Tichys Einblick
Die „Unentschiedenen“ entscheiden

Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz: Landtags-Demoskopie – ein Spiel mit Zahlen

Für Winfried Kretschmann und Marie-Luise Anna Dreyer geht es nicht nur um die Fortsetzung ihrer politischen Karriere – ihr politischer Erfolg oder Misserfolg wird angesichts der im Spätsommer anstehenden Bundestagswahl auch von bundespolitischer Bedeutung sein.

IMAGO / Arnulf Hettrich

Am 14. März wird in zwei Bundesländern der Landtag neu gewählt. Beide Bundesländer werden derzeit von den Mainstream-Favoriten Grüne oder SPD regiert – einmal mit der CDU, einmal in einer sogenannten Ampel mit Grünen und FDP. In Baden-Württemberg steht der grünschwarzen Koalition der aus dem marxistischen Kommunistischen Bund Westdeutschland stammende Katholik Winfried Kretschmann (72) an der Spitze, in Rheinland-Pfalz ist es die Sozialdemokratin Marie-Luise Anna Dreyer (60). Für beide geht es nicht nur um die Fortsetzung ihrer politischen Karriere – ihr politischer Erfolg oder Misserfolg wird angesichts der im Spätsommer anstehenden Bundestagswahl auch von bundespolitischer Bedeutung sein.

Prognosen lassen schon ein wenig feiern

Wie immer in solchen Fällen werden im Vorfeld der Wahlen sogenannte Prognosen ermittelt. Eine solche lieferte nun auch das ZDF mit seinem „Politbarometer“ – und es gibt Grünen wie SPD sowie ihren medialen Unterstützern Anlass zur Freude. Kretschmann liegt demnach mit seinen Grünen in Baden-Württemberg mit 35 Prozent und 4,7 Prozentpunkten mehr als bei der Landtagswahl 2016 deutlich vorn und wird bereits als nächster Ministerpräsident gefeiert, der sich seine Koalitionspartner aussuchen kann. Ähnlich in Rheinland-Pfalz: Dreyers SPD werden 33 Prozent vorausgesagt – mehr als das doppelte von dem, was die SPD derzeit bundesweit als Unterstützung vorweisen kann. Allerdings 3,2 Prozentpunkte weniger als noch 2016 – Abwärtstrend trotz einer populären Führungsfigur.

Folgerichtig schlecht sieht es für die Konkurrenz aus (in Klammern das 2016-Ergebnis):

• In BaWü kommt die CDU auf Platz 2 mit 24 (27,0) Prozent, es folgen AfD mit 11 (15,1), SPD mit 10 (12,7) und FDP mit ebenfalls 10 (8,3) sowie PdL mit 3 (2,9).
• In RhPf liegt ebenfalls die CDU mit 29 (31,8) Prozent auf Platz 2, gefolgt von Grünen mit 11 (5,3), AfD mit 9 (12,6), FDP mit 7 (6,2), Freie Wähler mit 4 (2,2) und PdL mit 3 (2,8).

Erfreulich an Prognose wie Vorergebnis: Die orthodoxen Kommunisten bekommen im Südwesten offenbar kein Bein auf den Boden. Ein Trend, der sich durch die extremistische Ausrichtung der Partei nach der Auswechslung der Spitze eher noch verstärken dürfte. So scheint vieles darauf hinzudeuten, dass sich an den Regierungskonstellationen wenig ändern wird.

