Tichys Einblick
"Undemokratisch"?

Melonis Sieg und die tiefere Krise der Demokratie in der EU

Deutsche EU-Politiker und die hinter ihnen stehenden Medien verweigern offenkundig jeglichen Gedanken an die Botschaft, die die italienischen Wähler an diesem Wochenende gesandt haben. Dahinter wird eine tiefere Krise deutlich, in der das Verständnis von "Demokratie" auf dem Spiel steht.

Giorgia Meloni, Fratelli d'Italia, 26.09.2022

IMAGO / Antonio Balasco

Rückwärtsgewandter geht es wohl kaum. Dem Redakteur einer großen deutschen Wochenzeitung fällt zum Wahlsieg Giorgia Melonis und ihres Bündnisses im Wesentlichen nur ein Wort ein: „Faschismus“. In Dachzeile, Überschrift und Vorspann kommt es vor. Dieser Faschismus sei „nie weg“ gewesen in Italien.

Und in typisch deutsch-journalistischer Überheblichkeit stellt der Autor eine Scheinfrage, die sich seiner Ansicht nach viele Deutsche stellten: „Sind die Italienerinnen und Italiener verrückt geworden, dass sie eine Erbin des italienischen Faschismus zur Ministerpräsidentin ihres Landes machen wollen?“ In einer anderen, nicht weniger renommierten deutschen Tageszeitung schreibt ein ehemaliger Chefredakteur im selben Ton: „Italien wählt Mussolinis treue Erbin

Beide Autoren scheinen zu glauben, dass Italiener ihre Wahlentscheidung im Jahr 2022 vor allem aus Sehnsucht nach einem verbrecherischen Regime in ihrem Land fällen, das vor genau 100 Jahren begann und 23 Jahre später gewaltsam endete, als die meisten von ihnen noch lange nicht geboren waren. Also unterstellt man ihnen Verrücktheit oder schlimmeres. Erst im hinteren Teil eines anderen Artikels teilt derselbe Redakteur nach all seiner Faschismus-Aufregung dann nüchtern mit, dass niemand in Italien glaube, dass Meloni die italienische Demokratie ernsthaft gefährden könnte. Nur, was soll dann das ganze Faschismus-Geraune? Ein Faschismus, der die Demokratie nicht abschafft, ist schließlich kein Faschismus. 

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Die nüchterne und naheliegende Deutung des italienischen Wahlergebnisses kommt weder in den ersten Reaktionen der deutschen Presse, noch deutscher und EU-europäischer Politiker zur Sprache: Die Italiener haben genug von der Politik der bisher regierenden und tonangebenden politischen Kräfte in Italien und der EU. Meloni und andere politische Phänomene in europäischen Ländern, wie etwa die kurz zuvor erfolgreichen „Schwedendemokraten“, sind nicht mit einem 80-Jahre-Rückblick in die Geschichte zu begreifen, sondern mit Blick auf die jüngste Vergangenheit und Gegenwart. Es sind völlig erwartbare und legitime Äußerungen politischer Unzufriedenheit und des Willens, eigene Interessen durchzusetzen, die von den bislang Regierenden vernachlässigt oder sogar aktiv beschädigt wurden und werden.

Das Brüsseler Establishment gibt sich entsetzt. Die frühere SPD-Ministerin Katharina Barley, Vize-Präsidentin des EU-Parlaments, hält das Wahlergebnis für „besorgniserregend“. „Wir sind besorgt“, sagt die Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, die Spanierin Iratxe García Pérez. Rasmus Andresen, Sprecher der deutschen Grünen im EU-Parlament, sieht offenbar eine demokratische Wahl als Naturkatastrophe, spricht also von einem „Unwetter“ und behauptet: „Italien als Gründungsmitglied und drittstärkste Wirtschaft der EU steuert auf eine antidemokratische und antieuropäische Regierung zu.“ EU-Kommissionspräsdientin Ursula von der Leyen hatte schon vor der Wahl den Italienern in einem ziemlich beispiellosen Akt der Einflussnahme gedroht, dass ihre Behörde „Werkzeuge“ habe, sollte Italien unter einer rechten Regierung die EU-Regeln nicht beachten.

Genau die aus solchen Äußerungen tönende Arroganz der EU-Eliten und ihre Ignoranz gegenüber den Interessen breiter Bevölkerungsschichten dürfte einer der Hauptgründe für die Niederlage der besonders EU-freundlichen Sozialdemokraten der PD in Italien sein. Meloni traf wohl genau die Empfindung ihrer Wähler, als sie unmittelbar vor der Wahl ausrief: „Italien gehört den Italienern, nicht Ursula von der Leyen.“

Viele Verlautbarungen in weiten Teilen der politisch-medialen Sphäre sind von einem beachtlichen Maß an Ignoranz und Selbstgerechtigkeit geprägt. Man verweigert offenkundig jeglichen Gedanken an die Botschaft, die die italienischen Wähler auch ihnen an diesem Wochenende gesandt haben. Barley oder von der Leyen haben kein einziges selbstkritisches Wort geäußert. Keine Spur von Verständnis für die Wähler Melonis oder der Schwedendemokraten, genauso wenig wie für die Wähler der PiS in Polen oder Orbáns In Ungarn.

