Tichys Einblick

Brexit – am Ende außer Spesen nichts gewesen?

Was tut man, wenn man etwas überhaupt nicht will – aber in der Pflicht steht, genau dieses zu tun?

Emanuel Durand/AFP/Getty Images

Man könnte die Pflicht abgeben, den ungeliebten Job jemand anderes machen lassen. Nur wäre damit fast schon gewährleistet, dass genau das geschehen wird, was man um jeden Preis verhindern möchte. Damit fällt diese Möglichkeit aus. Und man bleibt in der Funktion, die einem einzig und allein die Chance bietet, das zu verhindern, was man von Amts wegen eigentlich tun muss.

Denken wir weiter. Ließe man jene, die davon ausgehen, dass man das tut, was die Pflicht gebietet, wissen, dass man eben genau dieses nicht will, wäre die Chance sofort vertan. Also bleibt einem nichts anderes übrig, als nach Außen möglichst energisch genau das zu vertreten, was man um jeden Preis verhindern will. Und eine Situation zu schaffen, in der am Ende der einzige Weg bleibt, genau das, was getan werden soll, nicht tun zu müssen. Jene, die erwarten, dass jenes, was die Pflicht gebietet, getan wird, müssen in eine Position gebracht werden, in der sie eben genau dieses nicht mehr durchsetzen können. Es folgen die Krokodilstränen derjenigen, die das Ergebnis dieser Pflicht nie gewollt haben – doch sie wissen: Genau dieses in der Weise, wie es geschehen ist, konnte nur geschehen, weil immer der Eindruck erweckt wurde, dass das tatsächliche Ziel jenes war, welches nun als nicht mehr möglich existiert.

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Bereits im Juni 2016 wies ich darauf hin: Die Queen kann den Ausstieg ihres noch vereinigten Königreichs nicht wollen. Die ohnehin immer etwas rebellischen Schotten hatten mit großer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt – das Verlangen nach einer neuen Abstimmung über den Verbleib im Königreich könnte im Ausstiegsfall zu tiefgreifenden Verwürfnissen führen. Noch dramatischer ist die Situation im englisch besetzten Nordirland. Der dortige Krieg zwischen Katholiken und Protestanten konnte erst befriedet werden, als die Grenze zur Republik Irland fiel und damit der Konflikt scheinbar überwunden war. Wird diese Grenze, die heute nur noch eine gedachte Linie auf der grünen Insel ist, zur EU-Außengrenze, wird der nordirische Konflikt mit allen Konsequenzen wieder aufflammen.

Das wusste die Queen bereits, als die Hitzköpfe Farage und Johnson für sie überraschend beim Referendum zum EU-Ausstieg eine knappe Mehrheit holten. Und Theresa May wusste es auch – und durfte nun das auslöffeln, was ihr der stets schwächlich wirkende David Cameron eingebrockt hatte.

Verbürgt ist ein Gespräch zwischen Queen und May, dessen Inhalt offiziell verborgen blieb – auch darüber schrieb ich im Juni 2016.

Die Zeit wird eng

Zwischenzeitlich sind zwei Jahre ins Land gegangen. May hat mit ihren „Brexit means Brexit“-Rufen nach Außen den Hardliner gegeben – und derweil mit der EU-Kommission einen Ausstiegsvertrag gezimmert, der weder den Aussteigern noch den Drinnenbleibern gefällt. Das hat der britischen Premierministerin in der zweiten Dezemberwoche ein Misstrauensvotum ihrer eigenen Fraktion eingebracht – welches sie jedoch mit deutlicher Mehrheit für sich entschied. Mit der Folge, dass sie nun ein Jahr lang Ruhe hat vor ähnlichen Avancen aus dem eigenen Lager.

Die Brexit-Kuh ist damit jedoch noch lange nicht vom Eis. Der vorgebliche Versuch, noch in aller Schnelle ein paar Zugeständnisse der EU einzuheimsen, verlief erwartungsgemäß im Sande. Derweil hatte May bereits eine zuvor fest eingeplante Parlamentsabstimmung über das Vertragswerk vertagt. Ende Januar nun soll das Parlament abstimmen. Höchste Zeit, denn das Ausstiegs-Fallbeil fällt im März.

