Tichys Einblick
Teil 2 von 7

Die Verfassung als Gesellschaftsvertrag

Vor 70 Jahren verfasste der Parlamentarische Rat auf dem Boden des untergegangenen Deutschen Reichs ein Grundgesetz, welches von den Protektoratsmächten abgesegnet wurde. Seitdem gilt dieses Grundgesetz den westdeutschen und seit 1990 auch den ostdeutschen Bundesländern als gemeinsame Verfassung. Doch worum handelt es sich dabei tatsächlich?

Grundgesetz

imago images / Schöning

Wir haben uns in der Neuzeit so sehr an diesen Begriff gewöhnt, dass wir ihn kaum noch reflektieren: Verfassung. Doch um was handelt es sich bei einer Verfassung eigentlich? Es ist ganz offensichtlich etwas Menschengemachtes – und dadurch unterscheidet es sich bereits grundlegend von vorgeblich göttlichen Geboten. Und so kann es durchaus sein, dass manch einer eine Verfassung bezweifelt – während der Verfassungsanhänger mit dem göttlichen Gebot nichts anzufangen weiß.

Verfassungen – so besagt es der Begriff – sollen die Verfasstheit einer Sache beschreiben. Im Staatsrecht ist diese Sache zumeist eben dieser Staat als Gemeinschaft unterschiedlichster Individuen, die auf vergleichsweise engem Raum miteinander leben müssen und sich zumeist in irgendeiner Weise einer gemeinsamen Identität angehörig fühlen. Verfassungen geben insofern Auskunft darüber, wie dieses Gemeinwesen verfasst ist – welche grundlegenden Regeln und Bedingungen gelten oder zumindest gelten sollen. Eine Verfassung gilt insofern auch als das Basisrecht eines Gemeinwesens – weshalb für die nach wie vor provisorische deutsche der Begriff des Grundgesetzes gewählt wurde.

Wie jedes Recht ist auch dieses Grundrecht in seinem juristischen Kern nichts anderes als ein Vertrag mit dem Charakter einer Satzung. Als solcher ist es ihre Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass sich die unter ihrer Wirkkraft lebenden Bürger im wahrsten Sinne des Wortes vertragen. Ziel ist es daher in allererster Linie, einen Organisationsrahmen zu schaffen, der genau dieses Vertragen der Bürger untereinander im Sinne von Satzungsbestimmungen bewirkt.

Satzungen und Verträge allerdings beruhen nicht zwangsläufig auf der Gleichberechtigung der Vertragsparteien. Es kann aufgezwungene Verträge geben – und so gab es Königsverfassungen ebenso, wie es in einigen Gemeinwesen Gottesverfassungen gibt. Beim Westeuropäer jedoch hat sich als Folge der Gedanken der Aufklärung ein solches Verfassungsverständnis herausgebildet, welches ein oktroyiertes Vertragswerk in seinem Kern nicht als Verfassung versteht. Vielmehr gilt dem Westeuropäer als Verfassung etwas, an dessen Inhalten er selbst aktiv hat mitwirken und an dessen Rechtskrafterlangung er durch Zustimmung oder Ablehnung Anteil hatte.

Hinsichtlich der Satzung bemerkte beispielsweise Max Weber, „die ganz überwiegende Mehrzahl aller Satzungen sowohl von Anstalten wie von Vereinen ist dem Ursprung nach nicht vereinbart, sondern oktroyiert, das heißt: von Menschen und Menschengruppen, welche aus irgendwelchem Grunde faktisch das Gemeinschaftshandeln nach ihrem Willen zu beeinflussen vermochten, diesem auf Grund von ‚Einverständniserwartung‘ auferlegt“.

Teil 1 von 7
Die wehrhafte Demokratie und der Radikalenerlass
Tatsächlich trifft diese Beschreibung auf das bundesdeutsche Grundgesetz als Satzung des Gemeinwesens in perfekter Weise zu. Zwar durften die Herrschaften des Parlamentarischen Rats ein eigenes Gesetzeswerk entwickeln, doch oblag es eben jenen drei Protektoratsmächten, das daraus entstandene Produkt zu akzeptieren oder abzulehnen. Das Grundgesetz als provisorischer Verfassungsersatz ist – da nicht auf einem selbstbestimmten, souveränen verfassunggebenden Akt beruhend – bis heute letztlich eine Protektoratsverfassung.
Sich dieser Problematik bewusst, schrieben die deutschen Räte in Abstimmung mit den Protektoratsmächten in den Artikel 146:

„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Da jener verfassunggebende Akt bis auf den heutigen Tag nicht stattgefunden hat, ist zu konstatieren, dass die Bundesrepublik auch in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts und damit über siebzig Jahre nach dem Ende des Deutschen Reichs über keine Verfassung verfügt. Da unter dieser Tatsache die Frage beispielsweise nach der Notwendigkeit eines Verfassungsschutzes eine zwangsläufige wäre, haben sich die Bundesgesetzgeber mit einer Hilfsklausel beholfen. Dieser zufolge ist das Grundgesetz tatsächlich keine Verfassung – denn gemäß Art 146 kann es dieses nicht sein – es hat jedoch Verfassungscharakter. Das wiederum bedeutet, dass es eigentlich eine Verfassung ist ohne eine Verfassung zu sein. Womit nun wiederum Verfassungsschutz und Verfassungsgericht sich als Institutionen mit Verfassungsbindung verstehen, gleichwohl aber letztlich nichts anderes als Gralshüter einer Staatssatzung sind.