Ein Staatenbund, dessen führende Politikerin schon vorab mit „Werkzeugen“ droht, wenn die Wähler eines Mitgliedslandes anders wählen, als sie will, und in dem solche auf demokratisch einwandfreien Wahlen vermutlich hervorgehende Regierungen schon als „undemokratisch“ beschimpft werden, bevor sie gebildet sind, steuert womöglich auf eine grundlegende Krise zu. Man versteht offenbar nicht mehr überall in dieser EU unter „Demokratie“ dasselbe. Der Kulturkampf von dem in jüngerer Zeit oft die Rede ist, wird auch um das Verständnis dessen, was „demokratisch“ ist, geführt. Dazu gehört zum Beispiel auch die Kombination von „antieuropäisch“ und „antidemokratisch“ durch den Grünen-Politiker Andresen, die wohl nahelegen soll, dass beides unbedingt zusammengehört.

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Die arroganten bis hysterischen Reaktionen auf Melonis Wahlsieg ebenso wie der schulmeisterlich-pseudobesorgte, repressive Umgang mit Ungarn und Polen offenbaren eine Deformation des Demokratie-Verständnisses innerhalb der politisch-medialen Eliten in Brüssel und anderswo in Europa. Letztlich hat man sich dort in erschreckender Weise von einem der zentralen Gedanken der freiheitlich-pluralen Demokratie entfremdet. Nämlich von der allgemeinen Legitimation eines Machtwechsels gemäß Wählerwillen: Das Scheitern der bisher regierenden politischen Kraft kann vom Souverän (das ist das Volk und nicht die EU-Administration) mit deren Abwahl und der Wahl einer ganz anderen politischen Kraft an die Macht (auf Zeit!) geahndet werden. 

Die Idee, dass die Bürger als Wähler das Recht haben, die Politik und auch die grundsätzlichen Vorstellungen der Regierenden abzulehnen und ganz andere Politiker mit stark abweichenden Vorstellungen in die Regierung zu wählen, scheint im Westen nicht mehr selbstverständlich zu sein. Wer Wahlsieger „antidemokratisch“ nennt, weil sie seine eigenen politischen Entwicklungswünsche nicht teilen, verfügt offensichtlich über einen Demokratie-Begriff, der keine wirkliche Vielfalt akzeptiert. Es ist ein Demokratie-Begriff, der jenem der „Volksdemokratien“ des früheren Ostblocks und der Herrscher der „Deutschen Demokratischen Republik“ gefährlich nahe kommt. Und die beruht letztlich auf Rousseau und seiner Theorie der „volonté generale“, die darauf hinausläuft, dass eine aufgeklärte Elite festlegt, was das Volk zu wollen hat, also definiert, was demokratisch ist.

Wer glaubt zu wissen, was das Volk zu wollen hat, wird einen durch friedliche Mehrheitswahl des Volkes herbeigeführten grundlegenden Richtungswechsel natürlich nicht für „demokratisch“ halten. Aber genau diese Fähigkeit des souveränen Volkes, nicht nur einzelne Regierende und Parteien abzuwählen, sondern auch deren politische Grundsatzentscheidungen zu korrigieren, indem man ganz andere politische Kräfte an die Macht wählt, ist die Essenz der freiheitlichen Demokratie.

Der große Graben in der Gesellschaft
Zweierlei Demokratie
Die reale Möglichkeit auch radikaler Machtverschiebungen und damit einhergehender Paradigmenwechsel durch Änderungen der Mehrheitsverhältnisse (auf Zeit!) ist die wichtigste Bedingung dafür, dass ein demokratisches Gemeinwesen nicht zu einer Diktatur degeneriert, sondern eine „offene Gesellschaft“ bleibt. Diese demokratische Instabilität der Macht war und bleibt auch das Erfolgsgeheimnis gegenüber anderen, nicht pluralistischen Regierungssystemen, die auf starren unkorrigierbaren politischen Dogmen beruhen und sich für unfehlbar und darum unabwählbar halten.

Wenn die Europäische Union fortbestehen will als Verein demokratisch verfasster Staaten, wird sie sich auf diese Stärke des alten Westens besinnen müssen: die Akzeptanz der Vielfalt der politischen Angebote, die miteinander im Wettbewerb stehen, die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander sehr unterschiedlicher Regierungen mit auch entgegenlaufenden Zielen. Als Imperium, das den Mitgliedsstaaten eine Brüsseler „volonté generale“ vorschreibt, wird sie keine Zukunft haben.

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