Tichys Einblick
Wird KI je die Börsen beherrschen?

Wird künstliche Intelligenz (KI) je die Börsen beherrschen?

Selbst adaptierende, lernende Algorithmen halten in der Finanzwelt Einzug. Wie verändert das die Märkte? Haben wir als Menschen da überhaupt noch Chancen? Und kann es an den Märkten für eine algorithmische Super-Intelligenz so etwas wie garantierte Gewinne und „Unbesiegbarkeit“ geben?

Das ist eine richtige gute Frage. Eine Frage die beinhaltet, ob an der Börse Menschen irgendwann gegen die automatisierten Programme (Algos) nicht mehr bestehen können, so wie schon heute beim Schach? Ist schon bald die Zeit von „Cyberdyne Systems“ angebrochen, um die Firma zu nennen, die im bekannten Blockbuster den Weg zum „Terminator“ bereitet?

Übrigens können Sie diese Frage auch für alle komplexen Systeme stellen, die unsere Zivilisation auszeichnen, ich will mich hier und heute auf die Börsen beschränken, auch wenn viele Aussagen allgemeiner Art und übertragbar sind-
Es ist auch eine Frage die hohe Aktualität hat, denn für Marktbeobachter ist offensichtlich, dass algorithmischer, automatisierter Handel eine immer höhere Bedeutung an der Börse erlangt. Ein Börsen-Verlauf wie 2017, wäre im Übrigen ohne das kalte Schieben der Maschinen nur schwerlich zu erklären. Und mit KI meine ich nicht heutige „Robo-Adviser“, die nach meiner persönlichen Ansicht in der Regel nichts weiter als eine nette Marketing-Masche sind, um alte Anlagestrategien im neuen Gewand zu verkaufen.

Es ist übrigens auch eine Frage, mit der ich mich persönlich schon lange beschäftige. Ich gehöre von der Ausbildung her mit zu der ersten Welle der Informatiker, die die Hochschulen verlassen haben und habe 1986/87 meine Diplomarbeit über Expertensysteme und Neuronale Netze geschrieben, bevor mein Leben dann nach einer Zeit in IBM Research & Development später ganz andere Wendungen, weg von der Informatik nahm.

Noch verstärken Algos schon bekannte Muster

Wer schaut, was heute im Basic Algorithmic Trading gemacht wird, erkennt noch klassische „Brot und Butter Techniken“, die von Menschen stammen und recht stur abgearbeitet werden.

Und weil das so ist, verstärken die aktuellen Algos die bekannten Marktmuster und Strukturen. Trends dauern länger, Muster werden sauberer. Die Algos machen technischen Handel derzeit also einfacher und nicht schwerer, das ist mein Eindruck. Wir erleben derzeit eine gute Zeit für Markttechniker und klassische Strukturen wie Trendfolge. Aktuelle Algos sind derzeit also nicht viel mehr, als bekannte menschliche Handelstechniken, nur automatisiert und mit der Gnadenlosigkeit der Maschinen unterlegt.

Noch ist die Singularität Science-Fiction

Aber was ist, wenn diese Algos intelligenter werden und sich Wandlungen des Marktes anzupassen lernen?

Ich glaube es ist müßig, über den Zustand des Marktes in 20 Jahren zu philosophieren. Denn wenn eine echte künstliche Intelligenz entsteht, wenn die berühmte Singularität der KI Wirklichkeit wird, dann wird sich sehr schnell weit mehr verändern, als nur die Art wie die Märkte funktionieren. Das ist also alles Spekulation und Science-Fiction.

Aber 5 Jahre können wir ja versuchen in die Zukunft zu schauen. Und da ist relativ klar, dass die derzeitige Front der KI Entwicklung, die mit sich selbst adaptierenden, lernenden Algorithmen zu tun hat, auch in der Finanzwelt Einzug halten wird. Viele große Firmen arbeiten am Thema, wohl auch Google in seinem neuen KI-Forschungszentrum in Zürich.

Warum Schach und Go gegenüber der Komplexität des Marktes trivial sind

Nun haben wir ja erlebt, wie Computer-Algorithmen die Menschen bei Schach und zuletzt auch Go, mit der rohen Gewalt ihrer tiefen Zuganalyse besiegen können. Heißt das, dass menschliche Händler auch an den Börsen bald chancenlos werden?
Gemach, wohl kaum. Sie werden zwar weniger, aber nicht verschwinden. Denn da ist eine „Naturkonstante“ der Märkte vor, die das verhindert. Sie ahnen es, es ist die Reflexivität, die wichtigste Börsenerkenntnis überhaupt. Falls Sie die damit verbundenen Konzepte des „Beobachterproblems“ nicht kennen, sollten Sie den Artikel jetzt lesen, auf ihn wird Bezug genommen.

