Tichys Einblick
Die Siege seit Zar Peter verpokert

Die Nato wächst um Finnland und Schweden: Putins bislang größte Niederlage

Dann kam es doch ganz plötzlich … Erdogan gibt seinen Widerstand gegen den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands auf. Die Nato wird um zwei wichtige Partner stärker – und bekommt dafür eine knapp 1.400 Kilometer lange Grenze zum neuen alten Russland und die Hoheit über die Ostsee.

Finnlands Außenminister Pekka Haavisto, der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, Finlands Präsident Sauli Niinisto, Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und Schwedens Außenministerin Ann Linde vor dem Nato-Gipfel am 18.06.2022 in Madrid

IMAGO / UPI Photo

Kaum einer wollte noch damit rechnen, dass der Türke seinen innenpolitisch motivierten Widerstand gegen den Nato-Beitritt der Skandinavier aufgeben würde. Offiziell hielten sich die wichtigen Nato-Mächte – allen voran die USA – aus der Angelegenheit heraus. Weshalb am 28. Juni – unmittelbar vor dem Bankett des Spanischen Königs Filipe zu Ehren des anstehenden Nato-Gipfels – nur die Vertreter der beiden Beitrittswilligen, des Beitrittsverhinderers und der Nato-Generalsekretär zusammenkamen. Dann, fast zwischen Tür und Angel und sozusagen auf dem Sprung zum Bankett, eilends vor die Presse getreten und das schon nicht mehr Erwartete abgezeichnet und verkündet: Die Türkei – sprich Erdogan – unterstützt den Betritt der beiden Neuen. Ein entsprechendes Memorandum wurde öffentlich unterzeichnet – der Weg zur nächsten Nato-Erweiterung und damit zu einer bedeutsamen Neuordnung der Machtverhältnisse auf dem Kontinent ist frei.

Offiziell haben die Skandinavier den Begehren des Türken nachgegeben. Die türkischen Auslieferungsbegehren für Vertreter der Kurdenmilizen PKK und YPG sollen noch einmal überprüft werden. Was faktisch nichts ändern wird, weil die entsprechenden Verfahren bereits rechtsstaatlich abgeschlossen sind. Vor allem Schweden wird die YPG nicht mehr unterstützen – was aber auch nicht nötig ist, da diese Unterstützung ohnehin über den künftigen Nato-Partner USA läuft. Und dann wird Schweden das Waffenembargo gegen die Türkei aufheben. Nun gut – dann kann Ankara also jetzt einen Wunschzettel an die schwedischen Waffenschmieden schicken – und dann schau‘n wir mal.

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Offiziell kann sich Erdogan also wieder einmal auf die Schulter klopfen. Hat er doch der Nato und den Nordeuropäern nun seinen Willen aufgezwungen. Das, so hofft er, wird ihm etwas mehr Zustimmung bei seinen Landsleuten einbringen. Und die hat er auch bitter nötig, denn angesichts der staatlich forcierten Vermögensvernichtung in der Türkei nimmt die Begeisterung für den Muslimbruder täglich ab. Der allerdings muss sich nach Stand der Dinge im kommenden Jahr dem Bürgervotum stellen – sollte er es nicht noch durch irgendwelche Kniffe und Hintertürentricks verhindern können. Sollte dann der Sieg tatsächlich an einen Vertreter dessen gehen, was Erdogan von der Opposition übrig gelassen hat, könnte es recht düster für den Möchtegern-Sultan aussehen. Zumindest dann, wenn nach seiner Abwahl eine dann vielleicht doch wieder staatsunabhängige oder sich an den neuen Starken orientierende Justiz beginnen sollte, sich mit den Machenschaften des Erdogan-Clans zu beschäftigen. Da hängt ein gewaltiger Sarazenensäbel über dem Haupt des Präsidenten.
Der interne Druck bleibt unerwähnt

Und doch ist das nur das Offensichtliche. Denn wer sich die Gesichter der beim Unterzeichnungsakt hinter den scheinbaren Hauptakteuren stehenden Herren Stoltenberg und Erdogan genauer ansah, dem musste auffallen: Hier standen zwei, die sich nichts mehr zu sagen haben. Bitterharte Miene bei Jens Stoltenberg – diese ebenso, mit einem Hauch von tiefer Frustration, bei Recep Tayyip Erdogan.

Putin bestimmt die Spielregeln
Die EU und die Nato-Übernahmeeinladung an Moskau
Das ließ tief blicken, denn da stand ungeschrieben geschrieben: Hier wurde einer wider seinen Willen dazu gezwungen, durch seinen Außenminister eine Unterschrift setzen zu lassen, die er eigentlich lieber verhindert hätte. Die Annahme, dass Stoltenberg dem Türken deutliche Worte auf den Weg gegeben hatte, deren Unmissverständlichkeit das unerwartete Einknicken veranlassten, dürfte insofern mehr als Spekulation sein. Und wenn Stoltenberg das getan hat, dann hat er das mit Rückendeckung der Führungsmächte – und vor allem Washingtons – getan.