Die „Unentschlossenen“ entscheiden

Und doch führen beide Prognosen in die Irre. Lobenswerterweise hat das ZDF auch veröffentlicht, wie viele der repräsentativ Befragten angeblich noch nicht wissen, ob oder was sie wählen werden. Erfahrungsgemäß rekrutiert sich die jeweilige Zahl aus drei Gruppen: Zum einen jenen, denen der persönliche Frust über das Staatsparteikartell den Wahlgang verunmöglicht, die folglich zuhause bleiben und damit die großen Parteien unterstützen. Zum anderen jenen, die bei der Befragung für den Fall einer ehrlichen Antwort negative Konsequenzen fürchten, folglich sich mit „noch nicht entschieden“ herausreden und nach Stand der Dinge angesichts der öffentlichen Hetze gegen die AfD in genau diese Richtung tendieren. Als dritte Gruppe sind jene zu nennen, die tatsächlich noch nicht wissen, ob und wem sie ihre Stimme geben werden. Diese Gruppe dürfte jedoch bei der Betrachtung zu vernachlässigen sein insbesondere mit Blick auf die Favoriten, denn wer „Kretsche“ oder „Malu“ will, der ist längst entschieden und wird daraus bei der Befragung auch kein Geheimnis gemacht haben.

Hier nun wird es spannend, denn die Zahl der vorgeblich Unentschiedenen wird darüber entscheiden, wie die Parteien tatsächlich abschneiden. Schauen wir auf die beiden Bundesländer.

Rheinland-Pfalz

In Rheinland-Pfalz wird der Anteil der „Unentschiedenen“ mit 36 Prozent angegeben. Damit relativieren sich die recht festen Basiswählerzahlen der Parteien spürbar. Als weitgehend sicher können folgende Sockel an den Wahlberechtigten angenommen werden: SPD 21,1 %, CDU 18,6 %, Grüne 7,0 %, AfD 5,8 %, FDP 4,5 %, Freie Wähler 2,6 % und PdL 1,9 %.

2016 verweigerten rund 30 % die Stimmabgabe. Gehen wir davon aus, dass es 2021 ähnlich viele Wahlverweigerer geben wird, bleibt ein Potential von 6 Prozent der Wahlberechtigten, welches auf das tatsächliche Wahlergebnis einwirken kann – und um welches die Parteien derzeit buhlen. Dabei ist allerdings anzunehmen, dass kaum welche dieser Sechsprozentbürger für die großen Staatsparteien stimmen – sie dürften sich eher auf kleinere Oppositionsparteien aufteilen. Das wiederum bedeutet, wenn wir uns auf den Angstgegner AfD konzentrieren: Theoretisch könnte die Partei, die vom Verfassungsschutz rechtzeitig vor der Wahl zum „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ erklärt wurde, was wiederum von Verwaltungsgericht Köln den „Schützern“ umgehend untersagt worden ist, von 5,8 auf 11,8 Prozent der Wahlberechtigten klettern – was bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent dann sogar einem Endergebnis in Höhe von 16,8 Prozent entspräche.

Auf die anderen Parteien entfielen bei dieser Modellrechnung die folgenden Ergebnisse bei den gültigen, abgegebenen Stimmen: SPD 30,1, CDU 26,6 %, Grüne 10,0 %, FDP 6,4 %, Freie Wähler 3,7 %, PdL 2,7 %.

Nun ist nicht zu erwarten, dass Staatsparteien- und Coronafrust all jene, die im Moment noch als nicht entschiedene, wahlbereite Wahlbürger anzunehmen sind, den Weg zur AfD wählen werden. Einige werden vielleicht bei der FDP oder bei den Freien Wählern ihr Glück versuchen, ihre Stimme einer sogenannten Splitterpartei geben, sich den bislang rund 30 Prozent Wahlverweigerern anschließen oder in einer letzten Aufwallung alter Loyalität doch eine der Staatsparteien unterstützen. Aber allein die theoretische Möglichkeit, dass die AfD im für sie optimalen Fall bis zu fast 17 Prozent der abgegebenen, gültigen Stimmen einfahren könnte, erklärt die Panik, mit der gegen diese Konkurrenz vorgegangen wird.

