Tichys Einblick
High Noon oder Scheingefecht

Die Migrationskrise – wenn vielleicht doch alles ganz anders ist

Spielen wir die vorstellbaren Varianten einmal durch und gehen wir dabei davon aus, dass das scheinbar Offensichtliche nicht immer das Tatsächliche sein muss.

© Carsten Koall/Getty Images

„Do not forsake me, oh my darlin‘“ – so lautet die erste Zeile des von Tex Ritter gesungenen Liedes, welches stellvertretend für einen Genre-bildenden Western der frühen Fünfzigerjahre steht. „High Noon“ oder auf Deutsch „Zwölf Uhr mittags“ hieß der Film, in dem Gary Cooper als einsamer Held und Marshal gegen seinen Erzfeind Frank Miller antreten und beim Showdown die einzig zu ihm stehende Quäkerin Amy Cane alias Grace Kelly, frisch Angetraute des Marshals, aus den Fängen des Banditen befreien muss.

Das Fernduell Merkel-Seehofer

Am Montag dieser Woche drängte sich das Thema dieses Western mit Blick auf das Fernduell zwischen Bundeskanzler Angela Merkel und ihrem Bundesmarshal Horst Seehofer förmlich auf. Bereits seit Tagen hatten beide ihre Revolver geschwungen – wobei nicht unterschlagen werden soll, dass der Fehdehandschuh von Merkel hingeworfen worden war, als sie in der Sprechschau von Anne Will aus einem umfassenden, unveröffentlichten Masterplan ihres Marshals einen Punkt herausgriff und diesen zum No-Go ihrer Richtlinienkompetenz hochfuhr.

Über eine Woche bestimmte das Fernduell die öffentliche Diskussion – sehr zum Leidwesen der SPD als Koalitionspartner, die sich unversehens in der Rolle jener unbeteiligten und unbedeutenden Bewohner des Middle-West-Fleckens Hadleyville wiederfand. Migrationspolitik, wie der Umgang mit dem Zustrom sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge neudeutsch genannt wird, schien nur noch zwischen den beiden Unionsschwestern ausgemacht zu werden.

High Noon am Montag

Am Montag dann war es soweit. High Noon – Zwölf Uhr Mittags – war um zwei Stunden nach hinten verschoben worden, nachdem zuerst Seehofer angekündigt hatte, um 14 Uhr auf einer Pressekonferenz in München die Ergebnisse einer CSU-Vorstandssitzung zu seinem „Masterplan Migration“ vorstellen zu wollen. Merkel zog nach und zückte ihren Peacemaker nun ebenfalls um 14 Uhr im knapp 600 Kilometer entfernten Berlin.

Die Ergebnisse sind bekannt. Oder besser: Sie scheinen bekannt. Viele Kommentatoren waren sich einig: Der Bayerische Löwe ist einmal mehr als Bettvorleger gelandet. Er räumte die von Shootist Angie erbetene Zweiwochenfrist ein. Doch noch zuckte er ein wenig. Angie wiederum blies scheinbar genüßlich den Qualm vom Lauf und wähnte sich in dem Gefühl, als Sieger vom Platz zu gehen.

Showdown oder Show-down?

Man kann das so sehen. Man kann sehr wohl sein Bedauern darüber ausdrücken, dass das erwartete Fernduell scheinbar nur Angeschossene vor dem Saloon hinterließ, Merkel immer noch im Amt und Seehofer der Eingeknickte ist. Da aber Politik gern mit Haken und Ösen arbeitet und die hohe Kunst des gegenseitigen Ausspielens auch über Bande laufen kann, mag es sich lohnen, nun, nachdem der Pulverrauch vom lauen Wüstenwind verweht ist, noch einmal genauer hinzuschauen. Und sich die Frage zu stellen: Viel Lärm um Nichts mit einem waidwunden Löwen und einer hinkenden Shootist? Oder vielleicht nur ein Vorspiel, ein Auftakt zum finalen Showdown, in dem dann einer oder auch beide tödlich verletzt im Staub liegen werden? Oder vielleicht sogar nichts anderes als ein fein geplantes Geplänkel, um jemand ganz anderen zu treffen? Ein wohl kalkuliertes Show-down anstelle des scheinbaren Showdown?

