Tichys Einblick
Digitalisierung auf den Punkt gebracht

Die Zwei Seiten der Digitalisierung: Kunde und Anbieter

Die Debatte um die Digitalisierung wird an Antworten nicht reicher, weil sich inzwischen eine Kultur des Gefasels entwickelt hat, wo nur wenige wissen, worum es geht, aber alle so tun, als könnten sie mitreden.

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Alle sprechen von Digitalisierung. Die Gazetten sind voll, die Seminaranbieter überbieten sich wechselseitig mit Angeboten und selbst Politiker wollen sich damit beschäftigen. Fachleute und solche, die sich dafür halten, erzählen, was ist und wie sie sich die Welt von morgen vorstellen. Weil ein Oberbegriff wie „Digitalisierung“ zur Diskussion längst nicht mehr reicht, hat man begonnen diesen aufzufächern. Und so fehlen in keiner Debatte, in keinem Vortrag Schlagwörter wie „künstliche Intelligenz“, „machine learning“, „micro services“, „block chain“, „agiles arbeiten“ und manches mehr.

Dennoch wird die Debatte um die Digitalisierung an Antworten nicht reicher, weil sich inzwischen eine Kultur des Gefasels entwickelt hat, wo nur wenige wissen, worum es geht, aber alle so tun, als könnten sie mitreden. Deshalb wird das ungenaue durch noch ungenaueres ergänzt. Und so wird unsere immer schwieriger zu begreifende Welt mit Hilfe eines nebulösen Themas um weitere Facetten der Irritation bereichert.

Bevor man sich an nebulösen Details abarbeitet, sollte eine grundsätzliche Einordnung der Digitalisierung als eine die Menschheit vollständig verändernde Technologie erfolgen. Wie müssen wir die Frage beantworten, wie mit dieser vollständigen Veränderung unserer Lebenswirklichkeit umgegangen werden soll.

In der Wirtschaft vollzieht sich die Digitalisierung zweigleisig, einmal auf der Anbieterseite in Form einer fortschreitenden Prozessoptimierung und auf der Nutzerseite durch immer höhere Erwartungen an die Bequemlichkeit.

Die Debatte um die Prozessoptimierung mündet regelmäßig in der Frage, welche jener Tätigkeiten, die heute noch von Menschen erbracht werden, künftig wegfallen, weil sie automatisiert werden. Es geht also zunächst um die Frage der Ausgestaltung und dann nach dem Erhalt von Arbeitsplätzen.

Er ist wieder da: der Mensch
Festmahl der Digitalisierung
Treiber der Prozessoptimierung und damit der permanenten betrieblichen Anpassung ist der Wunsch des Kunden nach (mehr) Bequemlichkeit. Tatsächlich ist mit der Digitalisierung eine völlig neue Dimension an Bequemlichkeit möglich geworden. Dabei ist ein Mehr an Bequemlichkeit der Feind von weniger Bequemlichkeit und insbesondere von Umbequemem. Es macht also nicht primär der Mitbewerber Druck zu verändern, sondern der Kunde, dessen Neigung das jeweils bequemere vorzuziehen, keine Grenzen kennt. Deshalb wird die Prozessoptimierung im Ergebnis nach vollständiger Automatisierung streben, an deren Ende der weitgehende Wegfall menschlicher Arbeit stehen kann, soweit diese mit Unbequemlichkeit verbunden ist. Das erinnert an Clausewitz, der ein solches Phänomen als die erste der drei Wechselwirkungen beschreibt, die im Krieg zum Äußersten führt.

Prozessoptimierung ist nichts grundsätzlich Neues, denn seit tausenden von Jahren verbessern Erfindungen das Leben und die Arbeit von uns Menschen, dienen also unserer Bequemlichkeit. Nun werden die von der Arbeitsveränderung Betroffenen an dieser Stelle einwenden, dass eine solche Betrachtungsweise dem nicht hilft, dessen Arbeitsplatz wegfallen wird. Das ist nachvollziehbar. Im Falle der Digitalisierung, soweit sie sich als Prozessoptimierung ausdrückt, wird das vielleicht noch eine Zeit insoweit relativiert, als die demographische Entwicklung den Wegfall von Arbeitsplätzen mindestens teilweise kompensieren wird und im übrigen die Digitalisierung ihrerseits Arbeitsplätze schafft. Und wen das nicht überzeugt, dem muss ganz einfach entgegen gehalten werden, dass es keine Garantie der Nichtveränderung gibt, denn sie ist nun einmal systemimmanenter Teil des Fortschrittes, dessen primäre Triebfeder der Wunsch nach mehr Bequemlichkeit ist.

