Tichys Einblick
Ein Ex-Minister auf Abwegen

Ein seltsames Interview: De Maizière redet vom Ausnahmezustand

Der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière wünscht sich in einem Interview eine Grundgesetzänderung über den Ausnahmezustand herbei, in dem de facto der Föderalismus abgeschafft würde und ein Krisenstab mit "Weisungsrecht" die Macht übernähme. Und das ausgerechnet jetzt.

IMAGO / photothek

Thomas de Maizière war damals vierzehn Jahre alt, kann sich also womöglich noch erinnern, welche Emotionen 1968 mit den „Notstandsgesetzen“ verbunden waren. Womöglich ist sein Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in dem er für die nächste Legislaturperiode „eine große Staatsreform“ und „die Regelung eines Ausnahmezustandes für Deutschland“ durch eine Grundgesetzänderung vorschlägt, also eine Art Testballon.

Die Empörung über die damals von der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger angestoßene Grundgesetzänderung war in Deutschland eines der Motive der Studentenproteste. Auf Plakaten wurden die Notstandsgesetze meist mit der NS-Herrschaft verbunden. Etwa: „Kurt Georg Kiesinger – erst NS-Propagandist, jetzt Notstandsplaner“  Oft war auch von einer Neuauflage des Ermächtigungsgesetzes die Rede. Die Studenten vermittelten jedenfalls den Eindruck, eine neue Gewaltherrschaft komme durch diese Gesetze gefährlich näher.

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De Maizière müsste eigentlich aus dreifacher Kompetenz als Jurist, früherer Verteidigungs- und Bundesinnenminister wissen, dass die damaligen Grundgesetzesänderungen längst nicht „nur für den Verteidigungsfall gelten“, wie er fälschlich behauptet, sondern auch bei Naturkatastrophen und einem „inneren Notstand“ also – besonders zu beachten – bei „drohender Gefahr“ für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Auch für diesen Fall ermöglicht seit 1968 das Grundgesetz, bundesländerübergreifend die Polizei und auch die Bundeswehr einzusetzen. Allerdings wurden diese Möglichkeiten der Notstandsgesetzgebung von 1968 bisher nie angewendet – auch nicht im Kampf gegen die „Rote Armee Fraktion“.

Natürlich kann niemand, auch nicht ein Ex-Minister und Nur-noch-Bundestagsabgeordneter wie de Maizière in der aktuellen Lage mit dem Begriff des Ausnahmezustands um die Ecke kommen, ohne dass dieser auf die aktuelle Pandemie bezogen wird. Und diesen Bezug stellt de Maizière selbst her, wenn er von gegenwärtigen Entscheidungsverfahren spricht und dabei die Ministerpräsidentenkonferenz nennt und klagt, diese Verfahren seien zu zeitaufwändig. In der Krise brauche man Tempo, Verbindlichkeit und klare Verantwortlichkeiten. Dafür sei „die Regelung eines Ausnahmezustandes für Deutschland“ unerlässlich.

Der Witz dabei ist, dass dieses angeblich zu langsame Gremium ja gar nicht die (im Grundgesetz nicht erwähnte) Ministerpräsidentenkonferenz ist, sondern eine um die Bundeskanzlerin erweiterte Konferenz. Die Coronapolitik findet also ohnehin schon in einer Art unerklärtem improvisiertem Sonderfall statt. Eine Grundgesetzänderung war dafür gar nicht nötig. So wie es übrigens auch keine verfassungsrechtliche Grundlage für den so genannten Koalitionsausschuss gibt.

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Konkret fordert de Maizière in einem solchen Ausnahmezustand, den der Bundestag ausrufen dürfen soll, die Einrichtung eines „alle Ressorts und Ebenen übergreifenden Krisenstabs“ mit neuen Durchgriffsrechten und einem Weisungsrecht gegenüber den Ländern. Der Bundestag soll also die zumindest temporäre Entmachtung der Bundesländer beschließen können. Und da im Bundestag für gewöhnlich die Regierungsfraktionen tun, was die Regierenden wollen, heißt das letztlich, dass die Bundesregierung die Landesregierungen temporär entmachten können soll.

Kann das ein Zufall sein, dass der Ex-Minister solches anregt, während zugleich die Wünsche der Bundeskanzlerin nach einem „Bundeslockdown“ bekannt werden und sogar zwei Ministerpräsidenten fordern: „wir dürfen nicht länger diskutieren“.

Natürlich kann so etwas unter sehr außerordentlichen Umständen tatsächlich notwendig sein. Der eindeutigste Umstand wäre der Verteidigungsfall. Für den aber sind solche Regelungen ohnehin vorgesehen, die früher sogar manchmal geübt wurden. Beim Angriff eines Feindes, kann man nicht lange diskutieren und abstimmen, da muss klar sein, wer die Befehle gibt. Und die müssen möglichst unverzüglich erteilt und ohne Vetomöglichkeit der Untergebenen umgesetzt werden. 

Aber die gegenwärtige Pandemie ist kein Verteidigungsfall, wir sind nicht im Krieg, auch wenn die Kanzlerin oft so redet und das Virus als personifizierten Feind darstellt, der „nicht locker“ lasse. Corona-Viren werden nicht von einem feindlichen Oberkommando geführt, auf dessen Entscheidungen ein eigenes Oberkommando blitzschnell reagieren können muss.

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Die Pandemie ist auch nicht mit den anderen Beispielen vergleichbar, die de Maizière nennt (Cyberangriff, ein Stromausfall oder länderübergreifende Waldbrände). Das Virus ist auch kein innerer Feind, der die freiheitliche demokratische Grundordnung angreift, und auch keine Mega-Naturkatastrophe, die die Strukturen unseres Gemeinwesens gefährdet und daher einen Ausnahmezustand und besondere quasi-militärische Befehlsgewalt erforderlich macht. Es ist ein für manche Menschen lebensgefährliches Virus, aber es stellt nicht die Existenz des Landes oder der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Frage. Die Pandemie ist eine gesundheitspolitische, keine Sicherheitsaufgabe.

Alle bisherigen Erfahrungen mit der Pandemie zeigen, dass sie regional sehr unterschiedlich auftritt und darum sehr unterschiedliche, jeweils angemessene und verhältnismäßige Maßnahmen erfordert, die eher in den betroffenen Kommunen und Ländern als auf Bundesebene, geschweige denn EU-Ebene getroffen werden sollten. Es braucht keinen Krisenstab, kein Oberkommando mit „Weisungsrecht“ gegenüber den Bundesländern. 

Das alles weiß de Maizière natürlich, der nicht nur Sohn eines Wehrmachts- und Bundeswehrgenerals, sondern selbst Reserveoffizier ist. Umso fragwürdiger ist sein seltsamer Vorstoß und dieses ganze Interview, das – besonders befremdlich – außer diesem Vorstoß nur eine einzige weitere Frage behandelt, nämlich wie Thomas de Maizière als Berater seines Cousins, des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière 1990 eine gewisse Angela Merkel als stellvertretende Regierungssprecherin empfahl. „Im Laufe der Verhandlungen zum Einigungsvertrag haben wir dann viel nebeneinander gesessen und uns schätzen gelernt. Dass ich Merkel sozusagen erfunden haben soll, stimmt also gerade vielleicht zu zehn Prozent.“ Was für ein seltsamer Ausklang eines befremdlichen Interviews. 

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