Tichys Einblick
Deutsche Leermeldung

Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft – alles an die Wand gefahren

Die deutsche EU-Politik scheitert, weil sie das Kernproblem ausgeblendet – nicht nur Merkel geht offenbar davon aus, dass auch die Mittelosteuropäer ihre nationalen Symbole ähnlich verachtend wegwerfen, wie sie es 2013 mit der deutschen Fahne tat.

imago Images/Reporters

Es ist eine Eigentümlichkeit der Europäischen Union, neben dem ständigen Ratspräsidenten die Ratspräsidentschaft auf jeweils ein halbes Jahr den Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten zuzuweisen. Eine tatsächliche Gefahr der Dominanz einzelner Staaten geht davon nicht aus – reißen kann die jeweilige Ratspräsidentschaft in gerade einmal sechs Monaten so gut wie nichts. Ein Monat mindestens geht für die Übernahme vom Vorgänger ins Land – ein Monat für die Vorbereitung zur Übergabe an den Nächsten. Oder man verzichtet einfach auf einen reibungslosen Übergang – und wurstelt unbedarft vor sich hin. Um wirklich etwas zu bewegen, wäre mindestens ein Jahr vorzusehen. Doch das müsste bedeuten, dass jedes der aktuell 27 Mitgliedsländer dann eben auch nur alle 27 Jahre an der Reihe wäre, so zu tun, als hätte man die Fäden in der Hand. Also wird es weiter bei einer Fehlkonstruktion bleiben – bis irgendwann nach dem Vereinigten Königreich weitere Mitglieder ausgestiegen sind oder sich die EU in sich selbst auflöst.

Merkel macht Europa gemeinsam stark

Im zweiten Halbjahr des Jahres 2020 war nun die Bundesrepublik an der Reihe. Angela Merkel und Heiko Maas hatten daher die Chance, im internationalen Licht zu glänzen. Oder vielleicht tatsächlich etwas zu bewegen? Zumindest ließ man ein wenig deutsche Großmannssucht durchblicken, als man sich als übergreifendes Schlagwort den Satz „Gemeinsam Europa wieder stark machen“ wählte. Eine Floskel, die zumindest insofern einer gewissen Wahrheit nicht entbehrt, als die Voraussetzung, um etwas wieder stark zu machen, zwangsläufig die Tatsache ist, dass Besagtes zu erstarkende schwach sein muss.

Schwach ist die EU tatsächlich. Da liegt zum einen der Brexit auf dem Tisch. Zumindest dessen Schlussabwicklung, denn der Ausstieg der Briten wird zum Jahresende 2020 abgeschlossen sein. So oder so, mit oder ohne Abkommen – und auch mit oder ohne Vertragsbruch, den zumindest die Engländer hinsichtlich ihrer Kolonie auf der irischen Insel bereits in die Wege geleitet haben.

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Das aber scheint eher ein Randthema zu sein. Wichtig für die EU: Der Ausstieg muss den Briten weh tun. Irgendwie. Am besten wirtschaftlich. Denn nichts fürchten die EU-Bürokratoren mehr als ein Großes Britannien, das nach Vollzug des Brexits unerwartet aufblüht. Da könnte das EU-Konstrukt schnell zu einem schlecht vernieteten Karussell werden, dessen Fahrgäste einer nach dem anderen sich aus der Verankerung lösen und ein Rumpfbrüssel hinterlassen, dem die Mitreisenden fehlen. Also wird gepokert – und da man in Kontinentaleuropa immer noch rätselt, ob Boris Johnson nun ein Quartalsirrer oder ein gewiefter Stratege ist, scheint ein Exit des Brexit ohne weitergehende Regelung der künftigen EU-Beziehungen gegenwärtig am wahrscheinlichsten. 
Sommerzeit und Corona

Von nicht ganz so großer Tragweite wie die weitere Beziehung zu den Inseleuropäern ist die Abschaffung der Sommerzeit. Jean Claude Juncker hatte als Kommissionspräsident dazu ein wenig Pseudo-Demokratie unters Volk gestreut und 2018 Willige und Unwillige aus der EU aufgerufen, sich zu dieser Frage mit einem Klick auf einer EU-Website zu äußern. Immerhin 4,6 Millionen der knapp 448 Millionen „EU-Bürger“ hatten Junckers Ruf erhört und mit dem Zeigefinger die PC-Maus aktiviert. Das entspricht einer Teilnahme von doch immerhin 1,03 Prozent! Und von denen sprachen sich über 80 Prozent gegen den Sommerzeit-Unsinn aus. Anders formuliert: Rund jeder einhundertste EU-ler will die zweimal jährliche Zeitumstellung loswerden. So also sehen in der EU überzeugende Bürger-Mehrheiten aus. Der Kommissionpräsident jedenfalls verkündete angesichts des durchschlagend repräsentativen Votums: Die Bürger wollen es, also machen wir es! Er vergaß nur zu sagen, wann. 