Dabei jedoch geht gegenwärtig jeder davon aus, dass der vom May abgesegnete Vertrag im Parlament abgelehnt werden wird. Labour muss aus Prinzip dagegen sein und wird der Tory-May nicht das Amt retten. Die nordirischen Protestanten, die May vorübergehend als Stimmvieh eingekauft hatte, werden ebenfalls dagegen stimmen. Sie erkennen völlig zu recht, dass der Vertrag eher über kurz als über lang darauf hinauslaufen muss, dass sich Nordirland vom Königreich abkoppelt. Damit gerieten die Nachkommen protestantischer Migranten im Auftrag der Unterwerfung des irischen Katholizismus auf der Insel ins Hintertreffen – Konsequenzen unabsehbar. Hinzu kommt ein Teil der Konservativen: Mays Partei und Fraktion sind zutiefst gespalten in Hard-Brexiter und Non-Brexiter. Insofern: Der hübsch durchdachte Vertrag, der das Königreich in der EU halten sollte, ohne es in der EU zu halten, dürfte spätestens Ende Januar das Papier nicht wert sein, auf dem er geschrieben steht.

Die Wirtschaft auf dem Sprung

Und dann? Hard-Brexit? Das große Britannien im selbstverursachten Chaos aus fluchtartig das Land verlassenden Wirtschaftsunternehmen und Separatismus?

Das könnte geschehen, wenn tatsächlich der Vertrag vom Parlament abgelehnt ist und das Königreich ohne Vereinbarung aus der EU ausscheidet. Denn längst schon haben sich zahlreiche auch Mittelständler auf den Weg gemacht, ihren Londoner oder Birminghamer Firmensitz vorzugsweise nach Deutschland zu verlegen. Sie brauchen den europäischen Binnenmarkt, weil auf die ersatzweise Hoffnung, ganz eng mit den USA zu gehen, unter Trump nicht zu setzen ist. Die Folge eines harten Brexits könnte daher ein Zusammenbruch der britischen Wirtschaft mit ungeahnten Folgen sein. Zumindest befürchten dieses jene Akteure, die eng mit dem Kontinent verzahnt sind.

Andere Varianten

Doch es gibt auch andere Varianten.

Schafft es das Parlament nicht, sich für den Vertrag auszusprechen – wovon mittlerweile nicht nur May ausgeht – dann steht das Vereinigte Königreich Ende Januar vor einem Notstand. Wie kann May den in den Griff bekommen – und kann sie es überhaupt?

Schauen wir noch einmal auf ihre Regierungsführung. Nachdem sie anfangs den Versuch unternahm, die Brexiter über Ministerämter einzubinden, haben sich zwischenzeitlich alle Brexit-Befürworter aus denselben verabschiedet. Trifft sich May mit ihren Ministern, dürfte dort eine Stimmung für den Exit aus dem Brexit vorherrschen.

May wird sich daher darauf verlassen können, bei entsprechenden Beschlüssen das Kabinett weitgehend geschlossen hinter sich zu haben.

Dennoch wäre sie schlecht beraten, nunmehr am Parlament vorbei das seinerzeit knappe Votum für den Ausstieg außer Kraft zu setzen. Das gäbe jenen Brexitern, die mittlerweile deutlich an Boden verloren haben, den Schub, den sie bräuchten, um ihre Kampagne neu zu starten.

Geschickter wäre es daher, sie wartet den Parlamentsentscheid ab, stellt dort den ausgehandelten Vertrag zur Abstimmung und verliert diese erwartungsgemäß.

Daraufhin könnte May zweierlei tun.

Den Auftraggeber erneut befragen

Sie könnte feststellen, dass es für einen Ausstieg aus der EU im Parlament keine Mehrheit gibt und den Brexit absagen. Das allerdings wäre in der öffentlichen Kommunikation problematisch, da immer noch jener damalige Mehrheitsentschluss und ein früherer Ausstiegsbeschluss der Abgeordneten im Raum steht.