Baden-Württemberg

Noch deutlicher wird die entsprechende Betrachtung mit Blick auf Baden-Württemberg. Hier schmelzen Kretschmanns 35 Prozent angesichts eines „Unentschiedenen“-Anteils von sage und schreibe 52 Prozent rasant auf einen Realwert in Höhe von 16,8 %. Auf die anderen Parteien entfallen entsprechend folgende Sockel: CDU 11,5 %, AfD 5,3 %, SPD und FDP je 4,8 %, PdL 1,4 %.

Der Anteil der Wahlverweigerer lag 2016 ebenfalls bei rund 30 %. Damit nun gibt es im Südwesten derzeit sogar ein Wählerpotential von 22 %, welches möglicherweise noch von den Parteien anzusprechen wäre, um welches deshalb gegenwärtig Wahlkampf geführt wird. Wie bereits im Falle Rheinland-Pfalz dargelegt, werden diese nicht geschlossen zu nur einer Partei gehen, möglicherweise sich auch mehrheitlich den Reihen der Wahlverweigerer anschließen – doch zumindest in der Theorie ist nicht auszuschließen, dass es sich bei diesem 22-Prozent-Potential um Personen handelt, deren Frust über die Staatsparteien mittlerweile so groß ist, dass sie sich für die AfD entscheiden könnten. Die Ungeliebten kämen dann auf sogar 27 Prozent der Wahlberechtigten und damit auf 39 % der abgegebenen gültigen Stimmen. Die etablierten Parteien fielen in diesem Falle auf folgende Werte: Grüne 24,8 %, CDU 16,4 %, SPD und FDP je 6,9 %, PdL 2,0 %. Die Partei, die der Dauerdiffamierung durch Politik und Medien ausgesetzt ist, hätte dann sogar ersten Anspruch auf den Sitz des Ministerpräsidenten.

Allerdings wird weder das eine noch das andere geschehen. Selbst für den Fall, dass die AfD alle derzeit noch „unentschlossenen“ und nicht notwendig wahlverweigernden Wähler hinter sich einen könnte, fehlte ihr der Koalitionspartner. Auch ist nicht davon auszugehen, dass tatsächlich all jene Wahlberechtigten, die in dieser Modellrechnung ungekürzt der AfD zugerechnet wurden, tatsächlich diesen Schritt gehen werden.

(Fast) alles ist möglich

Das Spiel mit den Zahlen der Prognosen allerdings macht eines mehr als deutlich: Die hochgeträumten Ergebnisse der Altparteien sind noch lange nicht in trockenen Tüchern. Vor allem in Baden-Württemberg ist noch (fast) alles drin – von der Wahlverweigerung eines jeden zweiten Wahlberechtigten mit einem grün strahlenden Ministerpräsidenten bis zum Schockergebnis einer AfD, das den Altparteien den Schrecken in die Glieder jagen könnte. Sollte sich in der Woche vor der Wahl am Prognosestand nichts ändern, kann am Wahlabend Denkbares wie Undenkbares geschehen – und so oder so der Beweis erbracht werden, dass Prognosen nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt werden, wenn dabei über die Hälfte der Befragten schlicht nicht mitspielt. Vor allem Kretschmann und seiner grünschwarzen Koalition könnte daher eine unruhige Nacht bevorstehen.

In Rheinland-Pfalz allerdings kann Dreyer mit etwas mehr Ruhe in den Wahlabend gehen. Zwar könnte auch dort die AfD deutlich besser als gegenwärtig prognostiziert aus dem Rennen gehen – doch Dreyer wird, sollte es für die Ampel nicht reichen, immer noch mit der CDU regieren können und so ihr Ministerpräsidentenamt für die nächste Legislaturperiode sichern. Lediglich in den Parteien könnte es dann den einen oder anderen geben, der sich angesichts der Prognosen bereits seine Abgeordnetenalimente ausgerechnet hatte und nun darauf verzichten muss. Das allerdings ist verschmerzbar – zumindest für diejenigen, die weiter in den gut dotierten Ministerämtern sitzen.

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