Der in den Raum gestellte, letztmalige Umstellungstermin im Jahr 2019 ging ins Land – und 2020 war man damit beschäftigt, den vielstimmigen Chor der Corona-Abwehr-Maßnahmen irgendwie in einen halbwegs glaubwürdig wirkenden, gemeinsamen EU-Zusammenhang zu stellen. Da hatte die Zeitumstellung keine Priorität mehr – und es drängt sich der Eindruck auf, dass das Ergebnis der aus dem Blauen gegriffenen Abstimmung des Luxemburgers im Äther der Gesichtsmasken verdunstet. Von der aktuellen Ratspräsidentschaft war dazu jedenfalls nichts zu vernehmen – vielleicht haben ja die Portugiesen, die ab Januar 2021 den Staffelstab in die Hand nehmen, mehr Spaß an dieser Hinterlassenschaft.

Apropos Corona: Da ist Merkel in ihrem Element und verkündete mit jenem obligatorischen „Alles“, welches man heutzutage bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit tun müsse, dass es ein solches nationales Durcheinander, wie es ab März 2020 zu beobachten war, künftig nicht mehr geben dürfe. Eine wohlfeile Erkenntnis, offenbarte die drohende Pandemie doch, dass auch in der EU jeder erst einmal sich selbst der Nächste ist.

Green Deal und Migration

Ähnliches gilt auch beim Lieblingsthema der deutschen Frau Bundeskanzler und ihres auf den real existierenden Merkelismus eingeschworenen Kabinetts bei den Themen „Green Deal“ und Migration. Die finale Vernichtung des Industriestandorts Deutschland wurde in enger Kooperation mit der nach Brüssel abgeschobenen Ursula von der Leyen auf 2030 vorgezogen – der Savonarolismus der neuen Klimareligiösen macht es möglich. Unnötig zu erwähnen, dass man in Sachen Klima ebenso alles tun müsse wie beim Thema Umsiedlung. Diese Umsiedlung, offiziell so genannt, dient dem Ziel, den steten Ansturm wohlstandsbegieriger Zuwanderer koordiniert nach Europa zu lassen.

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Vorbereitend für den großen Umzug wurde kurz vor Corona auf maßgebliches Merkel-Betreiben der UN-Migrationspakt gefeiert, der, in Verbindung mit den entsprechenden Absichtserklärungen der EU-Führung, die den Europäern drohende Überalterung im UN-Sinne durch massive Umsiedlung aus Afrika und Asien abfangen soll. Nicht nur Merkelland hat längst erkannt, dass schon heute das Personal fehlt, um die in Seniorenheimen endgelagerten Bürgerbestände halbwegs angemessen und die damit verbundenen Kosten halbwegs rechtfertigend zu versorgen. Noch problematischer allerdings stellt sich die künftige Ausstattung der umlagefinanzierten Rente dar: Immer mehr Senioren (auf das m/w/d wird hier verzichtet, da diese Altersgruppe noch mit natürlichen biologischen Geschlechtsbildern aufgewachsen ist) bei immer weniger Werktätigen und Wertschaffenden – da wird die Politik den ins Rentenalter Entlassenen in absehbarer Zeit erklären müssen, dass bei der monatlichen Überweisung Negativwachstum angesagt ist. Wobei sich die jüngeren Semester vermutlich noch eher die Frage stellen werden, weshalb sie immer höhere Anteile ihres Lohns in die Altenversorgung einer vorsorgeunwilligen 68er-Generation stecken sollen, wenn ihre eigene Pensionserwartung sich in den Sternen einer kollektiven Überschuldungspolitik nebst Industrievernichtung erledigen wird.