Dennoch muss eine Gesellschaft mit dieser Entwicklung umgehen, weil es sein könnte, dass die arbeitstechnischen Veränderungen schneller umgesetzt werden müssen, als uns die demographische Entwicklung Zeit verschafft. Längst hat die Digitalisierung die wirtschaftliche Situation dramatisch verändert, auch weil sie grenzenlos ist und sich zunehmend der politischen Kontrolle entzieht. Bequemlichkeit im Einzelfall oder allgemein zu verhindern, bedarf immer massiven politischen Handelns. Und nationalstaatlichen Regulierungen stehen einer grenzüberschreitenden Digitalisierung schon strukturell entgegen.

Auch wenn kein Tag vergeht, an dem wir uns nicht über VW, den Dieselskandal und die Feinstaubbelastung informieren lassen, sind die Produktion und der Export von Autos kein Modell zum Überleben unserer Nation. Mit der gesellschaftspolitischen Fokussierung auf die old economy laufen wir auf deutscher und auch europäischer Ebene Gefahr, durch das nahezu konkurrenzfreie Wirken von Unternehmen wie Facebook, Apple, Google und Amazon die Deutungshoheit bei der Digitalisierung zu verlieren. Unsere Verweise auf Datenschutz und Datensicherheit gleichen eher einem Verzögerungsgefecht, zeugen aber nicht vom Willen auf einem sich geradezu dramatisch entwickelnden Feld der Wirtschaft wieder ein Stück wirtschaftspolitische Entscheidungs- und Bestimmungskompetenz zurück zu holen. Digitalisierung ist eben mehr, als Glasfaserkabel zu legen, wobei wir nicht einmal das hinbekommen.

Als die tyrannischste aller Regierungsformen bezeichnet Hanna Arendt die Bürokratie, weil sie die Herrschaft des Niemand sei. Mit der Digitalisierung laufen wir Gefahr uns einer solchen Tyrannei des Niemand zu ergeben, denn mit der geradezu unendlichen Neigung, Daten zu sammeln, um daraus mit Hilfe mathematischer Algorithmen Verhaltensweisen vorzugeben oder zu steuern, kann sich die größte Form der Fremdbestimmung entwickeln. Dies ohne jede demokratische, ja nicht einmal mehr menschlicher Kontrolle. Der Tyrann wird also – anders als bei Schillers Bürgschaft – nicht mehr namentlich genannt werden können.

Was dann passiert, hat Franz Kafka geradezu visionär in seinem Roman „Der Prozess“ vorweggenommen. In der dort beschriebene Apokalypse der individuellen Machtlosigkeit kämpft Joseph K. vergeblich gegen die Herrschaft durch Niemanden an, nachdem er ohne dass er etwas Böses getan hätte, eines Morgens verhaftet wurde, wohl weil ihn jemand verleumdet haben muss.

Und so stellt sich die Frage, ob wir nicht alle Kraft zusammennehmen müssen, um dieser Herrschaft der potentiellen Tyrannei durch Niemanden entgegenzutreten. Ist es nicht so, wie in der Kafka‘schen Türsteherparabel, dass wir durch die Tür des Rechts, der Werte hindurchgehen müssen, bevor sich diese schließt, oder wir zu alt sind, um hindurch zu gehen und die nächste Generation sich hoffnungslos in der Tyrannei des Niemands ergeben hat. Dazu muss aber jeder Einzelne damit anfangen, darüber nachzudenken, ob es nicht sinnvoll sein könnte, aus der Komfortzone der Bequemlichkeit heraus zu treten.

