Tichys Einblick
Die Kanzlerin und die Krise

Angela Merkels letzte große Zeit

Die Bundeskanzlerin erscheint als große Krisenprofiteurin. Sie macht nach ihren Kriterien auch alles richtig. Aber die eigentliche Krise hat noch gar nicht richtig begonnen und schmerzt noch nicht. Wenn sich das ändert, wirkt auch die merkelsche Methode nicht mehr.

Angela Merkel in ihrer Videobotschaft vom 3. April 2020

Screenshot / Bundesregierung

In dieser ersten Phase der Corona-Krise gehört die Bundeskanzlerin zur Minderheit der Gewinner. Während die Deutschen ihre Einkommen und Vermögenswerte schwinden sehen, steigen für Angela Merkel die entscheidenden Werte: 72 Prozent der Deutschen sind laut ARD-DeutschlandTrend vom 2. April mit der Bundesregierung zufrieden. Im März waren nur 35 Prozent zufrieden. Und vor allem: CDU und CSU stehen wieder bei 34 Prozent in der Sonntagsfrage! Die fünfte Amtszeit scheint nun, wo der CDU-Kandidatenwettstreit coronabedingt verschoben und ohnehin aus dem öffentlichen Fokus ist, gar nicht mehr unwahrscheinlich.

Merkel hat in der Coronakrise bislang alles richtig gemacht – wohlgemerkt: nach ihrem leitenden, vielleicht sogar einzigen Erfolgskriterium. Und das ist: Machterhalt. Ob das Krisenmanagement für jene, die jetzt mit ihr so zufrieden sind, auch in den kommenden Phasen der Krise noch so zufriedenstellend sein wird, ist fraglich. Die Schmerzen, die das Virus und die sozioökonomischen Folgen der Gegenmaßnahmen bereiten, sind ja für die meisten Menschen, die nicht selbst einen schweren Krankheitsverlauf durchmachen, noch kaum wirklich zu spüren. Bislang ist es eher die Ungewissheit, die Angst, die die Menschen nervös macht. Die Angst vor dem, was noch kommt, bestimmt die Gegenwart. Aber noch ist die Gegenwart selbst nicht besonders schmerzhaft – zumindest in Deutschland nicht. 

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Merkel war in den Monaten vor der Ankunft des Virus tagelang kaum öffentlich präsent. Zu den grundlegenden Fragen, die das Land und seine Öffentlichkeit bewegten, glaubte sie ganz offensichtlich keine Meinung haben zu müssen. Denn sie verspricht sich davon keinen Effekt, ihre Macht zu festigen. Merkels Unsichtbarkeit war gerade kein Zeichen der Schwäche oder gar dafür, dass die Diadochenkämpfe um ihre Nachfolge sie bereits zu einer lahmen Ente gemacht hatten. Nein, es gehört zu Merkels bewährter Machterhaltungsmethode, ihre Kräfte und auch das Gewicht ihrer Kanzlerinnenbedeutung nicht in der Sachpolitik einzusetzen. Die interessiert sie letztlich nicht wirklich. Wenn die Kanzlerin das Licht der Öffentlichkeit aktiv sucht, geht es immer um das für sie einzig Entscheidende: ihre Macht, deren Erhalt oder Ausbau. 

Das war so, als sie im Februar in der Thüringen-Affäre ihrem Land und ihrer Partei, die sich gerade anschickte, einen Nachfolger für sie zu wählen, zeigte, wer immer noch das Zepter führt. Sie bestätigte damit den Satz des dunklen Staats- und Geschichtsdenkers Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt.“ Merkel verfügt offenbar darüber, wenn sie mit ein paar Worten eine verfassungsgemäße Wahl zu einem „unverzeihlichen Vorgang“ erklären und dafür sorgen kann, dass das Ergebnis wieder „rückgängig“ gemacht wird.

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Und so ist auch die aktuelle Bildschirmpräsenz der Kanzlerin zu erklären. In dieser Phase der Nervosität, Verunsicherung und Angst ist das Bedürfnis vieler Menschen, sich an das Bekannte, scheinbar Sicherheit Gewährende anzulehnen, groß. Das ist die Zeit, in der die Regierenden allein schon durch Sichtbarkeit glänzen. Und Merkel nutzt sie. Verstärkt durch eine weitestgehend kritiklose Presse, allen voran die öffentlich-rechtlichen Sender, schafft es die Kanzlerin, das vernachlässigte Bedürfnis vieler verunsicherter Deutscher nach Geborgenheit, vielleicht sogar Führung, anzusprechen – und so ihre Macht zu festigen.

