Tichys Einblick
Vive la révolution?

2018. 1968? 1789! Gegen die Mächtigen von Gestern

Brennende Barrikaden auf Frankreichs Straßen. Das Nationalsymbol Triumphbogen geschändet. Gelbe Westen allenthalben. Erleben wir gerade die zweite Phase einer Revolution? Den Aufstand des Volkes gegen seine Mächtigen von gestern?

Teargas surrounds riot police as they clash with protesters during a 'Yellow Vest' demonstration near the Arc de Triomphe on December 1, 2018 in Paris

© Getty Images

Brennende Barrikaden auf Frankreichs Straßen. Das Nationalsymbol Triumphbogen geschändet. Gelbe Westen allenthalben. Erleben wir gerade die zweite Phase einer Revolution? Den Aufstand des Volkes gegen seine Mächtigen? Die Organe der Macht sind da noch zurückhaltend, sprechen in ihrer Rechts-Links-Prägung vorerst nur von „rechts- und linksextremen Randalierern“- welch‘ eine spannende Koalition! Aber Hauptsache, die politische Gesäßgeographie findet sich im Wirrwarr irgendwie zurecht.

Der Hang zur Revolution

Den Franzosen wird unterstellt, gern einmal ihre herrschende Klasse durch eine Revolution auszutauschen. Anders als ihre zumeist etwas naiven und im Kern friedliebenden deutschen Nachbarn scheuen die Nachkommen der romanisierten Franken auch nicht davor zurück, ihre Revolutionen mit viel Blut und Zerstörung bis zum bitteren Ende durchzuführen. Fast immer jedoch sprang der Funke vom Fass der französischen Revolutionen über auf die kontinentalen Nachbarländer. Denn so sehr Deutsche und Franzosen in ihrer gemeinsamen Geschichte immer wieder einmal übereinander herfielen – ihre Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft lagen zumeist nicht allzu weit auseinander. Ihr Denken wurde und wird von denselben europäischen Philosophen geprägt.

„Dann sollen sie doch Kuchen essen!“

Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Ancien Régime in seiner Dekadenz und Bürgerferne nicht mehr in der Lage war, die Bedürfnisse den einfachen Volkes zu befriedigen, muckte dieses auf. Es begann mit dem Ruf nach niedrigeren Brotpreisen – und die der habsburgischen Königin Marie Antoinette zugeschriebene Anekdote, wonach sie den Unzufriedenen empfahl, dann doch Kuchen zu essen, erwies sich als wenig hilfreich angesichts der Tatsache, dass derlei Leckereien damals nur dem Adel und dem Klerus vorbehalten waren. Ursächlich für des Volkes Unmut jedoch war eine ausufernde Staatsverschuldung, die in keinem nachvollziehbarem Verhältnis stand zu den Ausgaben, die die Elite in Kanäle fließen ließ, von denen der einfache Bürger keinen Nutzen hatte. Er sollte es nur bezahlen.

Der verzweifelte Versuch der Unterdrückung

Damals versuchten die Herrschenden eine Zeitlang noch, die Unruhen des gesellschaftlichen Bodensatzes mit Gewalt zu unterdrücken – doch schnell kippte die Stimmung, die Sicherheitskräfte wechselten die Seiten und die Vertreter der Herrschenden wurden hinweggefegt oder im wahrsten Sinne des Wortes einen Kopf kürzer gemacht. Auf der Seite der Revolution standen schon längst nicht mehr nur jene Dauerunzufriedenen vom untersten Rand der sozialen Hierarchie – das, was man heute als Mittelschicht bezeichnet, entschied damals wie heute über den Erfolg der Aufstände.

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Gut 30 Jahre nach dem Höhepunkt des revolutionären Furors fegten die Franzosen dann erneut den restaurierten König vom Thron – und 1848 übernahmen die Bürgerlichen scheinbar endgültig in einem revolutionären Akt die Macht. Allerdings nur, um mit Napoleon III einen Berufsrevolutionär zum Präsidenten zu machen, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als die junge Republik durch ein totalitäres Kaiserreich abzulösen, welches 1870 nach dem französischen Angriffskrieg gegen Preußen seinerseits erneute revolutionäre Aufstände schuf um durch die nächste Republik ersetzt zu werden.
Die 68er-Unruhen der Eliten

Auch 1967 ging der Funke des Revolutionären einmal mehr von Frankreich aus – und wie 1848 ergriff er auch den östlichen Nachbarn. Jedoch war diese 68er-Revolution keine solche. Sie war nur ein Aufstand von Studenten und Intellektuellen und scheiterte in ihrem Ziel, die Straßen in Flammen zu setzen, daran, dass die bürgerliche Mittelschicht die Notwendigkeit eines derart radikalen Schnitts wie 1789 nicht zu erkennen vermochte. Was auch im aufstandsgeplagten Berlin erheblich zum Frust der Revolutionäre beitrug, mochte doch nicht einmal die angeblich unterdrückte Arbeiterklasse eine revolutionäre Notwendigkeit zu erkennen – von der als Spießer geschmähten Mittelschicht, die sich nach dem letzten Krieg gerade in ihrem Wirtschaftswunder sonnte, ganz zu schweigen.