Also wäre sie gut beraten, nicht die Ablehnung des Brexits durch das Parlament zu behaupten, sondern dessen Unfähigkeit zur entsprechenden Beschlussfassung zu konstatieren. Doch da sie sich nicht anmaßen will, nun allein zu entscheiden, läge es gleichsam auf der Hand, das Mandat an jene zurück zu geben, die es seinerzeit beauftragt hatten. Kurz: Die Großbriten werden ein weiteres Mal gebeten, ihre Stellungnahme zum Brexit abzugeben.

May könnte dieses, um Kritikern entgegen zu treten, neu verpacken. Sie könnte beispielsweise den Vertrag zur Abstimmung stellen.

Allerdings wäre es dabei mit einem bloßen Ja-Nein nicht getan. Denn sollte das „Nein“ eine Mehrheit bekommen, weiß damit niemand: Bedeutet dieses Nein nun ein Ja für einen harten Brexit oder ein Ja zum EU-Verbleib?

Also könnte sie drei Abstimmungsmöglichkeiten anbieten: Ja für den ausgehandelten Vertrag (bekäme voraussichtlich keine Mehrheit), Ja für einen Hard Brexit als EU-Ausstieg ohne jeglichen Vertrag (bekäme voraussichtlich allein schon deshalb keine Mehrheit, weil ein Teil der Brexiter für den Vertrag stimmen würde), und ein Nein gegen den Brexit egal unter welchen Bedingungen. Diese letztere Variante könnte in der aktuellen Situation bei dieser Fragestellung durchaus eine relative Mehrheit bekommen. Dann bliebe die Situation zwar vorerst ungeklärt, da auch der Souverän zu einer klaren Entscheidung außerstande ist – doch eine Mehrheit für einen harten Brexit gäbe es auch nicht.

Für diesen Fall hat der EuGH bereits per Urteil einen Weg aufgezeigt. Kommt der britische Bürger bei einer wie oben beschriebenen Abfrage nicht zu klaren Ergebnissen, könnte May dieses nutzen, um „erst einmal“ bei der EU den Abschied abzusagen. Es hätte keinerlei Konsequenzen – weder für einen Verbleib noch für einen späteren Ausstieg.

Damit bliebe für das Königreich in Sachen EU erst einmal alles beim Alten – und die britische Politik könnte nun den Kopf neu rauchen lassen darüber, ob in mehr oder weniger absehbarer Zeit erneut die Kündigung über den Kanal geschickt werden soll – oder ob man das gesamte Abenteuer als einen Akt nationaler Selbstdemontage abhakt und den Brexit ruhen lässt.

Wenn eine absolute Mehrheit Nein sagt

Noch komfortabler wäre es für May, entschiede sich bei einer solchen Abstimmung eine absolute Mehrheit zusammen weder für den harten noch für den weichen Brexit, sondern schlicht für ein Nein zu jeglichem EU-Ausstieg. Dann hätte May quasi das offizielle Mandat, den Exit vom Brexit als Volkes Willen zu verkünden. In Brüssel flattert die Rücknahme der Kündigung auf den Tisch und die Briten bleiben zu bestehenden Konditionen Mitglied der EU.

Ich erlaube mir an dieser Stelle den Hinweis: Ich gehe seit über zwei Jahren davon aus, dass May in Absprache mit der Queen einen solchen Weg von vornherein geplant hatte. Nur durfte sie ihn niemals offenkundig zeigen, sondern musste immer die harte Aussteigerin geben.

Torschlusspanik erleichtert die Abläufe

Warum aber, wenn das alles geplant gewesen sein soll, dann die Verschiebung der Parlamentsabstimmung? Nun, auch dafür liegen die Gründe auf der Hand. Je näher am Endtermin März die Ablehnung des Vertragswerkes durch das Parlament stattfindet, desto größer der Handlungsbedarf der Regierung und desto kürzer die Mobilisierungszeit der EU-Gegner. Bei denen hat sich Nigel Farage ohnehin zwischenzeitlich selbst versenkt – und Boris Johnson kann sich immer noch nicht entscheiden, oder mehr zu seriöser Politiker oder Pausenclown tendiert.