Um nun zumindest in die Migration ein wenig Push zu bringen, bahnte Merkel-Adlatus Horst Seehofer einem EU-Beschluss den Weg, der nun angeblich besagtes Alles in Sachen Zuwanderung regelt. Hinter dem Nebel der verbalen Verwirrspiele, die den Österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz, sehr zum Unwillen Seehofers, zu der zutreffenden Feststellung verleiteten, dass die Idee der Migrantenverteilung innerhalb der EU gescheitert sei, lässt sich dieser sogenannte Asyl-Kompromiss ungefähr wie folgt beschreiben: Wer noch Interesse daran hat, sich mit kulturfremden Zuwanderern auseinanderzusetzen, nimmt künftig alles auf, was anlandet. Die Bundesrepublik wird hier ohne Zweifel mit gutem Beispiel vorangehen.  Wer allerdings in EU-ungerechter Weise in der Angst, seinen eigenen Kulturcharakter zu verlieren, nicht zur Aufnahme sogenannter Flüchtlinge bereit ist, übernimmt die Abschiebung. Ungarn und Polen stehen bereits Gewehr bei Fuß – wobei sich der beständig als Rechtsnationalist gescholtene Victor Orban darauf berufen kann, mit hohem finanziellen Einsatz einen unüberwindbaren Zaun an seiner Grenze gebaut zu haben – gleichsam eine präventive Form der Rückführung, indem man jene, die Aufnahme begehren, gar nicht erst in die EU lässt. Zwar werden die Einreisewilligen andere Wege finden – beliebt ist immer noch die Anreise mit den Menschhändler-NGO-Kooperatoren über das Mittelmeer – , doch Ungarn ist mit diesem sogenannten Kompromiss vorerst zufrieden.

Im Ergebnis allerdings – und das ist die Crux des fragwürdigen Deals: Sind die Umgesiedelten erst einmal in einem EU-Land und haben Daueraufenthaltsrecht, können sie selbstverständlich von Deutschland nach Polen oder Ungarn umziehen. Orban vertraut allerdings darauf, dass sie das nicht tun werden – denn schließlich steht immer noch das Merkel-Wort im Raum, wonach „wir das schaffen“. Zwar ist nach wie vor nicht ganz klar, wer mit „wir“ und was mit „das“ gemeint ist, doch unsere polnischen und ungarischen Nachbarn unterstellen einfach, dass mit „wir“ nicht sie gemeint gewesen sein können und das „das“ sie deshalb nicht angeht. Weshalb wiederum sie auch nicht davon überzeugt sind, dass „wirklich alles  getan“ werden müsse, um dieses nicht näher definierte „das“ zu schaffen.

Eine Neugliederung Mittelwesteuropas

Um sich in dieser Hinsicht jedoch vorsorglich abzusichern, denkt die sogenannte Visegrad-Gruppe mittlerweile über Wege nach, die sich kaum verhohlen am britischen Exit orientieren – auch wenn sie das noch nicht öffentlich so formulieren. Wojciech Osinski hatte dazu bei TE-Online einen lesenswerten Text über mitteleuropäische Gedankenspiele zu einer Drei-Meeres-Initiative vorgelegt.

Hierbei handelt es sich um die Idee einer engen Zusammenarbeit von derzeit zwölf Staaten zwischen Ostsee, Mittelmeer und Schwarzem Meer – gleichsam eine Nord-Süd-Achse als Gegengewicht zum Deutsch-Französischen Block an der EU-Spitze. Bemerkenswert an dieser Idee des „Trojmorze“ ist vor allem, dass dort auch die Einbindung derzeit noch nicht zur EU gehörender Staaten wie der Ukraine und Weißrussland angedacht wird. In gewisser Weise stellt sich dieses Drei-Meere-Land als Zusammenschluss all jener Völker dar, die bis 1989 unter sowjet-russischer Hegemonie lebten. Ergänzt vielleicht um Griechenland und das zumindest offiziell blockfreie Jugoslawien, welches heute nicht mehr existiert. Eine wichtige Rolle in dieser neuen Achse zwischen West- und Osteuropa sollen die Österreicher spielen – k.u.k.-Habsburg lässt grüßen, nur nicht mehr als Kaiserliche und Königliche Monarchie, sondern als Konföderative und Kooperative Gemeinschaft unabhängiger Staaten.

