Tichys Einblick

Wegen Corona: Andere Aufgaben des Gesundheitswesens werden vernachlässigt

Um Platz für Coronapatienten zu schaffen, bleiben Krankenhäuser leer, OP-Säle ungenutzt, Vorsorgeuntersuchungen ausgesetzt. Das kann schwerwiegende, durchaus auch tödliche Folgen haben.

imago Images

Als wenn es urplötzlich keine anderen lebensbedrohlichen, ja tödlichen Krankheiten mehr gäbe, ist das deutsche Gesundheitswesen schier monomanisch auf Corona ausgerichtet. Die Politik wollte es so: Um einer prognostizierten Überlastung des Gesundheitssystems zuvorzukommen, hatten Bund und Länder am 12. März 2020 beschlossenen, die Behandlungskapazitäten bundesweit in kürzester Zeit für Coronafälle hochzufahren. Zu diesem Maßnahmenpaket zählte (und zählt nach wie vor) die Verschiebung nicht dringender („elektiver“) Operationen. Der befürchtete Tsunami an Coronapatienten blieb allerdings glücklicherweise aus, weil sich das Virus (zumindest bislang) erheblich langsamer verbreitete.

Folge: Rund 150.000 Krankenhausbetten sind derzeit bundesweit nicht belegt. Ganze Krankenhausstationen stehen leer. Nach Angaben etwa der örtlichen Krankenhausgesellschaft Bayerns sind derzeit zwischen 40 und 60 Prozent, an einzelnen Kliniken 70 Prozent der Betten frei. „Auch auf den Intensivstationen sind noch Kapazitäten frei“, sagte Geschäftsführer Siegfried Hasenbein. In Nordrhein-Westfalen ist die Lage ähnlich. Dabei zählen Bayern und Nordrhein-Westfalen zu den am stärksten vom Coronavirus betroffenen Bundesländern. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft schätzt sogar, dass derzeit bundesweit 150.000 Betten und 10.000 Intensivplätze frei sind. Zahlreiche Kliniken beantragten gar Kurzarbeit.

Gravierende Corona-Kollateralschäden

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OP-Rückstau ab Mai: „Schon jetzt verzeichnen wir einen erheblichen Rückstau von notwendigen Operationen und Behandlungen“, warnt der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß. Für die Zeit ab Mai 2020 verheißt das nichts Gutes. Zwar wollen Bund und Länder am Donnerstag, 30. April, über das weitere Vorgehen in der Coronakrise beraten. Dabei soll es auch um mögliche Lockerungen der Auflagen für Kliniken gehen. Aber es dürfte – selbst wenn es die Politik wollte – schwer werden, danach in überschaubarer Zeit wieder auf klinischen Normalbetrieb umzustellen. Die verschobenen Operationen nachzuholen bedeutet schließlich auch einen gigantischen organisatorischen Aufwand. Deshalb sollte man nicht – wie Bayern – bis zum 18. Mai warten, dem Tag, ab welchem Krankenhäuser, Kliniken und Reha-Einrichtungen wieder (teilweise) auf ursprüngliche Versorgung umstellen dürfen.

Aus Angst vor Corona wird die Klinik gemieden: Wenn man einmal von den Schmerzen, von der eingeschränkten Lebensqualität und den psychischen Belastungen absieht, gibt es gewiss OP-Eingriffe und Behandlungen, die eine gewisse Zeit verschoben werden können, etwa die Einrichtung eines künstlichen Gelenks. Aber: Selbst viele schwerkranke Patienten mit akutem Behandlungsbedarf bleiben den Kliniken aus Angst vor einer Infektion mit dem Coronavirus fern. Dabei handelt es sich oft um Patienten mit schweren koronaren oder onkologischen Erkrankungen, bei denen jede Woche, ja jeder Tag zählt. Diese Patienten fühlen sich nicht nur als Patienten zweiter Klasse, sondern sie könnten ihre Angst vor der Klinik mit dem Leben bezahlen. In der Statistik der mit oder an Corona Verstorbenen werden sie nicht auftauchen, auch wenn ihr Tod mit Corona zu tun hatte.

Immer weniger Vorsorgeuntersuchungen: Vergleichbares wie für verschobene Operationen und Behandlungen gilt bei Patienten, die sich zum ersten oder zum wiederholten Mal einer Vorsorgeuntersuchung unterziehen sollten: etwa diversen Blutuntersuchungen, einer Darmspiegelung, Herz- und Gefäßechecks, einer Prostatauntersuchung, gynäkologischen Untersuchungen usw. Die Anzahl der seit März 2020 durchgeführten Untersuchungen ist drastisch zurückgegangen. Zum Teil, weil niedergelassene und klinische Einrichtungen dafür keine Kapazität haben oder eben, weil die Untersuchungsbedürftigen „Corona“ den Vorrang geben bzw. sich selbst keiner Infektion aussetzen wollen. Die Regionalpresse ist voll von Berichten von Ärzten, die besorgt darüber berichten – darunter Kinderärzte. Hier ein Beispiel. Patienten, die durch einen Verzicht auf solche Untersuchungen einen „point of no return“ überschreiten und dann nicht mehr therapierbar sein werden, gehen ebenfalls nicht in eine dann geschönte Coronastatistik ein.

Die Politik und so mancher zum virologischen Popstar aufgestiegener „Experte“ wird sich dafür nicht verantwortlich machen lassen.

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