Tichys Einblick
Papierkorb oder Briefkasten?

Die Qual der Wahl bei der sogenannten Sozialwahl

Wen ich vor sechs Jahren gewählt habe? Da bin ich mir nicht mehr sicher. Eines weiß indes ich genau: Von denen, denen ich damals meine Stimme gegeben habe, habe ich nie wieder etwas gehört – von den anderen auch nicht.

Bild: sozialwahl.de

Heute kamen sie mit der Post – die Unterlagen für die sogenannte Sozialwahl. Angefordert hatte ich sie nicht. Aber weil ich zu den 51 Millionen Deutschen gehöre, die in der gesetzlichen Renten- oder Krankenversicherung Beiträge bezahlt haben oder zahlen, wurden sie mir zugeschickt – einfach so. Jetzt soll ich also bis Ende Mai meine Stimme für die Vertreterversammlung der „Deutschen Rentenversicherung Bund DRV)“ abgeben – per Post und portofrei.

Die gesetzlichen Kassen lassen sich diese Wahl mehr als 40 Millionen Euro kosten. Das freilich ist kein Argument gegen diese Wahl. Wer über die Kosten von Wahlen, Bürgerentscheiden oder Volksabstimmungen jammert („Was das alles kostet …“) hat eines nicht verstanden: Systeme ohne Wahlen sind noch viel teurer. Sie kosten nämlich die Freiheit.

Ich darf und soll also wählen. Ich weiß genau: Vor sechs Jahren habe ich das gemacht, vor 12 Jahren auch. Mein (vorbildliches) Engagement hat auch nichts daran geändert, dass die Wahlbeteiligung nur mickrige 29 Prozent betrug. Wen ich damals gewählt habe? Da bin ich mir nicht mehr sicher. Eines weiß indes ich genau: Von denen, denen ich damals meine Stimme gegeben habe, habe ich nie wieder etwas gehört – von den anderen auch nicht. Was sie in der Vertreterversammlung der DRV für mich getan oder nicht getan haben, warum sie dieses vorgeschlagen und jenes abgelehnt haben? Keine Ahnung. Nein, diese „Vertreter“ der Versicherten agieren im Dunkeln. Sie wollen von mir einen Blankoscheck, denken aber nicht daran, mich nach der Wahl darüber zu informieren, wie sie meinem „Vertrauen“ gerecht geworden sind.

Auf dem Stimmzettel habe ich die Auswahl zwischen 12 Listen – aber nur auf den ersten Blick. Wer genau hinschaut, findet hinter jeder Wahlvorschlagsnummer ein, zwei oder drei „Sternchen“. Das bedeutet: Mehrere Listen sind miteinander verbunden, so zum Beispiel Verdi, IG Metall und die Gemeinschaftsliste der Katholischen und Evangelischen Arbeitnehmerverbände sowie des Kolpingwerks. Das finde ich besonders apart: Christliche Sozialpolitiker und die beiden „rötesten“ DGB-Gewerkschaften in einem Boot auf der Fahrt in das christlich-sozialistische Paradies. Nun ja, das mögen manche als Verheißung empfinden. Einem braven Kirchensteuerzahler wie mir erscheint das eher als Bedrohung.

Neben dem kirchlich-gewerkschaftlichen Block gibt es noch mehrere verbundene Listen der Ersatzkassen (DAK, Barmer usw.) und einen dritten Block aus Deutschem Beamtenbund sowie den Christlichen Gewerkschaften. Der Charme solcher Listenverbindungen besteht darin, dass die Stimmen für z. B. drei verbundene Listen addiert und dann die Zahl der auf diese Wahlvorschläge entfallenden Sitze ermittelt wird. Die Sitze wiederum werden je nach den Stimmen, die auf jede der im Verbund enthaltenen Listen entfallen sind, zugeteilt. Klingt kompliziert? Ist es ja auch. Aber wo steht denn geschrieben, dass die Wähler verstehen sollen, was sie da machen?

Wer alt genug ist, um sich noch an den Spruch „Wahlrecht ist Wahlpflicht“ zu erinnern – also Wahlberechtigte wie ich –, der fühlt sich irgendwie verpflichtet, sich darüber zu informieren, was die einzelnen Parteien, pardon: Wahlvorschläge, so tun wollen. Das kann man relativ einfach im Internet machen. Und was lernt man daraus? Dass alle, die da gewählt werden wollen, mehr oder weniger für dasselbe eintreten. Verdi fordert, „Rente muss für ein gutes Leben reichen“, die Christlichen Arbeitnehmer werben u.a. mit dem Statement, „Gut, wenn Ihr Ruhestand gesichert ist“, und der Beamtenbund will, dass wir „Von der Rente gut leben können“.

Tja, wer wollte das alles nicht? Das Problem ist nur: Die sogenannte Selbstverwaltung der Rentenversicherung ist für die großen Entscheidungen – Renteneintrittsalter, Rentenniveau, Höhe der Grundsicherung – gar nicht zuständig. Das macht der Gesetzgeber – und das ist auch gut so. Deshalb hat diese „Selbstverwaltung“ mit echter Mitbestimmung so viel zu tun wie der Konditorlehrling mit der Herstellung einer vierstöckigen Hochzeitstorte: er darf staunend zuschauen und die Krümel aufsammeln.

Hier sitz‘ ich nun mit meinen Wahlunterlagen und kann nicht anders. Mein Impuls, grundsätzlich bei jeder Wahl meiner „Bürgerpflicht“ nachzukommen, kollidiert mit dem Wunsch, die Demokratie im Allgemeinen und mich selbst im Besonderen weiterhin ernst zu nehmen. Papierkorb oder Briefkasten – das ist hier die Frage. Aber nein, es gibt noch einen Ausweg: Den Stimmzettel ungültig machen und abschicken. Das wäre ein auch klares Statement: Ich bin für echte Mitbestimmung der Versicherten – aber gegen diese Farce.