Sagt also nun das Parlament Ende Januar Nein zum auf dem Tisch liegenden Vertrag, müsste in aller Eile die Abstimmung über das weitere Vorgehen organisiert werden – Volkes Wille wäre gefragt; ganz demokratisch.

Die Abstimmung müsste bis Anfang März vom Tisch sein. Das verhindert langwierige Debatten über das Ob, das Wie, das Weshalb, des Warum oder auch Warum nicht – der Zeitdruck wirkt wie in einem Teilchenbeschleuniger und schafft sich Raum durch eine kurzfristig angesetzte Volksbefragung.

Wenn May die Kündigung kündigt

Angesichts des zu erwartenden Scheiterns der Hard- wie der Soft-Brexiter, die beide keine absolute Mehrheit bekommen werden, müsste May dann umgehend in Brüssel vorstellig werden und die Kündigung zurückziehen. Das gilt auch dann, wenn die Exiter nur eine relative Mehrheit haben sollten. Denn für den nun an sich unausweichlichen harten Brexit gibt es erkennbar ebenfalls keine Mehrheit.

Insofern: Vermutlich liegt das Kündigungsschreiben zur Kündigung des Brexits bereits längst bei May im Safe. Vielleicht liegt es auch schon bei Jean-Claude Juncker in einem versiegelten Umschlag, der nur noch darauf wartet, auf Zuruf von May geöffnet zu werden. Dann bleiben die Briten in der EU – früheres Referendum hin oder her.

Selbstverständlich könnten die harten Brexiter bei einem solchen Vorgehen den Versuch unternehmen, auf die politischen Barrikaden zu gehen. Doch das Abstimmungsverhalten in Parlament und Volksbefragung hätte sie eines der wichtigsten Argumente beraubt: Ihr harter Brexit ist durchgefallen.

May würde diesen Sturm im Wasserglas überstehen und den Exit vom Brexit abwickeln. Anschließend könnte sie dann Neuwahlen einleiten – und sich selbst zurückziehen, falls ihre Partei das erwartet. Sie könnte es aus ihrer Sicht mit besten Gewissen tun, denn sie hätte – trotz all des Schadens, den die Brexit-Agonie bereits angerichtet hat – das geschrumpfte Empire vor noch Schlimmerem bewahrt.

Warten auf die Weihnachtsansprache

Das wäre dann vielleicht die Gelegenheit für die Queen, ihre Vertraute und Retterin des Vereinigten Königreichs in absehbarer Zeit zum Ritter zu schlagen. Ein Grund sollte sich finden lassen.

Vielleicht aber hören wir sogar schon früher von Elisabeth II. So könnte sie beispielsweise in ihrer traditionellen Weihnachtsansprache mit einem blassblauen Kostüm mit gelben Applikationen auftreten und – selbstverständlich gänzlich neutral und ohne sich in die Politik einzumischen – an die Vernunft der Bürger appellieren, sich allen Diskussionen zum Trotz auch in der Zukunft eng an den Kontinent zu binden selbst dann, wenn nun der Brexit kommt. Wohl wissend, dass dieser mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht kommen wird – und dass auch deshalb, weil nicht nur manchem Briten mittlerweile klar geworden ist, dass die Verzahnungen mit den bürgerfernen Administratoren in Brüssel längst zu eng geworden sind, um sie abbrechen zu können. Mehr noch aber, weil die meisten Briten nach zwei Jahren öffentlicher Brexit-Dramaturgie die Nase vom Politiktheater mehr als gestrichen voll haben und lieber die EU in Kauf nehmen, als den nächsten Aufzug des Trauerspiels zu erleben.

Sollte es so kommen, wären die anderen EU-Staaten gut beraten, einfach so zu tun, als wäre nichts gewesen. Die Verwerfungen im Königreich, die der Brexit bereits angerichtet hat, werden auch beim Verbleib in der EU noch manchen Schmerz verursachen. Aber immerhin ist es dann noch ein Königreich, in dem Engländer, Waliser, Schotten und Iren vereint sind und auf Separatismus oder gar Bürgerkrieg verzichten können. Und das allein ist es, worum es Queen und May seit über zwei Jahren geht. Um nicht mehr – und um nicht weniger.