiser Franz-Josef am 2. Juli gegenüber dem Deutschen Kaiser) zugesichert hatte, mobilisierte der Zar in der zweiten Juli-Hälfte seine Armee sowohl in der Ostsee als auch an den Grenzen zum Deutschen Reich bereits, bevor die K.u.K-Monarchie Serbien am 28. Juli den Krieg erklärte. Das wiederum ließ die Mobilmachung Deutschlands unvermeidlich werden.

Tatsächlich hatte das Deutsche Militär als Konsequenz aus dem Kriegsverlauf von 1870/71 und in Erwartung eines irgendwann unvermeidlichen, weiteren Landkriegs gegen den auf Revanche bedachten, westlichen Nachbarn Stabspläne eines Präventivkriegs gegen Frankreich entwickelt. Diese Planungen waren den Franzosen ebenso bekannt wie der sogenannte Schlieffen-Plan, der die Umgehung der französischen Forts durch den Bruch der belgischen Neutralität vorsah. Die Überlegungen der deutschen Militärführung basierten maßgeblich auf einer Einschätzung, die – wie die Geschichte zeigen sollte, zurecht – das Reich durch die Tripple-Entente von Briten, Franzosen und Russen eingekreist sah und darauf drängte, im Ernstfall die Franzosen, die man am ehesten zu überwinden meinte, in einem kurzen Krieg aus dem Rennen zu nehmen.

Wie wenig das Reich in diesem Jahr 1914 auf einen Krieg vorbereitet war, zeigt sich exemplarisch an der Situation in den deutschen Kolonien. Militärisch völlig unterbesetzt, da Deutschland auf die Vereinbarungen der Kongo-Konferenz von 1885 vertraute, wonach sich alle Kolonialstaaten zur friedlichen Lösung möglicher Konflikte in den Kolonien verpflichteten, konnten sie den einfallenden Truppen der Entente wenig entgegensetzen. Togo, Kiautschou und die ozeanischen Gebiete waren Ende 1914 von Engländer, Franzosen und Japanern besetzt. Die 5.000 Mann starke Schutztruppe in Deutsch-Südwest kapitulierte nach heftigem Widerstand im Juli 1915 gegenüber einer zehnmal stärkeren, britisch-südafrikanischen Interventionsarmee. Im Februar 1916 zogen sich die Deutschen angesichts einer Übermacht von 19.000 Soldaten und 24 Kriegsschiffen aus Kamerun in das benachbarte Rio Muni (Äquatorial-Guinea) und damit unter spanische Neutralität zurück. Lediglich in Deutsch-Neuguinea unter Hauptmann Hermann Detzner und in Deutsch-Ostafrika mit Oberstleutnant Paul von Lettow-Vorbeck an der Spitze seiner schwarzafrikanischen Soldaten führten die Deutschen einen erbitterten Guerillakrieg gegen die Briten, legten die Waffen erst nach Kriegsende nieder.

Auf dem europäischen Kriegsschauplatz bissen sich die Kontrahenten in einem massenmörderischen Zermürbungskrieg fest. Als am 6. April 1917 die Vereinigten Staaten an der Seite der Entente in den Krieg eintraten, waren die Machtverhältnisse zu Lasten der Mittelmächte entscheidend verändert. Nachdem im Herbst 1918 das Habsburger Reich zerfallen war, akzeptierte das Reich am 11. November angesichts der Unmöglichkeit, die Kämpfe fortsetzen zu können, die Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten.

Der Versuch der Vernichtung Deutschlands

Mit dem aufgezwungenen Vertrag von Versailles setzten das Vereinigte Königreich und Frankreich 1920 ihre gegen die deutsche Konkurrenz gerichteten Interessen umfassend durch. Elsass und Lothringen wurden ohne Volksabstimmung erneut von Frankreich annektiert, das Saarland ebenso wie das Ruhrgebiet – die beiden westdeutschen Schwerpunkte der Industrie – besetzt beziehungsweise wirtschaftlich durch Frankreich ausgebeutet. Auf massives Drängen Frankreich ging das ostdeutsche Industriezentrum Oberschlesiens nach einer Volksabstimmung, die bei einer Wahlbeteiligung von 97,5 Prozent einen Zuspruch von 59,4 % für den Verbleib im Deutschen Reich erbracht hatte, an Polen. Frankreichs wichtigste Kriegsziele – erneute Übernahme der Eroberungen des Ancient Regime sowie die nachhaltige Zerstörung der deutschen Wirtschaftskraft, schienen erreicht.

Seine Überseeischen Gebiete musste das Reich vollständig abtreten, die Kriegsflotte nach Scapa Flow überführen, wo sie den Engländern übergeben werden sollte, jedoch vor Übergabe durch die Besatzungen versenkt wurde. Gleichzeitig wurde Deutschland gezwungen, den Großteil seiner Handelsflotte an die Alliierten auszuliefern. Damit hatte auch das Vereinigte Königreich seine beiden wichtigsten Kriegsziele durchgesetzt: Die als Bedrohung der britischen Seemacht empfundene deutschen Marine war ebenso ausgeschaltet wie die Konkurrenz im Weltwarentransport. Der Wegfall der kolonialen Häfen sollte ein weiteres dazu beitragen, die wichtigsten, britischen Einnahmequellen dauerhaft vor entsprechenden Ambitionen der Deutschen zu schützen.

Um die bis 1913 neben den USA zur führenden Welthandelsnation aufgestiegene deutsche Konkurrenz nachhaltig klein zu halten, wurden dem Reich unter Androhung von militärischer Intervention im Mai 1921 Reparationsverpflichtungen in Höhe von 132 Milliarden Goldmark im damaligen Gegenwert von rund 47.000 Tonnen Gold auferlegt, zahlbar in Jahresraten in Höhe von 2 Milliarden bis zum Jahr 1987. Im Vertrag von Versailles war noch von einer Summe in Höhe von 20 Milliarden Goldmark, zahlbar in drei Raten von 1919 bis 1921, die Rede gewesen.  Das entspricht nach heutigen Kursen rund 1.680.555,4 Millionen (oder 1,68 Billionen) Euro und damit ungefähr dem sechsfachen des aktuellen Bundeshaushalts.

Zusätzlich wurde der Weimarer Republik auferlegt, 26 Prozent des Wertes seiner Ausfuhren an die Alliierten abzutreten.

Begründet wurden diese immensen Forderungen mit dem im Versailler Vertrag erzwungenen Artikel 123, wonach Deutschland anerkannte, gemeinsam mit seinen Verbündeten einen Angriffskrieg geführt zu haben und damit als Urheber des Krieges die Alleinschuld an allen Verlusten und Schäden zu tragen habe, „die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges erlitten haben“.

Diese einseitige Kriegsschuldlegende, die sich in manchen Kreisen bis heute hält, legte neben dem erzwungenen, wirtschaftlichen Niedergang des Reichs maßgeblich die Grundlage für den Aufstieg der nationalen Sozialisten und die Diktatur Hitlers in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts.