Tichys Einblick
Bundestagsdebatte:

Merkel und „wir“: Über die Sprache der Bundeskanzlerin

"Wir" war das zentrale Wort der Bundeskanzlerin vor dem Bundestag. Nicht zum ersten Mal. Aber wer sind "wir" in den Reden der Bundeskanzlerin? Es soll da etwas zusammenwachsen, was nicht zusammengehört.

Angela Merkel in der Generaldebatte im Bundestag am 30. September 2020

imago images / Eibner

In Merkel-Reden nach starken Thesen oder überzeugenden Argumenten zu suchen, ist ein müßiges Geschäft. Aber das heißt nicht, dass die Bundeskanzlerin mit ihnen keinen Zweck verfolge. Ihre Botschaften sind eben nicht sachlicher Natur. Es geht ums Unterschwellige, ums Gefühl. 

Das zentrale Wort in Merkels jüngster Rede vor dem Bundestag war: „wir“. Nicht zum ersten Mal. Spätestens seit Merkels berühmtem „Wir schaffen das“ ist die erste Person Plural ein zentrales Stilmittel merkelscher Sprache.

Aber in ihrer gestrigen Bundestagsrede hat sie es in besonderer Penetranz verwendet. 192 mal taucht dieses Wörtchen auf – plus 39 mal „uns“. Zum Vergleich: „Ich“ sagt sie nur 61 mal. Das Wort „Bundesregierung“ kommt ganze zwei mal vor. 

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Warum diese Diskrepanz? Ging es nicht in ihrer Rede um, wie es im Sitzungsprotokoll heißt, den „Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramts, Einzelplan 04“. Warum dann immer dieses „wir“, und nicht vor allem „ich, die Bundeskanzlerin“ oder „die Bundesregierung“? 

Wer dieses „wir“ genau ist, das bleibt in vielen Merkelsätzen unklar. Und genau in dieser Undeutlichkeit dürfte auch der Zweck der übermäßigen Verwendung liegen. Unklarheit ist überhaupt wohl der wesentliche Zweck von Merkels Kommunikation. Das Nebulöse, Unpräzise, oft auch grammatisch Holprige Ihres Sprechens ist Programm. Politische Probleme und ihre Antworten darauf nicht klar zu benennen, sondern deren Konturen in einem Nebel der Unklarheit und Gefühligkeit verschwimmen zu lassen, ist das Geheimnis von Merkels Kommunikationserfolg. 

„Wir haben im vergangenen Jahr das Klimaschutzprogramm 2030 beschlossen“: Da ist „wir“ die Bundesregierung bzw. die Regierungsmehrheit im Bundestag. Aber dann, wenige Sätze später sagt Merkel: „Wir können sehr stolz sein, dass wir inzwischen die erneuerbaren Energien als die wesentliche Säule, die Hauptsäule unserer Stromerzeugung haben.“ Da ist es der Rednerin sicherlich willkommen, wenn sich alle Zuhörer von diesem „wir“ angesprochen fühlen.

Das „wir“ in den Merkelsätzen steht eben nicht immer eindeutig für die Bundesregierung, die CDU oder ihre Kanzlermehrheit im Bundestag. Oft sind dann doch alle Deutschen gemeint oder vielmehr: alle, die in diesem Land leben. Und dass dies vom einen zum nächsten Satz nicht immer so genau zu unterscheiden ist, dürfte Absicht sein.

Mit Bezug auf die Corona-Warn-App sagt sie : „Wir haben manchmal die starke Tendenz, uns unsere Erfolge klein zu reden.“ Der Bundesregierung kann sie diese Tendenz kaum ernsthaft unterstellen – oder etwa doch? Sind also alle Deutschen gemeint? Man weiß es nicht endgültig. Und vermutlich soll man es nach dem Willen der Sprecherin auch nicht endgültig und genau wissen. 

Merkel sagt: „So hoffe ich, dass wir in einer großen gemeinsamen Kraftanstrengung von Bund, Ländern und kommunalen Schulträgern einen Sprung machen, damit wir dann in ein oder zwei Jahren sagen können: Wir sind wirklich weitergekommen. – Das haben unsere Kinder verdient; das muss ich Ihnen wirklich sagen.“ Diejenigen, die die Kraftanstrengung vollbrachten und die Eltern „unserer Kinder“, sind in diesem Absatz nicht mehr zu unterscheiden. 

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„Wir haben also in diesen Monaten der Pandemie gemerkt, dass wir auch unsere Politik dahin gehend weiterentwickeln müssen, dass wir schneller, wirksamer und widerstandsfähiger werden“, verkündet Merkel, „… deshalb haben wir… wir werden… wir investieren… wir bauen“. Doch dann der Clou: „… aber wir denken nicht nur an uns, wir handeln auch europäisch gemeinsam und wir denken auch daran, dass alle Menschen auf der Welt eine Chance haben müssen, einen Impfstoff zu bekommen“. Denkt nun die Bundesregierung, die investiert und baut, nicht mehr nur an sich – oder wer ist „uns“ gemeint? Auf einmal offenbar doch wieder alle Deutschen? 

Die Kanzlerin, die Bundesregierung und der Rest des Landes verschmelzen also sprachlich in einem „wir“ oder sind zumindest nicht mehr eindeutig zu unterscheiden. Der Zuhörer wird also unmerklich eingemeindet in die Gemeinschaft der angeblichen Kraftanstrengung der Bundesregierung.

Und in diesem Sinne funktioniert dann auch der Corona-Epilog zu ihrer Rede („Desshalb kann ich diese Haushaltsrede jetzt auch nicht einfach so beschließen; ich kann nicht nach der üblichen Routine verfahren, wenn die Zeit der Pandemie keine Routine kennt“). Es ist ein Appell „direkt an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, und an Sie alle, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“: 

„Wir müssen reden, im Familienkreis, im Freundeskreis, mit Kolleginnen und Kollegen, in den Kitas, in den Schulen, in den Alten- und Pflegeheimen, in der Nachbarschaft, in den religiösen Gemeinden, im Fußballverein oder im Chor. Wir müssen reden, erklären, wir müssen vermitteln – an öffentlichen Orten, natürlich zuvörderst hier im Parlament, in den Kommunen, in den sozialen Medien – mit Worten, die möglichst viele erreichen. Dazu bitte ich um Ihre Mithilfe. Wir alle müssen die Gefahren erklären, und wir müssen damit ein Bewusstsein schaffen…  Ich bin sicher, dass wir durch diese historische Erfahrung als Gemeinschaft wachsen und dass sie uns bei allem, was schwer und belastend ist, enger miteinander verbindet.“

Aber ist es tatsächlich „unsere“ Pflicht, also die Pflicht aller Bürger, anderen Bürgern etwas zu „erklären“, zu „vermitteln“, „ein Bewusstsein zu schaffen“? Sollen „wir“ nun tatsächlich den Vereinskameraden in der Umkleidekabine oder nach der Chorprobe den Sinn und Zweck der Corona-Maßnahmen weismachen? Die Kanzlerin jedenfalls will es so. 

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