Folgewirkung der Weimarer Verfassung

In diesem Zusammenhang durchaus spannend ist die Frage, wie sich grundgesetzlicher Verfassungsanspruch und das Narrativ des fortbestehenden Deutschen Reichs miteinander vereinbaren lassen. Tatsächlich berufen sich die Verfechter des Reichsfortbestandes gern auf die sogenannte Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945, welche eben diesen Fortbestand festschreibe. Tatsächlich jedoch stellt die Erklärung der Siegermächte fest, dass es auf deutschem Boden weder eine Zentralgewalt gäbe (die legitime Reichsregierung war zwischenzeitlich von den Alliierten abgesetzt und verhaftet worden), noch Behörden existierten, die in der Lage seien, das Land zu verwalten und als Gesprächspartner der alliierten Siegermächte hätte dienen können. Das letztlich kongruente Handeln der Siegermächte mit Blick auf die Gründungscharta des Kriegsbündnisses Vereinte Nationen bewirkt über die normative Kraft des Faktischen, dass der Untergang des Reichs und die Einrichtung von vier Protektoraten sowie die Zwangsabtretung von Reichsterritorien an Drittmächte unabdingbar wurde.

Stünde die Bundesrepublik tatsächlich nicht nur in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches und wäre damit eine Staatsneugründung auf dem Boden des früheren Reiches, sondern verkörperte, wie vom Verfassungsgericht vertreten, den Fortbestand des Reichs, so stellte sich beispielsweise die Frage, ob nicht unabhängig von Grundgesetz als bekundete Nicht-Verfassung jene Weimarer Verfassungsversion nach wie vor als die tatsächliche Staatsverfassung zu gelten hätte, da diese anders als das Grundgesetz in einem souveränen, verfassunggebenden Akt beschlossen wurde. In diesem Falle wäre das Grundgesetzprovisorium also tatsächlich eine einer Ausnahmesituation geschuldete, vorläufige Satzung auf der Grundlage eines nach wie vor bestehenden Staatsvertrages – und Verfassungsgericht wie auch Verfassungsschutz hätten sich folglich vorrangig an der Weimarer Verfassung zu orientieren.

1945, genau betrachtet
Vom Untergang des Deutschen Reichs
Tatsächlich jedoch ist eine solche Debatte unnötig, da faktisch durch das Vorgehen und in der Konsequenz alliierten Handelns bereits vor der bedingungslosen Kapitulation der Reichswehr das Ende des 1871 gegründeten Deutschen Reichs auf das Jahr 1945 festzulegen ist. Kriegsziel war es, die Bismarck‘sche Reichsgründung ungeschehen zu machen. Damit wiederum erklärt sich auch die Möglichkeit, durch eben jenen Parlamentarischen Rat, der über keine originäre demokratische Legitimation verfügte, da seine Zusammensetzung von den Länderparlamenten der Westprotektorate und nicht durch Urwahl durch die Bevölkerung bestimmt worden war, einen Grundgesetzvorschlag entwickeln zu lassen. Die Zustimmungsnotwendigkeit durch die drei westlichen Protektoratsmächte, die noch weniger über eine demokratische Legitimation durch die deutsche Bevölkerung verfügten, ist ebenfalls ausschließlich durch den Untergang des Deutschen Reichs und damit einhergehend den Bindungsverlust der Reichsverfassung von 1919 zu rechtfertigen.

In der Konsequenz des Protektoratsrechts steht insofern auch beispielsweise die Wahl des Bundespräsidenten, die im Widerspruch zur Reichsverfassung von 1919 über das Delegationsprinzip zuvor für andere Aufgaben gewählter Legislativorgane unter Ausschluss der Bürger erfolgt.

Der verfassunggebende Akt steht aus

Für das Grundgesetz gilt insofern jene Feststellung Webers umso mehr, dass es als Satzung des westdeutschen Klientelstaates von einer kleinen Minderheit dem Volk oktroyiert worden ist. Dadurch, dass die Volksvertretung als Parlament des Bundes bis heute keine Anstalten unternommen hat, an diesem Zustand des Provisoriums durch einen volksverfassungsgebenden Akt etwas zu ändern – diese Volksvertretung vielmehr so tut, als sei sie auch nach Vollendung der Bedingung des Artikels 146 einzig befugt, das Grundgesetz in seinem Sinne zu ändern, wird der provisorische Charakter der „Satzung“ aufrecht erhalten und ebenso der Charakter eines Elitenrechts manifestiert.

Im Sinne Webers kann die Zustimmung der Bürger bei Wahlen zugunsten jener Parteien, die unter Umgehung des Artikels 146 die Gestaltung und Interpretation des Grundgesetzes als ihr originäres Elitenrecht begreifen, die „Einverständniserwartung“ unterstellen. Sollten jedoch in einem demokratischen Prozess beispielweise Parteien eine parlamentarische Mehrheit bekommen, die sich auf die Fortwirkung der Verfassung von 1919 berufen und den provisorischen Charakter des 1949 gebilligten Grundgesetzes durch den Beitritt der Länder der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik nebst diesem selbst als überwunden deklarieren, so wäre die Einverständniserwartung obsolet und damit das Grundgesetz seinem Charakter nach als unwirksam zu beurteilen.

Eine andere Situation stellte sich, falls die das GG befürwortenden Parteien den verfassunggebenden Akt gemäß Art 146 vollzögen, indem sie beispielsweise den Wortlaut des Grundgesetzes zur öffentlichen Diskussion und zur Abstimmung durch den Souverän gemäß Artikel 20(2) GG stellten. Beispielsweise das Land Brandenburg tat dieses mit seiner Landesverfassung nach dem Beitritt der Länder der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik. Ein solcher verfassunggebender Akt eines dann de facto souveränen und verfassten Bundesstaates Bundesrepublik Deutschland wäre tatsächlich gleichbedeutend mit der Ablösung jeglichen Fortbestehensanspruchs der Verfassung von 1919.

Teile 3 bis 5 folgen im Abstand von wenigen Tagen.

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