Tichys Einblick
Grenzen des Digitalen

Auf dem Weg in die digital gelenkte Demokratie?

Relevant ist nicht, ob Mark Zuckerberg Präsident werden möchte. Relevant ist allein die Frage, ob man seinen Wahlsieg überhaupt verhindern könnte, sollte er tatsächlich kandidieren.

© Paul Marotta/Getty Images

Auf eine Gesellschaft, die erfolgreich der Versuchung widersteht, Informationen zu Wissen zu verbinden, auf eine Gesellschaft, die Kompetenz als Ausdruck engstirniger Unbelehrbarkeit ansieht, auf eine Gesellschaft, die Fakten umdeutet oder gar ignoriert, damit kein Zweifel die etablierten Dogmen stört, auf eine solche Gesellschaft, auf unsere Gesellschaft, ist das Geschäftsmodell von Cambridge Analytica perfekt zugeschnitten.

Die in London ansässige Firma arbeitete für Donald Trump während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs. Ob ihre Tätigkeit für seinen Sieg wichtig oder gar entscheidend war, ist umstritten. Die Hintergründe aber, die Julian Wheatland, COO und CFO des Unternehmens, vor einigen Wochen in Wolfsburg präsentierte, ließen Skepsis in Unbehagen umschlagen.

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Seit jeher greifen Wahlkämpfer auf demographische Zahlen zurück, um die Effektivität ihrer Aktionen zu erhöhen. Auch in diesem Jahr präsentieren die Kampagnenmanager der deutschen Parteien stolz ihre Werkzeuge zur Datenerfassung und -analyse, mit denen sie ihren Aktivisten Hilfe und Unterstützung bieten wollen, ob beim Haustürwahlkampf, am Infostand oder in den sozialen Medien. Ganz modern kommt man nach eigener Auffassung daher, beispielsweise mit Applikationen für Smartphones, die eine auf unterschiedliche Zielgruppen zugeschnittene, punktgenaue und direkte Ansprache ermöglichen sollen. Es funktioniert nur nicht besonders gut. Denn die Werte, auf die man zurückgreift, sind unzureichend. Zwei Wähler, die in derselben Gegend wohnen, beide Kinder haben und über ein vergleichbares Einkommen verfügen, können trotzdem völlig unterschiedliche politische Ansichten haben. Den Demoskopen bereitet die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft schon länger Kopfzerbrechen. Die Bindungskraft der Parteien nimmt ab und die alte Weisheit, nach der man Präferenzen aus Gruppenzugehörigkeiten mit hoher Treffsicherheit ableiten kann – Rentner denken dies, Arbeiter das, und Angestellte solches, Frauen erreicht man so und Männer anders – trifft immer weniger zu. „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ und „#fedidwgugl“ sind im dynamischen Umfeld differierender Erfahrungswelten bemerkenswert unscharf. Unter „Gerechtigkeit“ oder „gut leben“ versteht eben jeder etwas anderes. Auf spezifische individuelle Einstellungen zugeschnittene Botschaften entfalten möglicherweise mehr Wirkung. Und solche liefert Cambridge Analytica.

Psychogramme sind das Kapital der Firma. Von mehr als 200 Millionen Erwachsenen in den USA habe man ein solches, sagt Wheatland. Das ist glaubhaft für ein Land, in dem fast alle Wahlberechtigten soziale Netzwerke nutzen, um über sich und ihr Erleben zu berichten, um Gleichgesinnte zu finden und ihre Auffassungen zur besten Barbecuesoße, zur Wahl des nächsten Reiseziels oder eben zu geeigneten Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung kundzutun. Öffentlich geäußerte Ansichten, aus denen man, behauptet der in Stanford lehrende Psychologe Michal Kosinski, Persönlichkeitsprofile nach dem sogenannten OCEAN-Modell ableiten kann. Es geht dabei um die Ausprägung der fünf Charaktereigenschaften Aufgeschlossenheit (Openness), Gewissenhaftigkeit (Conscientiousness), Geselligkeit (Extraversion), Kooperationsbereitschaft (Agreeableness) und Verletzlichkeit (Neuroticism). Wessen Aufgeschlossenheit beispielsweise gering ist, der neigt zur Vorsicht und sucht Beständigkeit. Wer eine hohe Verletzlichkeit aufweist, reagiert häufig emotional. Cambridge Analytica nutzt diesen Ansatz und geht noch einen Schritt weiter. Wer die OCEAN-Konturen eines Wählers kenne, so Wheatland bei seinem Vortrag, dem falle es nicht schwer, diesen in geeigneter Weise anzusprechen, ob es sich um Produkt- oder um Wahlwerbung handelt.