Eigentlich müssten derartige Überlegungen in Brüssel nebst den Außenstellen Paris und Berlin alle Alarmglocken schrillen lassen. Denn auch wenn dieser Nord-Süd-Korridor offiziell nicht über eine Gegen-EU nachdenkt, läuft er dennoch genau auf eine solche hinaus. Der EU-Ausmarsch der Ex-Warschauer-Pakt-Staaten nebst Blockfreien hat längst begonnen. Gäbe es nicht unter Absingen hässlicher Lieder immer noch mehr Geld aus Brüssel, als man selbst in den Topf tut, wären Polen und Ungarn längst schon kurz davor, den Weg der Briten zu gehen. Mental sind sie so weit, wird ihnen doch beständig aus den heiligen Hallen der EU-Zentrale vorgehalten, ohnehin längst alle Grundlagen des sozialistischen Rechtsstaats und der kollektivistischen EU-Idee verlassen zu haben. Wenn dann noch ein überaus fragwürdiges, oberstes EU-Gericht die Ungarn dazu zwingen will, sich nicht minder fragwürdigen, gegen die demokratisch legitimierte Regierung agierenden NGO zu öffnen, könnte der Zeitpunkt nah sein, den nach Südosten gebauten Zaun zumindest politisch auch Richtung EU hochzuziehen.

Der Basisirrtum der EU

Für die deutsche Ratspräsidentschaft allerdings spielen solche Gefahren des Separatismus keine reale Rolle. In der Fiktion, dass der deutsche Wohlstand nicht erarbeitet werden muss, sondern gleich Manna vom Himmel fällt, wird davon ausgegangen, auch künftig genug Geld bereitstellen zu können, um die Abtrünnigen bei der Stange zu halten. Das tiefgreifende Kernproblem allerdings wird schlicht ausgeblendet – denn offenbar geht nicht nur Merkel davon aus, dass auch die Mittelosteuropäer ihre nationalen Symbole ähnlich verachtend wegwerfen, wie die damalige Vorsitzende der CDU es mit der deutschen Fahne getan hat.

Hier allerdings liegt der Basisirrtum – er führte bereits zum Ausstieg der Briten. Während die Nachkriegsdeutschen (West) dazu erzogen wurden,  unter dem Schutzmantel der USA ihre nationalen Eigenheiten abzulegen und ihr Heil in der europäischen Idee zu suchen, mussten insbesondere die Mittelosteuropäer ihre unter Hitler und Stalin verlorene Unabhängigkeit mühevoll zurückerobern. Sie mögen in der EU immer noch einen sicheren Hafen und eine Chance für ihren wirtschaftlichen Aufschwung sehen – doch sie sind weit davon entfernt, ihre zurückgewonnene Freiheit an der Garderobenstange Brüsseler EU-Bürokratoren abzugeben. Jede Schelte aus den Reihen der 100-Prozent-EU-ler, jedes „Urteil“ eines sogenannten EU-Gerichts, das als Eingriff in die innerstaatliche Autonomie begriffen wird, treibt den Keil tiefer.

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Das, was sich dort entwickelt, hat vorderhand erst einmal nichts mit überzogenem Nationalismus zu tun – auch wenn der gebrainwashte Mainstream vor allem in deutschen Politiker- und Journalistenköpfen sich an entsprechendem Dauer-Bashing ergötzt. Polen, Ungarn und auch Briten sind keine schlechteren Europäer als Franzosen oder Deutsche. Sie alle haben ihre Lehren gezogen aus der 1914 gestarteten Selbstzerstörung. Krieg und Gegeneinander kann in Europa keine Option sein, will sich die europäische Zivilisation nicht abschließend aus der Geschichte verabschieden.

Doch für jene, die 1989 mühevoll dem sozialistischen Kommandostaat mit Hauptsitz in Moskau entronnen waren, ist ein europäischer Kommandostaat mit Sitz in Brüssel keine Alternative. Die demokratisch nicht legitimierte Supranational Governmental Organization (SGO), zu der sich das Brüsseler Konstrukt entwickelt hat, unterscheidet sich für die Drei-Meeres-Denker nur noch marginal von dem, was sie selbst zwischen 1939 und 1989 erleben mussten. Und so schreitet die Entfremdung fort – Tag für Tag und bewusst oder unbewusst geschürt von jenen vor allem in Berlin, die bei jeder Erwähnung nationaler Interessen bereits antifaschistische Pickel im Gesicht bekommen. 