Stellen Sie sich vor, daß Sie jede Nacht hören, wie jemand versucht, in Ihre Wohnung einzubrechen, wie Sie beim Betreten Ihrer Wohnung erst ganze Heerscharen von Einbrechern vertreiben müssten, die es auf Ihr Hab und Gut abgesehen haben. Unsere Gesellschaft würde sich gänzlich anders organisieren; jedenfalls wäre das Gewaltmonopol des Staates kein solches, es würde der Gewalt der Straße des einzelnen weichen müssen. Selbstjustiz und das Recht des Stärkeren würden zur Selbstverständlichkeit werden.

Jedes Unternehmen, das am digitalen Wirtschaftsleben teilnimmt, wird heute hunderte von Malen am Tag auf digitale Art und Weise angegriffen. Wir befinden uns in einem dauerhaften Kriegszustand, nur eben auf einer vermeintlich privat-wirtschaftlichen Ebene. Vermeintlich deshalb, weil sich neben kriminellen Banden längst auch staatliche Akteure des Cyberraums als Betätigungsfeld bemächtigt haben. Cybersicherheit ist eine Frage der nationalen Sicherheit, von der Demokratiebefähigung bis zur Wettbewerbsfähigkeit. Allerdings hat dem unsere nationale Sicherheitsarchitektur viel zu wenig entgegenzusetzen, wie die Angriffe auf das Netzwerk des Bundestages und des Außenministerium eindrucksvoll zeigen. Ohne die Vorsorge in den Unternehmen der Wirtschaft, könnten wir uns der Angriffe auf unser Land gar nicht erwehren.

Und der Verweis auf das neu aufgebaute Cyberkommado der Bundeswehr überzeugt alleine deshalb nicht, weil das Grundgesetz, wo der Einsatz der Bundeswehr im Grundsatz regelt ist, nur kinetische Angriffe auf unser Land kennt. Angriffe aus dem Cyberraum sind aber nicht kinetisch, sie erfolgen geräuschlos, geruchlos, und sind deswegen ebenso schwer wahrzunehmen, wie eine schleichende Umweltverschmutzung. Tatsächlich entwickeln sie aber die gleiche Zerstörungskraft.

Und was befördert diese Bedrohung am meisten, es ist wieder die Bequemlichkeit. Nicht alleine die laxe Handhabung von Sicherheitsvorschriften, das Affektionsinteresse an der Publikation von Informationen, die nicht publik gemacht werden müssen, sondern die mangelnde Bereitschaft, sich mit der Bedrohung und ihren Urhebern wirklich auseinander zu setzen. Denn dann würde man auf wirkmächtige Gegner stoßen und unsere dauerhaft friedensverzuckerten Gutmenschen und Ostermarschierer wären gezwungen ihre Haltung zu überdenken.

Wir stehen am Scheideweg unserer Gesellschaft. Die Generation der heutigen Kinder wächst völlig anders auf, als es ihre Eltern und Großeltern getan haben. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir ihnen eine Welt hinterlassen, die von mathematischen Algorithmen geprägt ist, die den Menschen das Verhalten vorgibt, wie es zuerst einige unbekannte Mathematiker und dann Maschinen mit künstlicher Intelligenz, für sinnvoll und richtig erachten. Garniert wird das Ganze durch die verwerfliche Nutzung des Cyberraums zur unzulässigen politischen Einflussnahme oder für kriminelle Machenschaften.

Und so müssen wir die Frage beantworten, was wir wollen, wo die Bequemlichkeit aufhören muss, was wir anderen Staaten gestatten, wie wir das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen auch in Zukunft sicher stellen und wieviel Staat wir zu unserer Sicherheit haben wollen. Und jeder einzelne muss sich fragen, wieviel Bequemlichkeit will er sich leisten, denn jede Bequemlichkeit des Einzelnen muss die Gesellschaft im Kollektiv ausgleichen.

Immanuel Kant, der vielleicht größte Denker der Menschheit, hat auf die Frage, was Aufklärung sei, wie folgt geantwortet: „Aufklärung ist der Aufstand des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“.

Deshalb brauchen wir eine breit angelegte gesellschaftliche Debatte um die Digitalisierung und in der Folge eine Neubelebung der Aufklärung im Sinne Kants.