Ich weiß, ich mache mich nun bei Schach- oder Go-Enthusiasten unbeliebt, aber beide Spiele sind im Vergleich zu einem selbstreferentiellen System vergleichsweise „trivial“. „Trivial“, weil sie einen prinzipiell endlichen und statischen Zustandsraum besitzen. Denn es gibt zu jedem Zeitpunkt eine (am Anfang gigantisch große) Menge von möglichen Zügen, die wiederum neue Züge ermöglichen und damit diverse Spielenden implizieren. Wenn man so will, ein gigantischer Baum der Möglichkeiten, dessen Verästelungen immer weniger werden, je weiter das Spiel voranschreitet.

Sicher, die Menge der Möglichkeiten ist so riesig, dass sie für einen Menschen faktisch unendlich erscheint. Sie ist aber eben begrenzt und mit jedem Zug werden es weniger Möglichkeiten, so dass im Endspiel des Schachs, selbst ein geübter menschlicher Spieler mit seinem „Affenhirn“, den weiteren Verlauf schon um viele Züge vorausahnen kann und auch ein zwangsläufiges Ende (Matt) schon viele Züge vorher erkennen kann.

Die Möglichkeiten und Züge des Spiels verändern sich auch nicht, sie sind prinzipiell statisch, weil die Regeln statisch sind und bei jedem Spiel prinzipiell wieder gleich und „berechenbar“. Heißt, wenn zwei Spieler genau gleich agieren, wie beim Spiel vorher, wird auch das Spiel völlig identisch ablaufen. Alleine die hohe Zahl der Möglichkeiten lässt das Spiel unberechenbar erscheinen, obwohl es das nicht ist.

Theoretisch kann man also einen Algorithmus bauen, der im Schach mit weißen Steinen prinzipiell unbesiegbar ist, so wie das ein Mensch beim weit trivialeren „Wolf und Schaf“ schon heute jederzeit mit den Schafen sein kann. Dafür reicht bei Schach zwar die aktuelle Rechenpower der schnellsten Computer immer noch nicht, es ist aber theoretisch machbar.

Auch Superintelligenzen können am Markt nicht sicher gewinnen

Der Markt ist ganz anders und in ihm kann auch theoretisch keine unbesiegbare Maschine gebaut werden. Und das aus einem entscheidenden Grund: der Reflexivität. Denn der Markt ist nicht statisch, sondern selbstreferentiell dynamisch.
Und das eben, weil die Markteilnehmer, hier die Algos, den Markt durch ihre Beobachtungen und Handlungen selbstreferentiell verändern. Der Markt hat keine endliche Menge von Zuständen wie Schach oder Go und spielt auch nicht nach festen Regeln wie diese, er verändert seine Regeln permanent aus sich heraus und hat daher einen faktisch unendlichen Zustandsraum. Das ist ungleich viel komplexer, da es ein Spiel auf beweglichem Untergrund mit sich wandelnden Regeln ist.

Machen wir es mal konkret. Stellen wir uns adaptive Algorithmen mit fortgeschrittener künstlicher Intelligenz vor, die mit gigantischer finanzieller Feuerkraft am Markt gegeneinander spielen. Können diese riesige Gewinne machen und sind die menschlichen Händler dabei chancenlos?

Meine Antwort ist Nein und Nein. Bei Schach und Go, mit ihren prinzipiell endlichen (wenn auch riesigen) Zustandsräumen, hätten menschliche Spieler gegen diese fortgeschrittenen Algorithmen keine Chance. Im Markt aber, treten diese „Super-Algos“ gegeneinander an und in dem sie mit ihrem Kapital im Markt agieren, verändern sie diesen reflexiv und müssen damit letztlich gegen sich selber kämpfen. Und damit paralysieren sie sich gegenseitig.

Und ein menschlicher Händler mit normalem IQ muss nur eine einzige Eigenschaft, ein einziges Muster finden, dass diese Algos vereint und er hat wieder einen (temporären) Edge.

Was natürlich für die“ Super-Algos“ auch gilt, diese haben diese Chance der Mustererkennung auch. Aber ihre Super-Intelligenz und Ihre Geschwindigkeit verschafft Ihnen eben keinen alles entscheidenden Vorteil gegen diesen „haarigen Affen“, den die Evolution hervorgebracht hat. Sicher, sie werden extrem harte Gegner sein, aber nicht unbesiegbar. Schon gar nicht in 5 Jahren, wenn diese „Super-Algos“ wohl immer noch Science-Fiction sind.

Avoid it or exploit it – Vermeide es oder nutze es aus!