Varianten des scheinbar Offensichtlichen

Spielen wir die vorstellbaren Varianten einmal durch und gehen wir dabei davon aus, dass das scheinbar Offensichtliche nicht immer das Tatsächliche sein muss.

Variante Eins: Merkel und Seehofer rasen tatsächlich, wie ich es bei TE beschrieb, wie zwei D-Züge unaufhaltsam aufeinander zu. Das könnte so gewesen sein – und es könnte sein, dass es immer noch genau so ist. Niemand glaubt daran, dass es Merkel gelingen wird, innerhalb der kommenden zwei Wochen eine EU-einheitliche Lösung zu zaubern, wie es ihr letztlich als Ultimatum von der CSU gestellt wurde. Und dann? Für diesen Fall hat der Marshal in München bereits unmissverständlich dargelegt: „Ein oder zwei Tage werden wir über die Ergebnisse des EU-Gipfels vielleicht noch reden – dann werden die Maßnahmen in Kraft gesetzt.“ Was nichts anderes bedeutet als: Das finale Showdown ist lediglich um zwei Wochen verschoben.

Der Shootist in Berlin hielt dagegen: „Es gibt keinen Automatismus!“ Soll heißen: Kehre ich mit leeren Händen aus Brüssel heim, fangen wir von vorn an.

Das klingt angesichts der EU-Perspektive tatsächlich so, als hätte man den tödlichen Schuss bereits am Montag setzen können. Ob der Tod nun sofort oder in zwei Wochen eintritt – was für eine Rolle spielt das noch? In diesem Falle hätten jene uneingeschränkt Recht, die einmal mehr feststellen: Aus einem Löwen kann schnell ein Bettvorleger werden – niemals aber aus einem Bettvorleger ein Löwe.

Angenommen, das Duell war inszeniert

Doch denken wir diese Situation einmal weiter. Unterstellt, die beiden Duellanten hätten ihr Showdown nur inszeniert. Doch warum? Um diese Frage zu beantworten, sei noch einmal darauf hingewiesen, dass der öffentliche Streitpunkt letztlich lapidar ist. Denn es geht dabei lediglich um den Umgang mit Migranten, die illegal entweder ein zweites Mal in die Bundesrepublik einreisen wollen, nachdem sie entweder bereits rechtskräftig abgewiesen oder bereits  zur unerwünschten Person erklärt worden sind, oder die gemäß EU-Regeln ihr Asylverfahren in einem anderen Land zu durchlaufen haben.

Um diesen Personenkreis künftig auf Grundlage geltenden Rechts zu behandeln, erklärte der Marshal, seine Bundessherrifs umgehend nach Rückkehr ins „schöne Berlin“ anzuweisen, endlich entsprechend vorzugehen. Dass Seehofer in diesem Zusammenhang seinen Vorgänger und Merkel-Vertrauten Lothar de Maiziere zum Totalversager und Vollidioten erklärte, indem er von einem unglaublichen „Skandal“ sprach und sein absolutes Unverständnis dafür äußerte, dass derartige Wiedereinreisen bislang quasi befördert wurden, mag man als Petitesse nehmen. Da allerdings auch ein Löwe oder Bettvorleger aus Bayern in der Regel nicht mehr auf jene schießt, die bereits in ihrem Blut im Staub liegen, dürfte dieser Frontalangriff dem Berliner Shootist gegolten haben: Merkel als Beförderin des permanenten Rechtsbruchs. Bumms – das sollte gesessen haben und gleichzeitig sicherstellen, dass Merkel dem Marshal nicht in die Parade fährt, wenn er – wie angekündigt – zurück in Berlin die entsprechende Abwehrorder an die Bundespolizei ausgibt.

Gleichwohl: Das spricht gegen die Vorstellung, bei dem Duell Merkel-Seehofer könnte es sich um ein zwischen beiden abgestimmtes Spiel handeln. Dafür wiegt der Vorwurf des Totalversagens und des Rechtsbruch gegen die Frau Bundeskanzler dann doch zu schwer.

