Tichys Einblick
Das digitalisiert sich selbst

Bloß kein Digitalminister!

Die Digitalwirtschaft wünscht sich ein eigenes Ministerium. Wodurch sie lediglich belegt, die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat nicht verstanden zu haben.

© LEON NEAL/AFP/Getty Images

Als mut- und ambitionslos charakterisieren viele Kommentatoren die Koalitionsvereinbarung von CDU, CSU und SPD. Ein Mangel an Reformwillen wird ausgemacht, der in weitere Jahre politischer Stagnation mündet. Das stimmt. Aber was wäre die Alternative? Wollen wir wirklich eine Regierung, die zur Tat schreitet? Die entschlossen ist, sich sogenannten „Herausforderungen“ zu stellen, die häufig gar keine sind, sondern nur phantasievoll konstruierte Vehikel für ideologiegetriebene Interessen? Wollen wir wirklich eine Regierung, die Dinge verändert, sich gar von „Visionen“ leiten lässt, hier und da einen „großen Wurf“ versucht und regelmäßig in blinden Aktionismus verfällt? Nein, solche Administrationen haben uns in der Vergangenheit nicht nur ein kaum mehr zu ertragendes Maß an Regulierungen und Verboten beschert, sondern uns auch noch eine Migrationskrise und die Energiewende eingebrockt. Da sollte man über eine GroKo froh sein, die unter „Digitalisierung“ nicht mehr versteht, als das Verbuddeln von Glasfaserkabeln und die Einführung einiger eGovernment-Funktionen. Für manche Themen ist es eben wünschenswert, wenn die Mächtigen ihnen mit Ignoranz begegnen, minimiert sich dadurch doch der Schaden, den sie andernfalls anrichten würden.

Dessen ungeachtet erschallt jetzt ein mächtiger Chor aus der Digitalwirtschaft, der vehement ein eigenes Ministerium für seine Belange fordert. Die Lautstärke zahlreicher für und in der Branche tätiger Vereine und Verbände verwundert nicht, sind es doch genau diese Lobbyisten, die von direkter und indirekter Subventionierung durch einen ihnen gewidmeten Apparat mit eigenem Budget am meisten profitieren könnten. Dem Fortgang der Digitalisierung aber wäre dadurch weniger gedient. Entweder versorgt ein „Ministerium für eine Heimat, in der wir gut und gerne surfen“ lediglich Parteisoldaten mit gutdotierten Posten, ohne etwas zu bewirken. Oder es bündelt tatsächlich Expertise, die aus der Beobachtung aktueller Trends potentielle Entwicklungen ableiten kann, was gefährlich wäre. Denn hätten Politiker in der Vergangenheit die mit der elektronischen Datenverarbeitung einhergehenden Veränderungen jemals geahnt, hätten sie mit aller Kraft versucht, diese zu bremsen oder gleich ganz zu verhindern. Schließlich raubt ihnen die Informationstechnologie den exklusiven Zugang zu den Werkzeugen der Massenkommunikation. Und das hindert sie daran, aus ihrer Deutung der Ereignisse einen gesellschaftlichen Konsens zu formen, der sie trägt. Der Politik entgleitet die Kontrolle über die Diskursräume, über Debattenverläufe und über die Zugriffsmöglichkeiten zu Fakten und Hintergründen. Sie kann nicht einmal mehr steuern, welche Themen nun wichtig sind und welche nicht.

Wo jede Idee Gehör findet, jede Auffassung von jedem wahrgenommen, unterstützt oder abgelehnt werden kann, wo auch ein Digitalminister nicht mehr Rechte und Möglichkeiten hat, als ein Graswurzelaktivist, da verlieren Kollektive ihre Bindungskraft und individuelle Befindlichkeiten gewinnen eine Bedeutung, die zur Fragmentierung der Gesellschaft führt. Die Krise der etablierten Medien, vom Auflagenschwund bei Zeitungen und Zeitschriften bis hin zu dem nicht mehr aufzuhaltenden Prozess, an dessen Ende die Abschaffung der Rundfunkgebühren, ja vielleicht sogar des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in seiner Gesamtheit stehen werden, stellt nur einen Aspekt dieser Entwicklung dar. Die Erosion unseres Parteiensystems, die Auflösung der Volksparteien und deren Aufteilung auf immer mehr Gruppierungen für Partikularinteressen ist ein anderes. Glaubt jemand wirklich, irgendein Digitalministerium würde dies durch sein Handeln weiter befördern wollen?
Nicht nur Plattformen wie Amazon, Ebay, Uber oder Airbnb, die herkömmliche Geschäftsmodelle im Handels- und Dienstleistungssektor erfolgreich angreifen, sondern auch soziale Medien, Autorenblogs und alternative Nachrichtenportale sind unvermeidbare Ausprägungen des Datenverkehrs in nicht hierarchisch organisierten Netzwerken. Sie könnten durchaus anders aussehen und anders heißen als Facebook, Twitter oder Youtube. Ihre grundsätzlichen Funktionalitäten und ihre Auswirkungen aber gäbe es trotzdem. Diese und andere Kanäle zu verhindern und damit die geschilderte Zertrümmerung überkommener Strukturen abzuwenden, wäre zu jedem Zeitpunkt in der Vergangenheit nur durch strikte Regulierungen des aufkommenden Internets möglich gewesen. Ein Digitalministerium hätte solche einfordern müssen, allein schon zum Schutz der Partei und der weiteren Perspektiven des zuständigen Ministers. Wer das für übertrieben hält, mag sich an der durch das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ geäußerten Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit orientieren, mit der unsere aktuelle Regierung das „Neuland“ betritt.