Ich bin nicht sicher, ob mein Punkt verständlich war. Ich will es mal anders sagen:
Unsere menschlichen Gehirne sind von der Evolution zu Mustererkennungs-Genies geformt worden. Was das angeht, lassen wir alle Maschinen noch weit hinter uns.
Und Mustererkennung ist im reflexiven Markt der entscheidende Faktor, eben weil sich die Regeln des Marktspiels selbstreferentiell ändern und es keine fixen Wahrheiten gibt. Weswegen alle die, die nach der absoluten „Erfolgsformel“ im Markt suchen, auch so zu bedauern sind. Diese sind auf der Suche nach dem heiligen Gral, den es nicht gibt. Und wenn es ihn gäbe, würde das Gewicht des eigenen Erfolges diesen „Gral“ sofort wieder zerstören.

Wo wir Menschen gegenüber den Maschinen klar unterlegen sind, schon heute, ist bei Geschwindigkeit und Disziplin und Konsequenz des Handelns. Das Gehirn unserer haarigen Vorfahren spielt uns hier immer Streiche, weil es sich noch in der Savanne wähnt.

Derutschland war einmal modern
Glücklich, wer von China noch ausspioniert oder übernommen wird
Aber wenn es darum geht, die eine kleine Gemeinsamkeit, das feine Muster im Meer der Bewegungen des Marktes zu finden, werden uns die Maschinen noch lange, lange nichts vormachen und selbst wenn, wird der Markt Ihnen durch die Reflexivität Demut einbläuen – so Demut für einen Algorithmus überhaupt eine Kategorie ist.Womit wir beim Kern von Weisheiten sind, die die Menschheit schon seit Jahrtausenden kennt, wenn es um den Kampf gegen starke oder manchmal übermächtige Gegner geht, auch Sun  Tzu ist dabei eine gute Quelle. Der Kern dabei ist, das Schlachtfeld zu bestimmen, also nicht den Kampf nach den Regeln des Gegners zu führen, sondern ihm sein eigenes Spiel aufzuzwingen. Wenn Maschinen viel schneller als wir rechnen und Daten verarbeiten, wären wir eben dumm auf diesem Spielfeld mit ihnen konkurrieren zu wollen.

Wenn es aber um Kunststücke der Mustererkennung geht, dann macht uns keine KI dabei etwas vor. Was wir als Anleger also tun müssen, kann man ganz leicht in nur fünf englische Worte pressen:

Avoid it or exploit it. Etwas holperig in Deutsch: Vermeide es oder nutze es aus.

Wir vermeiden im Markt also das, wo wir sowieso keine Chance haben. Und nutzen das aus, wo unser eigener Vorteil liegt. Und dieser Vorteil liegt für normale Anleger vermehrt auf der längeren Zeitebene, beim Folgen der großen Linien. So einfach und so schwer. Man nennt das den „Edge“.

Der Jedi auf dem Motorrad

Um Ihnen zu zeigen, wie diese Mustererkennung funktioniert, will ich Ihnen eine fiktive Geschichte erzählen.

Sie stehen an der Bushaltestelle und in der Ferne auf der Straße sehen Sie einen sich bewegenden Strich auf sich zukommen. In einer Millisekunde ordnet Ihr Gehirn das als Mofa, Motorrad oder schnelles Fahrrad ein. Nicht weil man objektiv mehr als einen Strich sehen kann, sondern weil das Muster in den Kontext (Straße) passt. Das ist nicht Ihr Frontallappen der da rational entscheidet, das ist das, was Sie als Mensch ausmacht – instinktive Mustererkennung mit Wahrscheinlichkeiten!
Der Strich kommt näher, “Heidenei“ das bewegt sich aber schnell, muss wohl ein Motorrad sein.

Helds Ausblick 5-2018
Marktwirtschaft ist mehr als Freihandel
Der Strich wird grösser, man sieht etwas flattern. Moment mal, hat der einen Anhänger mit einer Plane dran? Das an einem Motorrad? Sehr komisch denkt Ihre Mustererkennung. Dieses „komisch“ triggert Ihre Wahrnehmung – potentielle Gefahr! Der Fokus des ganzen Gehirns richtet sich jetzt darauf, was sonst als „erkannt und ungefährlich“ abgehakt und nicht weiter beachtet würde – wie so viele Autos und Motorräder, die täglich an Ihnen vorbeifahren, ohne Ihre Aufmerksamkeit zu ziehen. Der Strich wird zur Person, da flimmert was und das Ding scheint zu schweben. Das muss ein Motorrad sein, das gibts doch gar nicht. Aber die Person ist braun und da scheint was zu flattern, seit wann gibt es denn braune Motorradanzüge aus Stoff? Und wie unverantwortlich, was wenn der Stoff in die Räder kommt?