Nur ein Ablenkungsmanöver?

Und doch: Wäre das Duell inszeniert, dann könnte es durchaus der Ablenkung dienen. Denn in jenen 63 Punkten, die Seehofer erdacht hat um, wie er sagt, „die Zuwanderung zu steuern, zu ordnen und human zu gestalten“, scheinen Maßnahmen zu stehen, bei denen die NGO-Schleuserindustrie nebst ihren Supportern von Grünen bis SPD die Nackenhaare zu Berge stehen müssen. Doch davon später. Wenn sich das Maßnahmepaket auf eine einzige, strittige Frage reduziert, die, wie nun selbst Dunja Hayali gegenüber einem schwimmenden Torsten Schäfer-Gümbel (SPD) feststellte, rechtlich nicht zu beanstanden sei, dann könnte es sehr wohl sein, dass das von Merkel platzierte Thema tatsächlich nichts anderes ist als Beschäftigungstherapie für Politik und Medien.

Vielleicht aber sollte der Showdown auch einen anderen Zweck verfolgen: Den Druck auf die Partner in der EU derart zu verstärken, dass nun endlich nach über drei Jahren gegenseitiger Blockade Lösungen im Sinne Merkels möglich werden. Denn das Signal könnte lauten: Wenn Ihr Euch nicht bewegt, dann ist Merkel weg. Ist Merkel weg, kommt in Deutschland eine Regierung an die Macht, die deutlich EU-kritischer ist. Also bewegt Euch, wenn Ihr Eure Freundin retten wollt. Zugegeben: Sehr wahrscheinlich ist diese Vorstellung nicht – denn warum sollte beispielsweise ein Victor Orban ein Interesse daran haben, Merkel zu halten? Aber wer weiß: Vielleicht könnten hier ebenso wie in Polen die guten Kontakte der Bayern zu diesen Nachbarn helfen.

Wenden wir uns gleichwohl nun der Variante Zwei zu.

Seehofers potentieller Selbstmord

Variante Zwei: Es geht tatsächlich ein unüberwindlicher Riss durch die ohnehin schon immer angespannte Beziehung Merkel-Seehofer. Wenn es so ist, dann wäre Merkel zu unterstellen, ihren Aufschlag bei Will als Generalangriff auf den ungeliebten Partner gestartet zu haben. Ziel: Den bayerischen Löwen/Bettvorleger zu verleiten, Unbedachtes zu tun und zu äußern, um ihn nebst CSU über diesen Weg aus der Koalition zu werfen und – wie manche mutmaßen – durch die Grünen zu ersetzen. Aber: Macht das Sinn? Es war absehbar, dass dieses Duell bei Merkel ebenso viel Schaden organisiert wie bei Seehofer. Wenn beim Showdown die Kugeln fliegen, sind nicht nur die Kollateralschäden unabsehbar – das Risiko, sich selbst eine tödliche Kugel einzufangen, ist selbst dann gegeben, wenn man den Gegner für einen blutigen Anfänger hält.

Wie also hätte Seehofer reagieren müssen, um in diesem Szenario Selbstmord zu begehen? Er hätte tatsächlich das tun müssen, was nicht wenige nicht nur im Stillen erhofften: Einen Alleingang gegen die ausdrücklichen Wünsche Merkels starten und mit der Umsetzung seines Masterplans beginnen, ohne sich für diesen Rückendeckung in Partei, Regierung und Parlament zu holen. Was wäre das Ergebnis gewesen? Merkel hätte Seehofer entlassen können – vermutlich entlassen müssen. Die Nummer mit dem grünen Substitut wäre vermutlich am Widerstand der CDU-Abgeordneten gescheitert, die trotz persönlichen Sesselklebens dieses niemals ihrem Fußvolk hätten vermitteln können. Die Schwesterparteien hätten angesichts der Entwicklung Fraktionsgemeinschaft und jegliche Gemeinsamkeit aufkündigen müssen – aus der Union wären zwei konkurrierende Unternehmen geworden.