Deswegen sollte man auch nicht die Bedeutung ihrer Reden ans Volk in dieser Corona-Krise mit deren großteils eher banalen bis läppischen konkreten Inhalten verwechseln. Diese Auftritte sind ein Selbstzweck. Merkels Machtinstinkt versagt auch im 15. Jahr ihrer Kanzlerschaft nicht. Sie muss sich in der Coronakrise nicht neu erfinden, sondern liefert, etwa in ihrer Videobotschaft vom Freitag, ein bewährtes Gebräu: Sachlich sagt sie wie immer nur Dinge, die jeder Zuhörer schon weiß. Sätze wie „Die Einhaltung des Abstands ist der wichtigste Schutz.“ Merkels Redenrezept lautet: Banalitäten mit Sentimentalitäten mischen! In diesem Fall heißt das: Wohlige Worte zum Osterfest, das so sein wird wie kein anderes. Dazu noch eine Prise Eigenlob – sie sagt tatsächlich ganz unbescheiden, ihre eigene Aufgabe sei eine „Herkulesaufgabe“. Und schließlich als wichtigste würzende Zutat zwei ihrer immer wiederkehrenden Narrative, durch die sie sich mit ihrer Anhängerschaft vereint: Wie schon während und nach der Flüchtlingskrise sagt sie: „Unser Land zeigt sich von seiner besten Seite.“ Dafür sei sie „unendlich dankbar“. Und dann eine zentrale Merkel-Wendung, die sie auch schon mehrfach in Reden gebrauchte: „… weil es nicht um Zahlen geht, sondern immer um jeden einzelnen Menschen, dessen unveräußerliche Würde zu achten ist.“ 

Die Kanzlerin vermittelt also ihren Zuhörern, die wirklich existenzielle Krisen aus eigener Erfahrung nicht kennen und daher dem Sinn und Zweck von Politik entfremdet und entsprechend gefühlig sind, eine wärmende Botschaft mit geradezu sakralem Anklang. Sie entpolitisiert die Politik. Denn bei politischen Entscheidungen geht es natürlich eigentlich gerade nicht um „jeden einzelnen Menschen“, sondern um Regeln für das Gemeinwesen, also auch um Zahlen. Aber Merkels Erfolgsrezept ist es gerade, dass sie die Illusion des Unpolitischen verbreitet, als ob sie eine fürsorgliche Mutter wäre, die sich um den Zuschauer am Bildschirm ganz persönlich sorge und kümmere: Wir sollen die kalten Corona-Zahlen vergessen, die in ihrer ganzen kakophonischen Widersprüchlichkeit und Unüberschaubarkeit letztlich nur deutlich machen, dass das Land entgegen früherer Behauptungen ihres Gesundheitsministers eben nicht auf eine solche Pandemie vorbereitet war. Sie, die gerade aus ihrer Quarantäne entlassene Kanzlerin will wie eine gute Hirtin ganz nah bei ihren Schäfchen sein. 

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In ihrer Videobotschaft tut Merkel so – und andere Regierungspolitiker halten es ähnlich – als ob die soziale Einschränkung, der Mangel an Ausgang und gewohnten Vergnügungen bereits der Großteil des Preises sei, der in dieser Krise zu entrichten ist. Und wenn dann demnächst die Einschränkungen aufgehoben werden, sei alles wieder gut und die ökonomische Aufholjagd beginne wieder – unter der Ägide ihres getreuen Peter Altmaier. Die an alljährliche Interkontinentalreisen und allwochenendliche Partys gewöhnten Wohlstandsgenerationen mögen die jetzigen Einschränkungen schon als großes Leid empfinden. Aber vermutlich werden die ökonomischen Einbußen, die noch nicht akut spürbar sind, deutlich schmerzhafter und möglicherweise für manch einen traumatisierend sein. 

Merkel ist die Meisterin der gegenwärtigen unpolitischen Politik des Zehrens von der Substanz. Das bedeutet: unter Verzicht auf bisherige (konservative, ordoliberale, generell nicht-linke) Positionen unangenehmen Entscheidungen auszuweichen und bei Vermittlung guter Gefühle durch Moralisierung den („alternativlosen“) Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Der Erfolg dieser Methode setzt voraus, dass genug ökonomische Substanz und soziales Kapital vorhanden ist, das man dafür einsetzen kann. Diese Voraussetzung ist wohl nicht mehr sehr lange gegeben. Die jetzige Krise dürfte an die Reserven gehen.

Dann, wenn die Bürger ökonomische und vielleicht auch andere Schmerzen akut erfahren, wird für die Regierenden mit sentimentalen Reden nicht mehr viel politische Zustimmung zu gewinnen sein. Dieser Moment – der Beginn der Schmerzen – wird die entscheidende Phase der aufziehenden Krise einleiten. In ihr dürften Merkel und diejenigen, die es ihr gleichtun, nicht mehr zu den Gewinnern zählen.