Tichys Einblick
Parteienstaat statt Bürgerstaat

Die Wahlrechtsänderung – nieder mit dem Bürgermandat

Jetzt also liegt ein Entwurf vor, der statt der ursprünglich angestrebten 598 Sitze nun 630 Bundestagssitze auffüllen soll. Und – womit der Verfassungswille von 1949 nun abschließend ausgehebelt wird – er bevorzugt die Parteien-Nomenklatura.

Bundestagssitzung am 2. März 2023

IMAGO / Metodi Popow

Vorab: Um eine „Wahlrechtreform“ ging es nie. Hier soll nichts reformiert, also auf seinen ursprünglichen Zustand gebracht werden. Hier soll lediglich dafür gesorgt werden, dass die Irrungen und Wirrungen, die das inkompatible Mischwahlrecht der Bundesrepublik Deutschland mit sich bringt, ein wenig entkrampft werden. Also hatte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber (laut Bundesverfassung immer noch das Parlament und nicht die Regierung) aufgefordert, aktiv zu werden. Zuletzt 736 Abgeordnete für ein 80 Millionen-Volk – dass war dann doch zu viel. Doch die fälschlich „Reform“ genannte Neukonstruktion zog sich – und das aus gutem Grund. Denn längst ist der als Bürgerparlament geplante Bundestag zu einem Parteienparlament verkommen. Damit das auch so bleibt – denn immerhin hängen daran nicht nur zahlreiche Abgeordnete, die vom Bürger niemals gewählt worden waren, sondern auch umfangreiche Mitarbeiterstäbe und finanzielle Vorteile der Parteien – musste ein Weg gefunden werden, der bei aller unvermeidbaren Verkleinerung doch genug Mandate übrig ließ, damit die Parteisoldaten bedient werden konnten.

Nun also soll es so weit sein. Die RG2-Koalition soll sich nach harten, intensiven Auseinandersetzungen nun doch auf einen gemeinsamen Entwurf geeinigt haben – was deshalb schwierig war, weil traditionell allein schon die FDP bei einem echten Bürgerparlament mit null Sitzen nach Hause gehen müsste. Die Transformationsbewegung mit der Bezeichnung „Bündnis 90 / Grüne“ steht vor ähnlichen Problemen, auch wenn sie mittlerweile der roten Konkurrenz manch Direktmandat hat abspenstig machen können. Zwar gelang es der Bewegung bei den letzten Bundestagswahlen, immerhin 16 Wahlkreise mit relativer Mehrheit für sich zu entscheiden, doch das mag, so die dortigen Befürchtungen, trotz der entsprechenden Milieus keine Garantie für die Zukunft sein. Also stand für die Parteien stets im Vordergrund, möglichst viele, vom Bürger nicht gewählte Listenkandidaten in den Bundestag zu bringen.

630 statt 598 Sitze

Jetzt also liegt ein Entwurf vor, der statt der ursprünglich angestrebten 598 Sitze nun 630 Bundestagssitze auffüllen soll. Und – womit der Verfassungswille von 1949 nun abschließend ausgehebelt wird – er bevorzugt die Parteien-Nomenklatura. Wie ursprünglich gedacht, sollen eigentlich 299 Bundestagsabgeordnete über Direktwahlkreise in den Bundestag einziehen. Bei diesem Wahlgang bleibt es jedoch bei der Fehlkonstruktion der relativen Mehrheit, will sagen: Ein Abgeordneter, der es gerade einmal auf schlappe 20 Prozent der gültigen Stimmen bringt, zieht dennoch in den Bundestag ein, wenn jeder seiner Konkurrenten bei 20 minus x gelandet ist. Bei einer mittlerweile üblichen Wahlverweigerung von 30 Prozent heißt das: Selbst jemand, dem gerade einmal 14 Prozent der wahlberechtigten Bürger das Vertrauen ausgesprochen haben, darf dann so tun, als vertrete er eine Mehrheit der Bürger in seinem Wahlkreis. Doch das einzig sinnvolle Verfahren, den Einzug in den Bundestag an eine absolute Mehrheit zu binden und dann bei Bedarf eben auch zwei Wahlgänge durchzuführen, scheint den Pseudo-Reformern dann doch zu viel des Aufwands gewesen zu sein. Und wenn wir ehrlich sind: Sie haben recht. Denn diese Wahlkreiskandidaten sind ohnehin nur noch Alibifunktion für die allmächtigen Parteiapparate.