Nur Verlierer

Was wäre damit für Merkel gewonnen? Nichts. Die Unruhe in der CDU wäre nun noch lauter geworden, hätte vielleicht sogar offenen Widerstand gegen die ohnehin geschwächte Parteichefin organisiert. Vielleicht hätten die Grünen nun im verzweifelten Versuch, den besten Bundeskanzler, den sie jemals haben konnten, zu retten, sich selbst erschossen. An der politischen Großwetterlage allerdings hätte das nichts geändert ,außer noch mehr Bürger in die politische Frustration zu treiben.

Hätte Seehofer etwas gewinnen können? Ja, vielleicht. Er hätte sein Gesicht bewahren und das Bettvorlegerimage ablegen können. In der Sache allerdings wäre er gescheitert. Sein Masterplan wäre in der Versenkung verschwunden – das von ihm konstatierte, anhaltende Chaos in der Migrationspolitik ungehindert fortgesetzt worden.

Oder doch ein Gewinner?

Hat Seehofer nun, nachdem er scheinbar bereits wieder vor Merkels Nachtstätte liegt, etwas gewonnen? Man kann diese Frage durchaus mit einem Ja beantwortet, wenn man unterstellt, dass es Seehofer tatsächlich um die Sache geht. Auf seiner Seite des Fernduells wurde er nicht müde zu unterstreichen, dass die CDU nunmehr „Zweiundsechzigeinhalb von dreiundsechzig Maßnahmen“ zugestimmt habe. „Zustimmung bindet“, betonte der Marshal. Womit er Recht hat. Die CDU kann davon nicht mehr runter – egal, welches der halbe Punkt ist, dem sie nicht zuzustimmen bereit ist.

Das nun ist der Zeitpunkt, einmal auf Seehofers Maßnahmen zu schauen. So gut wie keinen der 63 Punkte hatte er bislang nach draußen gelassen – kommende Woche, so unterstreicht er, würden die Fraktionen und Koalitionspartner informiert. Das ist schon eine ungewöhnliche Situation: Republik und Regierung streiten über etwas, das anscheinend nur die beiden Duellanten umfänglich kennen.

Sach- statt Geldleistungen

Doch Seehofer hat blicken lassen. Um mit dem Punkt zu  beginnen, der massenhaft Protest organisieren wird: Seehofer will die Geldleistungen für Asylanten auf Sachleistungen umstellen. Mit anderen Worten: Er will das Füllhorn, welches bislang als indirekte Entwicklungshilfe über die sogenannten Migranten in deren Heimatländer überwiesen wurde, stoppen. Es wäre dieses tatsächlich ein Maßnahme, die den ungehemmten Zustrom in die deutschen Sozialsysteme zum Erliegen bringen könnte. Abgelegte Shirts aus der Kleiderklammer und Essensgutscheine kommen im Maghreb und in Zentralafrika nicht so gut an. Dort sind Euro gefragt – und die sind auch viel leichter und kostengünstiger zu transferieren.

Doch machen wir uns nichts vor: Jene NGO-Nutznießer, die als „ProAsyl“ oder sonstwie den Ausverkauf deutscher Sozialsysteme betreiben, werden Amok laufen. Und mit ihnen die Grünen, große Teile der Kommunisten (womit die dann noch mehr frühere Wähler zur AfD treiben) sowie die Gutmenschenfraktion des sozialdemokratischen Koalitionspartners. Insofern ist nicht ausgemacht, dass Seehofer mit dieser Forderung Erfolg hat – und dieses umso mehr, weil auch die Bauwirtschaft überaus unglücklich sein wird, sollte die Umstellung auf Sachleistung den Zustrom zum Erliegen bringen. Denn die Konjunkturmaschine „Sozialer Wohnungsbau“ hängt auf Gedeih und Verderb davon ab, ständig neue Förderfälle ins Land zu holen. Weil ebenso gilt:  „Wer Sozialwohnungen baut, wird Sozialfälle ernten“, wie: „Wer Sozialfälle schafft, muss Sozialwohnungen schaffen“. Dass dabei die Leistungsfähigkeit der Metropolen auf der Strecke bleibt, weil das steuerzahlende Volk ins Umland abwandert, spielt für die Gutmenschfraktion keine Rolle.