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Da heißt es dann nicht mehr „zeige mir deine Nachbarn und ich sage dir, was du wählst“, sondern „zeige mir deine „Likes“ und „Retweets“, und ich bringe dich dazu, zu wählen, was ich möchte“. Schließlich öffnet, wer sich in sozialen Medien, in Blogs und Foren tummelt, auch immer einen Rückkanal, auf dem man ihn erreichen kann. Kalt lassen den Algorithmus dabei alle Versuche, die Privatsphäre zu schützen. Denn es interessiert ihn nicht, wie man im realen Leben heißt, wo man wohnt und arbeitet, ihn interessieren weder das Alter, noch der Familienstand. Es kommt nur auf das an, was man fühlt. Sicher, der im Internet angebotene Selbsttest wirft mitunter offensichtlich falsche Ergebnisse aus. Mich identifiziert er als weiblich, 24 Jahre alt, impulsiv und eigenbrötlerisch. Aber mein OCEAN-Profil bestätigt meine Selbsteinschätzung in einigen Aspekten durchaus. Zufall? Taugt die Applikation nur für englischsprachige Accounts?  Oder denke ich wirklich wie eine junge Frau, die allerdings ihre männliche Seite durchaus nicht verstecke? Weiß der Computer besser über mich Bescheid als ich selbst?

Statt also allgemeine Werbebotschaften in die Zeitleisten sehr vieler Nutzer einzuspielen, können kleine Gruppen oder gar einzelne Personen gemäß ihrer OCEAN-Spezifika unmittelbar und differenziert mit passenden Botschaften versorgt  werden: „Hallo Hansdampf46 [ordnungsliebend, eher ängstlich], wir möchten die Videoüberwachung öffentlicher Räume ausbauen, wie gefällt Ihnen das? Falls es Ihnen zusagt, teilen Sie es doch auch ihren Freunden mit!“ Oder auch: „Liebe Biene87 [extrovertiert, unbekümmert], wir wollen das Tanzverbot am Karfreitag abschaffen, unterstützen Sie uns dabei?“ Das mag, so räumte Wheatland in Wolfsburg ein, vielleicht nicht genügen, eine politische Orientierung maßgeblich zu verändern. Aber es kann mobilisieren oder auch ernüchtern. Schaffte Donald Trump auf diese Weise, in den entscheidenden Bezirken der entscheidenden Staaten seine Getreuen an die Urnen zu bringen und die von Hillary Clinton zu demotivieren?

Es bestehen Zweifel. Unklar und widersprüchlich sind die Aussagen seitens Cambridge Analytica und aus dem Lager Trumps hinsichtlich der Frage, inwieweit Persönlichkeitsprofile wirklich erstellt und genutzt wurden und wie intensiv die Zusammenarbeit tatsächlich war. Natürlich, räumt Wheatland ein, gewinnen die Kandidaten Wahlen und nicht ihre Berater. Aber die Behauptung, Trump auf die oben geschilderte Weise unterstützt zu haben, hält er aufrecht.

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Selbst wenn er da übertreibt und die neuen Optionen von Big-Data-Analysen in der Auseinandersetzung zwischen Trump und Clinton noch nicht ausgereizt wurden, liegt die Betonung doch auf „noch nicht“. Die Idee ist formuliert, ihre Umsetzung möglich und die Folgen erheblich. Man stelle sich vor, statt dummer, konventioneller Programme, die lediglich Emoticons einordnen, würden in Zukunft selbstlernende neuronale Netze eingesetzt, die lernen, auch die Inhalte von Texten zu erfassen und kontextsensitiv einzuordnen. Könnte eine solche Künstliche Intelligenz aus meinen Artikeln eine valide Prognose hinsichtlich meines Wahlverhaltens ableiten? Aber natürlich. Auch Sie, liebe Leser, die hier regelmäßig kommentieren, wären entsprechend analysierbar. Eine clevere KI vermag zudem „Influencer“ und „Multiplikatoren“ zu identifizieren, um diese mit exakt den Mitteilungen zu versorgen, die sie weiterverbreiten.