Doch der deutsche Sonderweg, den gegenwärtig vor allem der Franzose Emanuel Macron so trefflich zu nutzen weiß, um darüber seine französischen Interessen zu bedienen, ist nicht zukunftstauglich. Die Vorstellung, es gäbe keine Deutschen, keine Franzosen und keine Polen mehr, sondern nur noch Europäer, ist eine Fiktion, die an den in Jahrhunderten gewachsenen Identitäten der Europäer meilenweit vorbei geht. Die Fraktionierung von Gesellschaften auf Scheinidentitäten unterhalb des nationalen Bewusstseins in der Erwartung, die Bürger damit reif zu machen für eine entnationalisierte Überidee, greift daneben und geht an der europäischen Realität meilenweit vorbei. So, wie die Briten nicht deshalb die Flucht ergriffen, weil ihnen der europäische Binnenmarkt nicht gefiel, sondern weil sie sich von Brüssel nicht ihre inneren Angelegenheiten nebst Migrationspolitik vorschreiben lassen wollten, stellen sich auch andere EU-Europäer, für die ihr Patriotismus ein realer Wert ist, die Frage nach dem Warum: Warum soll eine Nation, die willens ist, immer enger mit den Nachbarn zu kooperieren, darüber ihre eigene Souveränität aufgeben? Trumps „America first“ gilt nicht erst seit heute auch für Nationen Europas – Ausnahme Bundesrepublik.

Lehren aus der Geschichte nicht gezogen

Dabei hätte man lernen können, wäre man nicht geschichtsvergessen und ideologisch verblendet. Denn das 19. Jahrhundert zeigt perfekt die Wege, die gegangen werden können. Im positiven wie im negativen. Das k.u.k.-Reich scheiterte daran, dass es den unter Habsburger Krone versammelten Völkern nicht die Freiheiten ließ, sich als Teile eines gemeinsamen Ganzen selbst zu organisieren. Das 1871 gegründete kleindeutsche Reich hingegen gab unter dem Dach einer gemeinsamen, deutschen Identität den Bundesländern, deren innere Verfassung nicht selten Meilen von den demokratischen Verfassungszielen der neuen Reichsverfassung entfernt war, das Recht, ohne Befehl aus Berlin den eigenen Weg zu gehen. Bismarck vertraute darauf, dass unterschiedliche politische Ideenwelten sich von allein angleichen würden, wenn das Dachkonstrukt erfolgreich ist. Und das war es – bis 1914. So wurden aus jenen, für die ein geeintes Deutschland noch 1848 bestenfalls eine abstrakte Idee gewesen ist, ein deutsches Volk.

So auch hätte man es angehen müssen, um die Völker Europas mit ihren kulturellen und historischen Unterschieden behutsam zusammenwachsen zu lassen. Darauf vertrauend, dass der dadurch entstehende Wohlstand über die Jahrzehnte die Bedeutung der nationalen Identität in den Hintergrund rücken lässt.

Stattdessen aber versucht man es mit der doppelten Brechstange: Den Mittelosteuropäern soll ihr Nationalstolz mit Druck aus Brüssel ausgetrieben werden – die bereits weichgeklopften Westeuropäer werden mit einer sogenannten Identitätspolitik, die das genaue Gegenteil von Identität erwirken soll, gefügig gemacht. Doch genau dieses wird, wie bereits im Falle UK, die Union zersprengen. Weil unbelehrbare Ideologen und selbstherrliche Bürokratoren die Auffassung vertreten, sie allein wüssten, was dem Wohl des Bürgers dienlich ist. 

Kaum ein Satz ist insofern verräterischer für die wahren Beweggründe der oberen Zehn der EU als jener, den die halbjährige Co-Ratsvorsitzende Merkel angesichts der Chancen eines geregelten Exit des Brexit formulierte: „Aber wir verstehen auch, dass Großbritannien ein gewisses Maß an Unabhängigkeit haben möchte, da es nicht mehr Mitglied der EU ist“, sagte sie am 16. Oktober. 

Wir verstehen: Wer aus der EU aussteigt, erwirbt sich damit das aus EU-Sicht fragwürdige Recht eines „gewissen Maßes an Unabhängigkeit“. Wer nicht aussteigt, der hat diese längst aufgegeben und ist auf Gedeih und Verderb den Ordres de Bruxelles unterworfen.

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