Anders konnte es auch nicht sein. Der Egotripp Erdogans wurde in einer akuten Bedrohungslage durch Russland zu einer existentiellen Bedrohung des Verteidigungsbündnisses. Wäre die Aufnahme der Skandinavier gescheitert, hätte sich die Nato der Lächerlichkeit preisgegeben – und die beiden Aufnahmeländer in eine unhaltbare Position gebracht. Also dürfte hinter verschlossenen Türen Tacheles geredet worden sein – und das derart massiv, dass sich Erdogan mit einigen gesichtswahrenden Zugeständnissen zufriedengeben musste.

Der eigentliche Verlierer sitzt in Moskau

Damit nun wurde ein möglicher Triumph Wladimir Putins zu einem lauten Schlag in dessen Gesicht. Stoltenberg verwies nicht ohne eine gewisse nüchterne Häme darauf, dass der russische Präsident nun genau das bekommen hat, was er um keinen Preis der Welt hätte haben wollen. Die Nato ist geeint wie nie – und verstärkt um zwei wichtige Partner. Die geplante Aufstockung von 40.000 auf 300.000 Mann einer Sofort-Einsatztruppe nebst Stationierung unmittelbar an der russischen Westgrenze vom Nordpol bis ans Schwarze Meer belegt unverkennbar die Bereitschaft zur uneingeschränkten Konfrontation, sollte Russland es wagen, Nato-Territorium anzugreifen.

Was allerdings für Russland noch viel dramatischer ist: Die Nato hat ihre Verstärkung genau dort bekommen, wo das Russische Reich am westlichsten – und am empfindlichsten ist. Die Nato steht nun fast in Sichtweite vor den Toren Sankt Petersburgs, der alten Zaren-Hauptstadt an der Newa.

Putin hat weitgehend alles verspielt, was seit Zar Peter in Sachen Ostsee gewonnen worden war. Sein Einfluss ist zurückgeschrumpft auf den zu Zeiten der Hanse.

Das Baltische Meer – im Kalten Krieg Aufmarschgebiet der hochgerüsteten, russischen Invasionsflotte für die Übernahme Norddeutschlands und Dänemarks, dabei für die Nato fast schon eine No-Go-Area, weil nur im äußerten Westen von Nato-Staaten berührt, wird über Nacht zum Nato-Meer. Finnland und das Baltikum können bei Bedarf jederzeit den Sack zumachen und Sankt Petersburg, einst wichtigster Marinestützpunkt der Zaren, vom Ostseezugang abschneiden. Die Exklave Königsberg/Kaliningrad, heute mit Pillau/Piliava (z.Zt. Baltijsk) Stützpunkt der russischen Baltikflotte, steht im Ernstfall schnell ohne jeglichen Zugang zum russischen Kernland da. Die entsprechenden Schwierigkeiten der Versorgung musste Moskau bereits angesichts der EU-Sanktionen spüren, die wichtigen Versorgungsgütern den Zuweg durch Nato-Mitglied Litauen versperren. Nun liegt auch der Seeweg uneingeschränkt in Nato-Hand.

Moskau hat seinen Reaktionsspielraum in der Ukraine gebunden 

Moskau scheint diese geostrategische Niederlage notgedrungen mit einer gewissen Gelassenheit hinzunehmen. Russland wird sich irgendwelche Daumenschrauben einfallen lassen, um die ehedem neutralen und mit Finnland letztlich sogar einmal Moskau-hörigen Länder zu bestrafen – doch die militärische Situation auf dem Kontinent hat sich nunmehr schlagartig und nachhaltig zu Ungunsten Russlands verändert. Da dessen Truppen in der Ukraine gebunden sind, kann Putin auch den gern angedeuteten Militärschlag gegen das Baltikum oder die Ex-Neutralen vergessen. Jetzt schon hat sein Ukraine-Überfall weit mehr militärische Kräfte verzehrt, als jemals eingeplant war.

Das allerdings bedeutet auch, dass sich der Kampf in der Ukraine in die Länge ziehen wird. Die Nato braucht Zeit, um sich neu zu strukturieren und ihre geplante Einsatzstärke zu erreichen. Derweil muss Russland militärisch beschäftigt bleiben – und für die beiden Neuen haben übergangsweise vor allem die USA und das Vereinigte Königreich entsprechende Sicherheitsgarantien übernommen. Bis dahin wird die Ukraine das an westlicher Waffenunterstützung und sonstiger Unterstützung bekommen, was nötig ist, um Russlands Träume nicht in den Himmel wachsen zu lassen.

Steht die neue Nato dann bereit, wird das sich derzeit aufreibende Russland die Offerte zu einer Neusortierung Europas bekommen. Und am Ende froh sein dürfen, nicht nur die Zugewinne auf dem Staatsgebiet der Ukraine nicht zu behalten, sondern nicht auch noch Königsberg und Wyborg-Karelien zu verlieren. Aber bis es so weit ist, wird noch viel Kriegsmaterial zerstört und das Leben vieler Menschen geopfert werden.

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