Damit diese ihre verdienten Studienabbrecher und NGO-Aktivisten künftig auf jeden Fall in den Bundestag bringen, sollen künftig 331 Mandate über die ausschließlich von den Parteien bestimmten Landeslisten vergeben werden. Was einerseits bedeutet, dass sogenannte Kanzlerkandidaten weiterhin eine Farce und Volksverdummung bleiben, da solche nur auf einer einzigen Landesliste zu finden sind, andererseits aber die oberen Parteiebenen in den Landesverbänden sich ihren Karriereweg nicht verbauen. Klar ist damit auch: Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich vom Bürger direkt gewählte Abgeordnete tatsächlich als Vertreter der Bürger- und nicht der Parteiinteressen verstehen sollten – im Bundestag hätten sie selbst dann, wenn sich alle maximal 299 Bürgervertreter dieser ihrer Aufgabe besännen, null Chancen, die Bürgerinteressen gegen die Parteiinteressen durchzusetzen. Und um das Ganze rund zu machen, dürfen die direkt gewählten Bürgervertreter künftig sogar von vornherein aus dem Bundestag gekegelt werden, wenn von ihnen mehr Kandidaten gewählt worden sein sollten, als der sie stellenden Partei nach dem Verhältniswahlrecht der abgegebenen Zweitstimmen zusteht. Dann heißt es: Den oder die Letzten beißen die Hunde! Gewählt und doch nicht gewählt. Konkret geht das gezielt gegen die Union, die traditionell (noch) eine deutliche Mehrzahl der Wahlkreise gewinnen konnte.

Der Direktwahlkandidat, der tatsächlich auf das Vertrauen seiner Bürger setzen kann, wäre insofern künftig gut beraten, als Parteiloser anzutreten. Im realen Ergebnis wird diese Regelung jedoch dazu führen, dass die Unsitte der „Absicherung“ des Direktmandats über die Landesliste noch intensiver genutzt wird. Da nur die wenigsten Wahlkreise tatsächlich „sicher“ sind, werden die dort Antretenden auch weiterhin treue Parteisoldaten sein. Weshalb man dann eigentlich doch so ehrlich hätte sein können, das Bürgermandat gänzlich aus der Welt zu schaffen. Aber so viel Ehrlichkeit zu erwarten, wäre vermutlich zu viel verlangt. 

Diese Degradierung des Direktmandats zum Behelfsmandat soll nun dazu führen, den Unsinn der Überhang- und Ausgleichmandate unter den Tisch fallen zu lassen. Diese waren im Namen einer sogenannten Gerechtigkeit zuletzt ein Faktor, um den Bundestag zur Unendlichkeit aufzublähen. Wer nun allerdings wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer meint, dadurch könne die Stimme eines sächsischen Wählers vielleicht weniger Gewicht haben als die eines hessischen (oder auch umgekehrt), liegt auf der richtigen Spur. Dieses zu gewährleisten wäre aber ohnehin nur über eine einzige Bundesliste pro Partei möglich und dabei auf die Direktwahlkreise gänzlich zu verzichten. Damit allerdings wäre der Bürgerstaat dann abschließend und unwiederbringlich zum Parteienstaat mutiert. Im Übrigen mögen potentielle Kritiker sich an die ebenfalls als „demokratisch“ behaupteten Wahlen zum EU-Parlament erinnern. Dort hat die Stimme eines deutschen Wählers bereits in der Basiskonstruktion deutlich weniger Gewicht als die eines Portugiesen oder Maltesers.

Nur der Wegfall des Grundmandats macht Sinn

Das einzig tatsächlich vernünftige Neuregelung, zu der sich die RG2-Unterhändler nun haben durchringen können, ist der Wegfall der sogenannten Grundmandatsklausel. Diese absurde Regelung besagt, dass die Fünf-Prozent-Sperrklausel dann außer Kraft gesetzt wird, wenn eine Partei bei den Wahlen trotz entsprechender Verfehlung des Wahlziels drei oder mehr Direktmandate erhält. Nutznießer waren in der Vergangenheit immer wieder Parteien, die eigentlich kaum jemand im Bundestag sehen wollte, denen es jedoch gelungen war, mit einzelnen Persönlichkeiten eben jene drei Direktwahlkreise in relativer Mehrheit zusammen zu bekommen. 