Noch näher und dann der Schock. Es ist Obi-Wan-Kenobi auf einem Gleiter, Sie kippen um und werden ohnmächtig.

Und die Moral von der Geschichte ist, ein Java auf Tatooine hätte schon gleich beim Strich gewusst, dass es ein Gleiter ist und den Jedi auch schnell einsortiert. Eben weil das zu seinem Kontext passt, auf den sein Gehirn trainiert ist, aber nicht unseres.

Was sagt uns das über Bewusstsein und die Erkennung der Wirklichkeit? Hat das was damit zu tun den Strich gesehen zu haben? Übrigens, wäre der Jedi quer über die Wiese mit dem Gleiter gekommen, hätte Ihre Mustererkennung schneller Alarm geschlagen, dass da was nicht stimmt. Dass er aber wie ein Motorrad auf der Straße fuhr, war besonders fies.

Wir sehen, warum wir Menschen so Mustererkennungs-Genies sind – eben, weil unser Gehirn intelligent „rät“ und mit bekannten Mustern abgleicht, auf die es trainiert ist. Genau so funktioniert auch unsere Gesichtserkennung, während Computer mühselig messen, berechnen und Daten abgleichen müssen.

Die intelligente Unpräzision, das qualifizierte Raten, ist also unser Geschwindigkeitsvorteil.

Wenn wir also sehen, wie zwei theoretische Superintelligenzen im Markt agieren, werden wir wieder Muster erkennen und brauchen dafür keinen IQ von 1.000. Das ist die wunderbare neuronale Plastizität unseres Gehirns, sich beliebigen Mustern anzupassen, wenn man es in Bewegung hält und nicht erstarren lässt.

Gödels Unvollständigkeitssatz – eines der wichtigsten Erkenntnisse der Menschheit

Damit kommen wir auch wieder zu Gödels Unvollständigkeitssatz, der der Mathematik – und damit auch algorithmischen Systemen – eine prinzipielle Grenze setzt, wenn die Selbstreferenzialität zuschlägt.

Denn „hinreichend starke widerspruchsfreie Systeme, können ihre eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen“.

Ich halte Gödels Unvollständigkeitssatz für eine der wichtigsten Erkenntnisse der Menschheit, mit weiten Implikationen auch in die Philosophie hinein. Siehe dazu das Buch des berühmten Mathematikers und Physikers Roger Penrose „Des Kaisers neue Kleider“, das damals in den 90ern eine massive Diskussion ausgelöst hat. Ich bin nicht in allem seiner Meinung, aber er hat einen Punkt, über den man nachdenken sollte.

Hier ist sein Argument zusammengefasst und einem Review unterzogen: The Lucas-Penrose Argument. Und hier ist ein Review zusammen mit Gödel, Escher, Bach, dem Buch, das ich Ihnen schon im Reflexivitäts-Artikel empfohlen hatte, das besser als Penrose zu lesen ist und das ich Ihnen erneut ans Herz legen will, wenn Sie das Thema in seiner Tiefe interessiert.

Beide Bücher sind 20 Jahre und mehr alt und seitdem ist Einiges passiert und geschrieben worden. Die Diskussionen und Fragestellungen leben aber fort und auch wenn sich die Technik weiterentwickelt, sind die gestellten Kernfragen unbeantwortet.

All diese Argumente wie von Penrose widersprechen nicht dem Aufstieg künstlicher Intelligenz. Wenn diese aber an die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns heranwill, muss sie wohl teilweise „menschlich“ werden und sich von der Turing Maschine lösen. Und damit bekommt die KI auch ein paar Probleme, die uns als Menschen plagen.

Wir werden im Spiel bleiben

Zurück aber zu uns als menschliche Anleger im Zeitalter der Algos. Das Leben für uns menschliche Anleger war schon immer anspruchsvoll und wird es weiter sein – ob mit oder ohne Algos. Aber man wächst mit seinen Aufgaben und wir sind im reflexiven Markt noch lange, lange nicht chancenlos, während wir bei Spielen mit statischen Entscheidungsbäumen wie bei Schach und Go, schon heute klar geschlagen sind.

Es ist ein hoch spannendes Thema, das uns immer mehr begleiten wird. Insofern ideal für ein paar intelligente Gedanken in der Kommentar-Sektion, wozu ich Sie einladen will. Was meinen Sie zum Thema? Ich bin gespannt, was Sie denken. Und ich hoffe, ich habe Sie hier und heute nicht erschlagen.

Ihr Michael Schulte (Hari)