Ein Gesetz der Serie?

Gleichwohl: Glaubt man an so etwas wie ein Gesetz der Serie, so scheinen die Bürger nicht nur in Frankreich alle 60 Jahre das Bedürfnis zu haben, ihr in die Jahre gekommenes System wenn nicht grundlegend zu verändern, dann zumindest ein wenig auf den Kopf zu stellen. 1789 bis 1848 – 59 Jahre. 1848 bis 1968 – 120 Jahre. Die Zwischenstation von 1908 verlief erstaunlich ruhig – auch wenn die Suffragetten in London eine halbe Million Leute auf die Straßen brachten. Doch dem Volk diesseits und jenseits des Ärmelkanals ging es zu gut, als dass ein Systemwechsel angestrebt wurde.

Dafür probten dann bei den Deutschen zehn Jahre später ein paar Matrosen und Berufsrevolutionäre den Aufstand – während der Kanzler schon einmal den Kaiser ins Exil nach Holland geschickt hatte. Der Europäische Bruderkrieg hatte die Zeitschienen durcheinander gewirbelt.

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Bleiben wir bei dem Gesetz der Serie, dann müsste Zentraleuropa um 2028 wieder einmal durch revolutionären Elan erschüttert werden. Vielleicht aber bringt es die Hektik der Moderne mit sich, dass die Zeitabstände kürzer werden. Immerhin kam es 1989 in den mitteleuropäischen Staaten unter russischer Hegemonie zu revolutionären Bewegungen. Vielleicht aber auch beruhen diese 60 Jahre des 19. und 20. Jahrhunderts einfach nur auf Zufällen.
Schon mehr als Gärung

Wie immer man es auch betrachten mag – es gärt. Die vorrevolutionäre Phase ist eigentlich nicht mehr zu übersehen – auch wenn die Staatseliten dieses selbstverständlich nicht erkennen wollen. Das aber zeichnet letztlich jede Revolution aus: Die Herrschenden begreifen den revolutionären Elan zumeist erst dann, wenn es für sie zu spät ist.

In Frankreich brennen wieder die Barrikaden. Das Nationalsymbol Triumpbogen wird geschändet. Das ist schon mehr als Gärung. Schauen wir auf jene Bürger, die dort in den gelben Westen der Revolution auf die Straße gehen, reibt man sich verwundert die Augen. Das sind nicht jene spätpubertierenden Kampfbrigaden, die als Antifa oder Schwarzer Block ihre persönliche Identitätskrise ausleben. Auch wenn es vorrangig diese sein dürften, die Feuer an die Autos und Hämmer an den Triumphbogen legen.

Das, was vor den Kameras der Welt seinen Zorn artikuliert, ist klassische Mittelschicht. Bürger aus der Mitte der Gesellschaft, denen schlicht der Kragen platzt, weil die Herrschenden ihnen mit Steuern und ständig steigenden Abgaben das finanzielle Blut aus den Adern saugen, mit dem dann alles Mögliche finanziert wird – nur nicht das, was der Bürger als notwendig erachtet.

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Genau dieses, dieser Zorn der Mittelschicht gegen eine Staatselite, die jegliche Bodenhaftung verloren hat, erinnert an 1789. Nicht an 1968, als ein paar verzogene Bürgerkinder im Schulterschluss mit Intellektuellen wie Jean-Paul Sartre und Jean-Luc Godard die Revolution probten und damit immerhin einen Generalstreik verursachen konnten.
Macron als frührevolutionäres Symptom

Frankreich ist längst mittendrin in der Revolution. Auch wenn es das selbst noch nicht bemerkt hat. Denn jener Mann, der jetzt hilflos an der Spitze des Staates steht und seine Welt nicht mehr versteht, war selbst der erste Schritt in das, was derzeit geschieht. Emmanuel Macron, dieses bis dahin noch weitgehend unbeschriebene Blatt, erweist sich längst schon als vielleicht unbewusster Versuch, die von Sonnenkönigen wie Nicolas Sarkozy und Sozialromantikern wie Francois Hollande an die Wand gefahrene Republik vor dem radikalen Umsturz zu bewahren. Als die Franzosen vor der Wahl standen, sich für Restauration oder Revolution zu entscheiden, gaben sie der sanften Revolution des Unbekannten eine Chance.