Gegenwärtig dürfen sich 36 von 39 Abgeordneten der SED-PdL nebst umfangreichem Mitarbeiterstab vom deutschen Steuerzahler alimentieren lassen, obwohl ihre Partei bei den Wahlen 2021 mit unter fünf Prozent aus dem Bundestag geflogen war. Das ist umso absurder, weil zwei dieser drei „Grundmandate“ Ergebnis des Berliner Wahldesasters sind, welches zu Nachwahlen des Abgeordnetenhauses der Stadt Berlin führen musste, während sich der Bundestag um die ebenfalls unverzichtbare Neuwahl zumindest in Berlin herumzudrücken sucht. TE hat deshalb ein Verfahren eingeleitet, um den möglichen Wahlbetrug auch für den Bundestag zu heilen.

Mit dieser Regelung, die die Roten, Grünen und Gelben deswegen nichts kostet, weil sie entweder über genug Zweitstimmen verfügen oder – wie die FDP – ohnehin keine Chance auf Grundmandate haben, sind die SED-PdL-Kommunisten selbstverständlich nicht einverstanden. Folgerichtig schimpft Martin Schirdewan von der PdL bereits wie ein Rohrspatz – nachvollziehbar, müssten sich doch künftig mindestens 36 seiner verdienten Genossen nach einer geregelten Arbeit umsehen. Um diese einzige Sorge nun jedoch nicht zu deutlich blicken zu lassen, lenkt Schirdewan, der als Vizechef seiner Fraktion im EU-Parlament weich gefedert ist, fröhlich ab.

Statt sich mit der Abschaffung der undemokratischen Grundmandatsklausel abzufinden, fordert er nun „Parität, Absenkung des Wahlalters auf 16 und eine Ausweitung des Wahlrechts für alle Menschen, die in diesem Land leben“. Also sollen künftig der Qualitätskiller Quote, die Volljährigkeitsabsurdität und die Bedeutungslosigkeit der Staatsangehörigkeit im Vordergrund der Wahlen stehen. Schirdewan, der ewig Gestrige, der immer noch nicht begriffen hat, dass sein einheitssozialistischer Marxismus gescheitert und jedwedes ähnliche Experiment in der Zukunft ebenfalls zum Scheitern verurteilt ist, nennt diesen Katalog der Wahl-Absurditäten dann sogar „Fortschrittskoalition“.

Wie gut, dass sich Wörter nicht gegen ihren Missbrauch wehren können, denn mit „Fortschritt“ hat weder die Ideensammlung des Euro-Kommunisten noch die sogenannte Wahlrechtsreform irgendetwas zu tun. Wobei – um auch das an dieser Stelle nicht unter den Tisch fallen zu lassen – die Hoffnung darauf, dass die Merzel-Union irgendetwas produktives zu der Debatte beitragen wird, ebenfalls illusorisch ist. Schließlich gilt auch bei der einstmals bürgerlichen Partei mittlerweile das Primat der Partei-Elite, weshalb sie bereits in der Vergangenheit eine Reduzierung der Wahlkreise auf 270 gefordert hatte. Auch hier gilt also: Warum nicht gleich so ehrlich sein und die Abschaffung dieses Direktwahlmandats als Relikt einer angeblich reaktionären Bürgerdemokratie fordern? Dann wüsste der Wahlbürger wenigstens, dass diese angebliche Demokratie längst zu einer Parteien-Oligarchie mutiert ist, und müsste sich nicht länger mit scheindemokratischen Verrenkungen die Augen verkleistern lassen.


In eigener Sache: Roland Tichy, Herausgeber von TE, hat eine Initiative gegründet, um die Wiederholung der Bundestagswahl in allen Berliner Bezirken einzuklagen. Die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wird von Verfassungsrechtler Ulrich Vosgerau im Namen von zwei Tichys-Einblick-Lesern geführt. Die Finanzierung hat „Atlas – Initiative für Recht und Freiheit“ übernommen.

Die von TE eingereichte Wahlprüfungsbeschwerde ist dem Bundesverfassungsgericht am 5. Januar per Fax und am 7. Januar per Brief zugegangen. Am Donnerstag, dem 26. Januar, hat das Gericht den fristgerechten Eingang bestätigt und der Beschwerde ein Aktenzeichen (2 BvC 15/23) gegeben.

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