Schnelle Verfahren und geregelte Abschiebung

Seehofer will schnelle Verfahren und – so ließ er durchblicken – Widerspruchsverhandlungen gegen Ablehnungsbescheide ohne Anwesenheit der Antragsteller nicht mehr zulassen. Da legt er sich nun gezielt mit jener bereits von Alexander Dobrindt angeklagten „Anti-Abschiebe-Industrie“ der Winkeladvokaten an. Also wird auch hier der massive Widerspruch nicht ausbleiben.

Zusätzlich will er die schnelle Abschiebung ermöglichen: Der Bund mietet Chartermaschinen, in denen dann nicht ein oder zwei Abgewiesene außer Landes gebracht werden, sondern ein Sammeltransport erfolgt. Wir können uns gut vorstellen, in welche Bredouille dieses nicht nur den Niedersachen Boris Pistorius (SPD) bringen muss. Man kann ihn bereits laut „Ländersache“ rufen hören – und das Unverständnis auf den Gesichtern jener Bürger erkennen, die nicht nachvollziehen können, weshalb abgewiesene, illegale Migranten weiterhin den Sozialstaat plündern dürfen.

Schutzzonen im Sahel

Und wohin will Seehofer die Abgeschobenen bringen, wenn ihre Heimatländer die Rücknahme verweigern und die Betroffenen ihre Pässe „verloren“ haben und die bereitliegenden Passersatzpapiere nicht abholen? Auch dafür hat der Marschal eine Lösung, die er, welch schöner Begriff, „Schutzzonen“ nennt.

Diese Schutzzonen sollen in Absprache mit den dortigen Ländern vorrangig im Sahel eingerichtet werden und einen humanen Umgang mit den Migranten sicherstellen. Dort landen dann nicht nur jene, die in Deutschland kein Aufenthaltsrecht haben und ihre Herkunftsländer nicht preisgeben wollen – auch jene illegalen Einwanderer, die aus dem Mittelmeer gefischt werden, sollen dort einen gut behüteten, vorübergehenden Aufenthalt genießen können.

Selbstverständlich wird Seehofer, der, wie er sagt, diesen Punkt mit seinem Parteifreund und Entwicklungsminister Gerd Müller gemeinsam erarbeitet hat, dafür einige Milliarden Euro nach Afrika schaufeln müssen. Dafür aber gräbt er der NGO-Schleuserindustrie auf dem Mittelmeer und den Unterstützern illegaler Einwanderung das Wasser ab – und er sorgt dafür, dass sich in Afrika schnell herumsprechen wird, dass der Weg nach Europa keinen Sinn mehr macht, weil er in der Halbwüste endet.

Man kann sich vorstellen, dass die NGO-Nutznießer schnell und laut „Konzentrationslager“ schreien werden – doch gehen wir davon aus, dass niemand gegen seinen Willen in diesen Schutzzonen gefangen gehalten wird. Es steht ihm frei, zurück in die Heimat zu gehen – oder den nächsten Versuch illegaler Einreise zu wagen. Und dass der vorübergehende Aufenthalt in diesen Unterbringungen deutlich humaner sein wird als in den Lagern Libyens, das dürfen wir auch unterstellen.

Das erwartete Trommelfeuer

Allein diese wenigen Punkte, die Seehofer am Rande seiner Pressekonferenz hat blicken lassen, müssen die bisherige rotgrüne Praxis des „Refugees welcome“ vom Kopf auf die Füße stellen. Meint der Marshal es ernst, dann steht ihm der Kampf seines Lebens erst noch bevor. Denn das Trommelfeuer, das gegen diese Maßnahmen entfacht werden wird, könnte leicht das Staccato entfalten, mit der Django im gleichnamigen Italo-Western seine Feinde niedermäht.