Macron und seine Ein-Mann-Bewegung En Marche hängten die Konkurrenz der Nationalen Front ab – und gemeinsam hinterließen er und Marine Le Pen das traditionelle Parteiensystem als Trümmerhaufen. Die Franzosen gaben einem gefühlten Revolutionär eine letzte Chance, den Staat zurück auf die Füße zu stellen. Doch wie so häufig im Vormärz sollte sich der Hoffnungsträger nur als ein letzter Versuch des Ancient Regime entpuppen, die Revolution durch starke Worte zu verhindern.

Der Zögling der französischen Eilte

Macron, selbst Zögling französischer Elitenbildung, wusste, großartige Geschichten zu erzählen. Von einem großartigen Europa, in dem Frankreichs Schulden von den Deutschen bezahlt würden. Von einer Grande Nation, die doch schon längst an ihrer eigenen Unfähigkeit, den zentralistischen Staatssozialismus zu überwinden, gescheitert ist. Jetzt stehen die Bürger in gelben Westen auf den Straßen. Was 1789 die Brotpreise waren, ist heute das Benzin. In seiner Gier nach Geld saugt der französische Staat den Bürgern ihr Blut aus. So empfinden sie es. So formulieren sie es.

Wie einst das Ancien Régime versucht es der neue König mit Peitsche und Zuckerbrot. Prügel für den revoltierenden Bürger. Gesprächsangebote an die anderen Parteien – und an die Gelbwesten.

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Das eine so lächerlich wie das andere. Die anderen Parteien – sie sind schon mit Macrons Wahl aus dem politischen Geschäft verschwunden, zucken nur noch als verwesende Körper einer für sie besseren Zeit. Selbst Marine Le Pens RN, mit der sich Macron voraussichtlich in der allgegenwärtigen Recht-Links-Schablone nicht unterhalten werden wird, findet in der Revolution der gelben Westen nicht mehr statt. Sie scheint abgetaucht – untergegangen und überspült von der Vehemenz der Proteste. Auch sie entpuppt sich so als ein Relikt des vor dem Zusammenbruch stehenden Systems.

Und die Gespräche mit den Gelbwesten? Mit wem will Macron reden? Die revolutionären Prozesse, die sich gegenwärtig auf Frankreichs Straßen Bahn brechen, haben keine Sprecher. Sie haben nicht einmal Strukturen. Doch das wird jemand wie Macron, der in Strukturen aufgewachsen ist und nur in Strukturen denken kann, kaum verstehen können. So wie einst auch Ludwig XVI nicht in der Lage war zu verstehen, was da auf Frankreichs Straßen ablief.

Vom Umgang mit der Revolution

Spannend sein wird es, zu schauen, wie dieser Macron des Volkes Zorn besänftigen will. Greift er zu den klassischen Instrumenten der Repression, wie sie auch im vorrevolutionären Deutschland durch staatliche Maßnahmen der Zensur und Diffamierung längst im Gange sind, wird er entweder sich selbst zum Diktator aufschwingen müssen – oder hinweggefegt werden.

Wie will er die Gelbwesten besänftigen? 2018 ist nicht 1968. Damals konnte die elitäre Revolution noch durch Kompromisse ausgehebelt werden. Der revolutionäre Elan aus der Breite des Volkes hingegen lässt sich mit Kompromissen aus den Hinterstübchen der Intellektuellen kaum besänftigen. Und insofern erleben wir in Europa derzeit ein spannendes Experiment, welches wie so häufig seinen Ursprung bei den revolutionsgewohnten Franzosen nimmt: Die Abwehr der demokratischen Revolution durch jene, die sich selbst als die Inkarnation der perfektionierten Demokratie verstehen. Ergebnis: Offen.

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Auch der Blick auf Deutschland bleibt spannend. Weil die Voraussetzungen fast identisch sind. Mit nur dem einen Unterschied, dass die nun abflauende Konjunktur den Mittelschichtbürger bislang noch hinter den Erzählungen der herrschenden Eliten binden konnte. Doch das scheint sich dem Ende zuzuneigen – und das Aussaugen des Blutes aus den finanziellen Adern der Bürger, um damit Unzähliges zu finanzieren, dessen Sinn und Zweck dem Ausgesaugten nicht nachvollziehbar ist, könnte auch bei den immer so staatstreuen Deutschen manch revolutionäres Flämmchen zünden.

Es wäre nicht das erste Mal, dass die Franzosen den Deutschen zeigen, wie es geht. Auch wenn der deutsche Michel dann zumeist an seiner eigenen Naivität gescheitert ist. Revolutionen haben eben immer auch etwas mit Mentalität und Volksidentität zu tun. Auch wenn es dem Ancien Régime so gar nicht gefallen mag.