Das lohnt nicht nur in Wahlkampfzeiten. Psychogramme als „digitale Wählerzwillinge“ ermöglichen der Politik schon im Vorhinein zu testen, wer wahrscheinlich wie auf welche Maßnahme reagiert. Regierungshandeln orientiert sich dann noch intensiver als heute an seinen Auswirkungen auf die Stimmungslage. Zeitpunkte und Inhalte von Entscheidungen werden nicht mehr nur instinktiv, sondern mathematisch validiert auf den Wahltag ausgerichtet, um an diesem Zustimmung und Zufriedenheit in der Bevölkerung zu maximieren.

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Stellt all dies wirklich ein Problem dar? Ich kenne Menschen, die sich maßlos darüber ärgern, nie von einem der großen Umfrageinstitute angerufen und nach ihrer Haltung gefragt zu werden. Weil die fixe Idee weit verbreitet ist, auf diese Weise dann doch mal, wenn auch nur indirekt, einer entrückt erscheinenden Regierung die Meinung sagen zu können. Da scheint es doch begrüßenswert, wenn Politiker mit den neuen Werkzeugen die Wünsche der Bevölkerung viel genauer und umfassender registrieren als bislang möglich. Wenn sie sich nicht mehr nur auf die Momentaufnahmen repräsentativer Umfragen verlassen müssen oder gar auf die Phantasie, die großen Leitmedien würden schon korrekt wiederspiegeln, was die meisten Bürger denken. Denn sie werden ja umsetzen, was die Wähler mehrheitlich möchten, um deren Stimmen auch wirklich zu bekommen. Oder?

Vorsicht ist geboten, denn das Konzept von Cambridge Analytica öffnet auch Manipulationen, Täuschungen und Tricksereien Tür und Tor. Gerade Fake-News können völlig neue Höhen der Wirksamkeit erklimmen, werden sie auf psychometrischer Grundlage von künstlichen Intelligenzen massiv in den sozialen Medien verbreitet. Zudem profitieren Kandidaten ohne eigene Überzeugungen, die ihre Pläne wetterwendisch an die wechselnden Windrichtungen des Zeitgeistes anpassen, die nicht Orientierung bieten, sondern nur profillose Projektionsflächen für eine breites Meinungsspektrum darstellen. Welche Bewerber für das Kanzleramt würde wohl eine KI empfehlen, die Wahlergebnisse anhand vieler Millionen auf OCEAN-Psychogrammen basierenden Wählerprofile hochrechnet? Am Ende gar sich selbst?

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Bis es so weit kommt, eröffnet die neue Methode vor allem denen mit dem einfachsten Zugang zu den umfassendsten Datenmengen die größten Chancen. Und das sind, nach Lage der Dinge, Google und Facebook. Bis es so weit kommt, ist im Vorteil, wer die beste KI programmiert. Und das könnten, nach Lage der Dinge, Google und Facebook sein. Sollte ein Mark Zuckerberg tatsächlich irgendwann für das Amt des US-Präsidenten kandidieren, wären vielleicht nur Larry Page oder Sergey Brin fähig, seinen Sieg zu verhindern.

Es sei denn, die Bürger restaurieren ihre Mündigkeit. Denn die von Wheatland angenommene Beziehung zwischen Persönlichkeitsprofil und politischer Einstellung existiert nur in seiner Vorstellung. Belegt ist sie nicht. Der Ansatz von Cambridge Analytica funktioniert ohnehin nur, wenn Menschen aus emotionalen Gründen wählen. Wenn sie sich Ängste oder Hoffnungen einreden lassen, wenn sie Sympathien oder Antipathien zum Maßstab ihrer Entscheidungen erheben, wenn sie ignorieren, welche Auswirkungen welche Politik auf ihr eigenes Leben hat und sich stattdessen zu wissen einbilden, was für andere gut und richtig ist. Wer aber mit einem gesunden Egoismus Programme und Konzepte strikt rational bewertet, ist gegen die Verführungskünste populistischer Datenakrobaten weitgehend immun. Vielleicht verdeutlichen die neuen Gefühlsmechaniker mit ihren Psychogrammen und Algorithmen uns am Ende lediglich, wie leicht wir verführbar sind. Vielleicht beginnen die „Hansdampf46“ und „Biene87“ deswegen wieder damit, Dogmen durch Fakten und Glauben durch Wissen zu ersetzen. Dann würde auch ein Mark Zuckerberg nicht automatisch US-Präsident, sondern nur mit einem Programm, das seinen Mitbürgern wirklich nutzt, statt ihnen das nur geschickt vorzugaukeln. Vielleicht führt der Weg von der digital gelenkten Demokratie schließlich in eine digital aufgeklärte, vielleicht sogar in Deutschland. Das wäre doch ein echter Lichtblick.