Obgleich Seehofer immer wieder zu wanken scheint, dürfen wir ihm gleichwohl unterstellen, dass ihm als Politprofi diese Perspektive in jeder Hinsicht bewusst ist. Und auch wenn das Offensichtliche dagegen zu sprechen scheint, so mag es durchaus sein, dass das Fernduell am Ende nur einen einzigen Zweck verfolgte: Sich die Unions-Zustimmung zu seinem Masterplan zu holen, bevor dieser in der Öffentlichkeit zerredet wird. Das, so müssen wir feststellen, scheint ihm gelungen. Er wurde am Montag nicht müde, jene „Zustimmung zu zweiundsechzigseinhalb von dreiundsechzig Maßnahmen“ durch die CDU zu unterstreichen. Die Zustimmung seiner CSU zu allen 63 hat er ohnehin – wie er betonte, nach ausgiebiger Diskussion und Einzelabstimmung über jeden einzelnen Punkt.

Geschlossene Reihen in 62,5 Punkten

Lassen wir also den halben  Punkt einmal außen vor, dann kann Seehofer davon ausgehen, die Union insgesamt geschlossen hinter sich zu haben. Und damit zwangsläufig auch Merkel – denn wie sollte sie gegen ihre Parteiführung nun noch das Maßnahmepaket abschmettern?

Also doch alles ein abgechartertes Spiel, bei dem die SPD vor der Tür blieb, weil es erst einmal darum ging, die Unionsreihen fest zu schließen? Vielleicht.

Und wenn nicht, dann könnte es dennoch sein, dass die Kritiker Seehofer heftig unterschätzt haben. Gelingt sein offensichtliches Vorhaben, das Migrations(un)wesen grundlegend umzukrempeln und all den Nutznießern den Boden unter den Füßen wegzuziehen, könnte er am Ende sogar vom Bettvorleger zum Superlöwen werden. Egal, ob das Vorgehen mit Merkel abgestimmt war oder nicht.

Misslingt es, dann könnte er dennoch die Unionsreihen derart fest hinter seinen Vorstellungen geschlossen haben, dass die Union optimistisch in Neuwahlen gehen kann. Denn die Schuldigen an der Migrationsmisere, die Seehofer als „Skandal“ bezeichnet, stünden dann für jedermann erkennbar auf dem Spielfeld bei jenen politischen Konkurrenten, die Seehofers Unions-Maßnahmenkatalog verhindert haben. Vor allem Koalitionspartner SPD müsste sich entscheiden: Als Unterstützer der illegalen Einwanderung mit EU-Flagge auf dem Dach ins Abseits – oder mit der Union wieder Politik für Deutschland machen?

Gemeinsam die Stadt verlassen

Warten wir also ab. Und lauschen wir noch einmal Tex Ritter. Dessen berühmte Zeile lautet auf Deutsch „Verlaß mich nicht, oh mein Liebling“. Und dann fahren Gary Cooper und Grace Kelly auf der Pferdedroschke hinaus aus der Stadt, die sie so schmählich im Stich gelassen hat.

Nicht auszuschließen, dass wir am Ende sogar Merkel und Seehofer gemeinsam beim Verlassen der Stadt bewundern können. Entweder, weil es Seehofer gelungen ist, den fundamentalen Fehler seiner Widersacherin tatsächlich noch zu heilen – oder weil sich beide im finalen Showdown gegenseitig derart schwer verletzt haben, dass sie gezwungen sind, gemeinsam den nächsten Quacksalber aufzusuchen.

Warten wir es ab. Manchmal haben gute Western ein schlechtes Ende – und manchmal schlechte Western ein gutes. Manchmal auch enden sie, ohne dass der Zuschauer versteht, worin das Ende besteht. Zumindest jedoch scheint es deutlich zu früh, jetzt bereits von einem festverankerten Finale im Drehbuch auszugehen. Noch läuft der Film. Noch rauchen die Colts ein wenig und scheinen nur eine kurze Pause einzulegen. Vielleicht aber laufen im Hintergrund auch Drehbuchszenen, die erst am Ende der Handlung zu einem völlig unerwarteten, dramatischen Finale führen.

Warten wir es ab.