Und nun beginnt die Blockchain (2), eine redundant betriebene, dezentrale Datenbank, deren cleverer Aufbau jede Manipulation praktisch unmöglich macht, auf dem Netz der Informationen das Netz der Werte zu errichten. Sie bietet einen absolut vertrauenswürdigen, weil absolut transparenten digitalen Marktplatz, der sich selbst organisiert und ohne jede zentrale Steuerung auskommt. Gleichzeitig besteht für ihre Nutzer die Möglichkeit, vollkommen anonym zu bleiben. Käufer und Verkäufer finden zusammen, ohne sich zu kennen, ohne sich kennenlernen zu müssen und ohne einen Vermittler oder Wächter zu benötigen. Denn in betrügerischer Absicht gegen die im Code der Blockchain festgelegten Transaktionsbedingungen zu verstoßen, ist schlicht nicht möglich.

Blockchain-Anwendungen gelten zurecht als eine der nächsten großen digitalen Umwälzungen. Sie vermögen die Grundlagen unseres Wirtschaftssystems radikal zu verändern. Sogenannte „Smart Contracts“, in „wenn-dann“-Routinen programmierte und in die Blockchain eingeflochtene Verträge, eröffnen neue Wege zur Automatisierung vieler Prozesse etwa in der Logistik, in der Produktion oder in der Finanzwirtschaft. Intermediäre wie Makler, Geschäftsbanken oder Anwälte sind nicht mehr erforderlich. Virtuelle Firmen ohne einen in der realen Welt existierenden Sitz können sich ad hoc bilden und sich auch ebenso schnell wieder auflösen. Darüber hinaus gestattet die Blockchain die Generierung und den Einsatz virtueller Tauschmittel, häufig Coins genannt, als vollwertigen Geldersatz, der nicht der Kontrolle von Notenbanken unterliegt. Da der pseudonymisierte Handel innerhalb dieser digitalen Infrastruktur entweder nur unter großem Aufwand oder überhaupt nicht mit realen Identitäten verknüpft werden kann, ist zudem die Erhebung von Steuern ausgeschlossen.

So, wie sich das Protokoll TCP/IP (Transmission Control Protocol, Internet Protocol) als algorithmische Basis des Verkehrs im „Internet der Daten“ etabliert hat, so könnte sich die Blockchain als konzeptionelles Fundament des „Internets der Abmachungen“ durchsetzen. Die Auswirkungen des Verlustes von Informations- und Deutungsmonopolen berücksichtigend: Was geschieht, wenn sich Geld- und Steuerhoheiten ebenfalls auflösen? Was geschieht, wenn die Blockchain durch das Engagement ihrer Nutzer eine der wesentlichen und zentralen Aufgaben der Einrichtung namens „Staat“, nämlich die Dokumentation und Garantie von Besitzrechten, auch noch an sich zieht?

Wird ein Digitalministerium, das bei klarem Verstand ist, so etwas wirklich fördern, etwa in Form von Zuschüssen zu Startup-Projekten? Seit wann arbeiten staatliche Institutionen aktiv daran mit, die Rahmenbedingungen zu vernichten, denen sie ihre Existenz und ihr Gedeihen erst verdanken?

Zwei Dinge gilt es festzuhalten. Erstens ist die Digitalisierung eine gute Sache, weil sie die Souveränität des Einzelnen gegenüber autoritären Strukturen verteidigt und seine Resilienz gegen übergriffige Administrationen erhöht. Zweitens ist, was sie zerstört, ohnehin nicht wert, beschützt oder erhalten zu werden. Die Tagesschau hat nicht deswegen die Weltsicht unserer Eltern geprägt, weil sie so toll ist. Sondern weil es nichts anderes gab. Die Volksparteien wurden nicht groß, weil sie im Interesse ihrer Wähler handelten. Sondern weil potentiellen Alternativen lange Zeit die Optionen fehlten, sich erfolgversprechend anzubieten. Wir zahlen nicht mit dem Euro, weil wir Mario Draghi so sehr vertrauen. Sondern weil wir dazu gezwungen sind.

Außerdem läuft die Digitalisierung ziemlich gut ohne planerische, ideologischen Agenden unterworfene Eingriffe. Zu neuen Medien und Blockchain-Anwendungen, die unsere Lebensweise prägen werden, kommen Künstliche Intelligenzen, virtuelle Realitäten und Quantencomputer ja noch hinzu, um nur wenige Stichworte zu nennen. Da wäre ein Digitalministerium nicht nur heillos überfordert, es könnte auch keine vernünftigen Ideen für eine digitale Zukunft formulieren, in der sich das Verhältnis zwischen Bürger und Staat radikal verändert. Angesichts dessen kann man es natürlich trotzdem fordern. Aber dieses Ansinnen ist dann halt dämlich.