Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 06-2020

Großbritanniens neue Freiheit macht den EU-Bürokraten Angst

Die EU will in den anstehenden Verhandlungen mit Boris Johnson vor allem eines beweisen: Ein EU-Austritt lohnt nicht! Das kann sich als Irrtum erweisen.

Alberto Pezzali/NurPhoto via Getty Images

Verräterisch ist die Sprache, die der ehemalige deutsche Spitzenkandidat der europäischen Konservativen, Manfred Weber, vergangene Woche in einem Interview mit der WELT gewählt hat: „Wenn der Brexit gefühlt zum Erfolg wird, dann ist das der Anfang vom Ende der EU.“ Genau diese Strategie scheint aber nicht nur der als Möchtegern-Kommissionspräsident gescheiterte CSU-Mann verfolgen zu wollen. Auch die Tonlage, die der französische EU-Verhandlungsführer Michel Barnier anschlägt, weist in diese Richtung. Es liege in der Hand des Vereinigten Königreichs, ob es sich auch künftig weitgehend an die EU-Regeln halten wolle oder nicht. Davon wird seiner Meinung nach das Ausmaß des Freihandels mit Großbritannien abhängen. Auch Ursula von der Leyen ließ sich kämpferisch vernehmen und will die Interessen der EU bis zum Letzten verteidigen.

Die EU-Bürokraten wollen also an den Briten ein Exempel statuieren, um zu belegen, dass ein Ausstieg aus ihrem supranationalen Konstrukt scheitern muss? Nachahmer sollen abgeschreckt werden? Das klingt wie das Pfeifen im Wald. In Brüssel geht die Sorge um, dass sich die Mitgliedstaaten unter dem Druck ihrer Bevölkerung immer deutlicher von den europäischen Zentralstaats-Ansprüchen zu befreien suchen, die in Wahrheit hinter der jahrzehntelangen „Ever closer union“ steckten. Doch die Nationalstaaten und ihre Bürger sind noch immer in der EU der eigentliche Souverän. Die europäischen Eliten verfügen nur über eine geliehene Teilmacht. Und selbst dieser scheinen sie sich alles andere als sicher zu sein, wenn sie jetzt so kleinkariert auf die neue britische Freiheit vor der europäischen Haustür reagieren.

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Dass Boris Johnson nach seinem Wahlsieg, der ihm innenpolitisch bis zum Jahr 2024 eine solide Mehrheit beschert hat, die neue britische Souveränität auskosten will, kann ihm niemand verdenken: „Wir werden die volle souveräne Kontrolle über unsere Grenzen, die Zuwanderung, die Regeln des Wettbewerbs, der Staatshilfen und des öffentlichen Beschaffungswesens wiederherstellen“, betonte er am Montag in Richtung Brüssel. Damit positioniert sich Johnson sehr klar gegen die Bedingungen, die man dort als Gegenleistung für den Abschluss eines Freihandelsabkommens mit dem Vereinigten Königreich erwartet.

Auch wenn im Jahr 2018 53 Prozent der britischen Importe und 45 Prozent der britischen Exporte über EU-Außengrenzen abgewickelt wurden, lässt sich aus dieser Tatsache allein kein uneingeschränktes europäisches Erpressungspotential gegenüber dem UK ablesen. Denn wirtschaftliche Prozesse sind dynamisch. Was den Briten schadet, hinterlässt auch in der EU Bremsspuren. Außerdem hat die EU einiges zu verlieren, wenn sie die Briten gnadenlos in die Ecke drängt und dadurch etwa die britische Kooperationsbereitschaft auf dem Gebiet der Verteidigungs- und Außenpolitik verliert oder auch in der Forschung. Die neue Souveränität, die Großbritannien ohne das EU-Zwangskorsett selbstbewusst für sich in Anspruch nehmen wird, birgt für das Land auch Chancen. Das gilt nicht nur für den Finanzplatz London, sondern auch für die britische Volkswirtschaft im Ganzen.