Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 33-2021

Angela Merkels Erbe: Der Absturz einer Volkspartei

Wenn sich die Union nach der Bundestagswahl in der Opposition wiederfindet, kann sie sich bei ihrer langjährigen Vorsitzenden und Langzeitkanzlerin bedanken.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, bei einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt in Berlin, 31.08.2021

IMAGO / photothek

Die einen reagieren panisch, die anderen mit Galgenhumor. Egal, in welchen Regionen der Republik man mit CDU- oder CSU-Mitgliedern spricht: Immer mehr rechnen inzwischen mit einer nicht mehr abwendbaren Niederlage bei der Bundestagswahl. Man macht sich zwar offiziell Mut für den Endspurt, aber die Motivation an der Parteibasis tendiert gegen Null. Denn was der demoskopische Absturz von rund 10 Prozent binnen der letzten Monate zeigt, deckt sich auch mit den Erfahrungen, die viele Unionswahlkämpfer tagtäglich machen. Nicht nur die vielen „links- oder grüngestrickten Journalisten“ in den Leitmedien, so klagen sie, schreiben und senden die Union und ihren Kanzlerkandidaten in den Keller, sondern auch viele Wähler schreckt die Aussicht keineswegs, die Union nach 16 ewigen Regierungsjahren mal wieder in die Opposition zu schicken. Je nach künftiger Gesamtstärke des Bundestags könnte die bisher 245 Abgeordnete starke Unionsfraktion um bis zu 100 Mitglieder schrumpfen, während sich die Grünen mit bisher 67 Mandaten mehr als verdoppeln und die SPD, die bisher über 152 Mandate verfügt, mit bescheidenem Zugewinn die CDU/CSU voraussichtlich als stärkste Fraktion ablöst.

Panisch reagieren im vertraulichen Gespräch vor allem die Unions-Abgeordneten, die ihr noch vor Monaten sicher geglaubtes Mandat zu verlieren drohen. Weil nicht einmal bisher sicher gewonnene Direktwahlkreise den Einzug ins Parlament garantieren, werden manche ihre zusätzliche Listenplatz-Absicherung in Anspruch nehmen müssen und dafür andere Kollegen aus dem Mandat drängen. In diesen Kreisen wird nicht mit Kritik an einer Kanzlerin gespart, deren betonte Distanz zur eigenen Partei immer mehr harsche Reaktionen provoziert. Namentlich will sich in der heißen Wahlkampfphase immer noch niemand zitieren lassen, vielleicht auch, weil nicht wenige von den heutigen Kritikern über Jahre klaglos abgenickt haben, was unter Angela Merkel in der Euro-Krise, der Massenmigration oder der EU-Schuldenvergemeinschaftung als „alternativlos“ durchgesetzt wurde. Peinlich wird dort nicht nur ihre Lobhudelei für Greenpeace empfunden, wo sie persönlich mitten in der heißen Wahlkampfphase zum Fünfzigsten gratulierte, während sie sich bei Parteiveranstaltungen äußerst rar macht. Wohl noch nie hat eine langjährige Parteivorsitzende und Kanzlerin so wenig Herzblut und Leidenschaft für ihre eigene Partei ausgestrahlt wie Angela Merkel. Selbst ihre jüngste kleine Attacke in Richtung Olaf Scholz, mit der sie – allerdings erst auf Nachfrage eines Journalisten bei einem Pressetermin und nicht aus eigenem Antrieb – einer Koalition mit der Linken eine Absage erteilte, im Gegensatz zu ihrem Vizekanzler, ändert an dieser Einschätzung nichts mehr.

Aussichten zur Bundestagswahl
Die Union wird Opfer ihrer Unterschiedslosigkeit zu SPD und Grünen
Bei nicht wenigen regiert der Galgenhumor. Sie erinnern an die Sonthofen-Strategie, die einst in den Siebziger Jahren Franz Josef Strauß gepredigt hatte, um die damalige rot-gelbe Regierung Helmut Schmidt in ihrem Problemsumpf ersticken zu lassen. Die Union, damals in der Opposition, sollte keine eigenen Rettungsvorschläge mehr unterbreiten, sondern die Sozialdemokraten und Liberalen ihren Augiasstall selbst ausmisten lassen. Wenn jetzt die Linken und Grünen an die Regierung kommen, sollen die doch die Suppe auslöffeln, die zwei Große Koalitionen angerichtet haben. Sie werden daran scheitern, weil Linke und Grüne noch nie mit Geld umgehen konnten. Je länger Olaf Scholz dann im Kanzleramt sitzt, umso mehr wird die Mitverantwortung der Union für die ökonomische Malaise in Vergessenheit geraten. Dann können sich CDU und CSU in der Opposition wieder regenerieren und das Ruder wieder übernehmen, weil Linke und Grüne das Staatsschiff doch nicht besser durch die Klippen schiffen können.

Wenn sie sich nur da nicht täuschen. Die Siebziger Jahre der alten Bonner Republik, in der sich die Union in der Opposition tatsächlich regenerierte, sind vorüber. Die konservativen Volksparteien CDU und CSU sind ausgeblutet, haben ihre Markenkerne längst verloren. Die Sklerose der Union ist in den vergangen eineinhalb Jahrzehnten in atemberaubenden Tempo vorangeschritten, weil sie fast ausschließlich Themen der politischen Konkurrenz übernommen und keine eigenen Visionen formuliert hat. Dass die Unionsparteien vor allem Regierungsparteien sind, die ohne Regierungsmacht buchstäblich implodieren, belegen die Länder, in denen die Union einst der Platzhirsch war. In Baden-Württemberg ist die CDU nur noch ein Schatten ihrer alten Herrlichkeit, obwohl sie sich – nach einer fünfjährigen Auszeit in der Opposition – zum zweiten Mal als Juniorpartner der Grünen wenigstens noch Ministerposten gesichert hat. Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz oder die ostdeutschen Länder: die CDU ist meilenweit von der Regierungsfähigkeit entfernt. Über Jahre sonnte sie sich im Glanz der letztverbliebenen Volkspartei Deutschlands und merkte nicht, wie sie personell und programmatisch immer mehr ausblutete. Plötzlich wird sie selbst von den totgesagten Sozialdemokraten überholt, auch wenn die SPD deshalb lange nicht zur Volkspartei aufsteigt. Wie überhaupt die Bonner Republik mit ihrer alten Volksparteienherrlichkeit, wo sich Union und SPD um die Herrschaft stritten und meist die kleine FDP als Steigbügelhalter brauchten, endgültig vorüber ist. Denn auch die Grünen werden diese Rolle nicht ausfüllen. Die Berliner Republik wird sich an ein sehr heterogenes Mittelparteien-Spektrum gewöhnen müssen, in dem Dreier-Koalitionen zur Normalität werden.

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