Tichys Einblick
"Wiederaufbaufonds"

Olaf Scholz als Zyniker: Schulden zum Fortschritt erklärt

Der Bundesfinanzminister inszeniert einen atemberaubenden Wandel der Interpretation: Wir sollen nun als Fortschritt ansehen, was gemeinhin für schlaflose Nächte sorgt.

imago images / photothek

Die Kunst des Politikers, zumindest wenn er im gegenwärtigen Politikbetrieb nach ganz oben will, besteht nicht zuletzt darin, den Bürgern ein X für ein U vorzumachen. In dieser Kategorie hat der so genannte Kanzlerkandidat der SPD und Bundesfinanzminister nun ein kleines Meisterwerk geschaffen. In einem Interview mit den Zeitungen der Funke Mediengruppe sagte er: „Der Wiederaufbaufonds ist ein echter Fortschritt für Deutschland und Europa, der sich nicht mehr zurückdrehen lässt“. Dass die EU erstmals gemeinsame Schulden aufnehme, dieses Geld dann gezielt gegen die Krise einsetze, und sich verpflichte, bald mit der Rückzahlung zu beginnen, seien „tiefgreifende Veränderungen, vielleicht die größten Veränderungen seit Einführung des Euro“.

Vielleicht erinnert sich manch einer noch vage: Einst, also noch vor wenigen Monaten, schworen Deutschlands Regierende (vor allem die Bundeskanzlerin) heilige Eide: Keine Euro-Bonds, auf gar keinen Fall, niemals. Dann kam die Corona-Krise und es hieß – sinngemäß: In dieser außergewöhnlichen Lage, müssen wir nun ganz außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen – einmalig natürlich. 

Und nun, nur wenige Wochen nach Verkündigung des EU-Corona-Hilfspakets, auch Wiederaufbaufonds genannt – in allem außer dem Namen entsprechen sie den zuvor so scheinbar vehement abgelehnten Eurobonds – hören wir nun also ganz andere Töne aus der Bundesregierung. Dass es aus der CDU auch Kritik an Scholz’ Aussage gibt, kann man wohl als bedeutungslos ignorieren, solange die Kanzlerin mit Scholz d’accord ist. Und wenn Merkel zu etwas schweigt, heißt das, dass sie einverstanden ist. 

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Das, was bis vor kurzem als unbedingt zu verhindern galt, und dann als unvermeidbare Notwendigkeit in der Corona-Krise, wird nun also zu einem „großen Fortschritt“ uminterpretiert. Verständlich, dass die Regierenden dies tun, wo doch die öffentliche Kritik an der gemeinsamen Verschuldung (eigentlich geht es natürlich darum, dass sich Deutschland und einige kreditwürdigere EU-Staaten verschulden, um weniger kreditwürdige, vermeintlich ärmere Staaten zu unterstützen) in der Öffentlichkeit und erst Recht im Politikbetrieb fast gänzlich ausblieb. Verständlich vor allem aus der Karriereperspektive eines Mannes, der oben bleiben oder möglichst sogar noch höher hinaus will und sich daher als Mann des Fortschritts inszeniert, was für einen Sozialdemokraten zum Selbstverständnis gehört.

Also sollen die deutschen Bürger nun tatsächlich glauben, dass sprunghaft steigende Schulden ein Grund zur Zuversicht in die politische Handlungsfähigkeit und generell die Zukunft eines Gemeinwesens sind. Scholz arbeitet als Kommunikator an dieser Neuinterpretation: Die EU sei stark und gewinne an Souveränität, also an Staatlichkeit, weil sie im eigenen Namen Schulden macht. Aber er ist danicht allein. Und das große Lügen geht ja schon beim Namen „Wiederaufbaufonds“ los: Als ob irgendetwas zerstört worden wäre, das nun wieder aufgebaut werden müsste! 

Tatsächlich geht es nicht darum, Zerstörtes wieder aufzubauen, sondern Illusionen nicht als solche offenkundig werden zu lassen, die der politische Betrieb selbst jahrzehntelang genährt hat. Die Menschen sollen (noch) nicht merken, dass ihre Erwartungen bleibenden oder wachsenden Wohlstands möglicherweise nicht dauerhaft zu erfüllen sind. 

Ein ehrlicher Politiker könnte argumentieren, dass die Schulden, die die EU nun aufnimmt, ein notwendiges Übel sind, um noch schlimmere Übel in bestimmten Ländern der EU zu mildern. Um ihnen nochmal die Chance zu geben, zu anderen Ländern aufzuschließen. Die Erfahrung mit der Kohäsionspolitik der EU spricht eher nicht dafür, dass das funktioniert. Aber zumindest kann man so begründet argumentieren. Darin aber einen grundsätzlichen Fortschritt ausgerechnet „für Deutschland und die EU“ zu behaupten, offenbart entweder zynische Verlogenheit oder Blindheit gegenüber der Wirklichkeit.

Kein politischer Analyst mit klarem Blick würde vernünftigerweise einen Staat oder ein Gemeinwesen als besonders zukunftsträchtig und „fortschrittlich“ einordnen, weil es sich gerade hohe Schulden aufgeladen und sich auf drei Jahrzehnte zu deren Tilgung verpflichtet hat. Schulden, daran muss man heutzutage offenbar explizit erinnern, befreien den Schuldner allenfalls kurzfristig aus einer Bredouille, mittel- und langfristig machen sie den Schuldner unfrei und damit schwächer. Im Privatleben ist niemand besonders stolz darauf, Schuldner zu werden. Wohl die meisten, die einen Kredit aufnehmen, haben dabei eher ein flaues Gefühl im Bauch und schlafen sicher nicht besser, wenn sie an ihre Zahlungsverpflichtungen denken. Eigentum macht stark und frei, nicht Schulden. 

Je größer die sich verschuldende Organisation ist, je unpersönlicher damit die Verantwortung für die Schuld wird, desto geringer werden offenbar die Skrupel. Bei einem neuartigen Über-Staatswesen namens EU sind solche Skrupel offenkundig weitestgehend verschwunden. Stattdessen versprechen sich viele vieles von den Schulden – und niemand will sich wirklich konkret jene Menschen vorstellen, die dafür irgendwann zur Kasse gebeten werden. 

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