Tichys Einblick
IQB-Bildungstrend:

Die Leistungen der Viertklässler werden immer schwächer – nicht nur wegen Corona

Der Anteil der Kinder, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik verfehlen, ist laut IQB-Bildungstrend teilweise deutlich gestiegen, und die sozialen und zuwanderungsbezogenen Disparitäten haben sich verstärkt. Die Corona-Pandemie wird dafür als Ausrede bemüht.

IMAGO / Thomas Eisenhuth

Erstmals 2011 und dann 2016 wurden die Leistungen deutscher Schüler der 4. Klasse in Deutsch und Mathematik getestet. Dies ist nun im Jahr 2021 zum dritten Mal im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) geschehen. Der angewendete standardisierte Test heißt IQB-Bildungstrend (IQB = Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Humboldt-Universität zu Berlin). Getestet wurden 26.844 Schülerinnen und Schüler der 4. Jahrgangsstufe in 1.464 Grund- und Förderschulen aus allen 16 deutschen Ländern. Im Fach Deutsch werden die Bereiche „Lesen“, „Zuhören“ und „Orthografie“ geprüft, im Fach Mathematik fünf inhaltsbezogene Bereiche, die sich in einer Globalskala mathematischer Kompetenz zusammenfassen lassen.

Nun wurden vorab die ersten Ergebnisse öffentlich. Vertiefende Analysen und Ergebnisse zu den einzelnen Ländern sollen im Oktober 2022 publik gemacht werden.

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Was jetzt bereits veröffentlicht wurde, muss allen an Bildung und an Bildungspolitik Interessierten, vor allem Eltern sowie Lehrern der Grund- und der weiterführenden Schulen die Nackenhaare aufstellen. Denn: Signifikant weniger Viertklässler würden 2021 in Deutsch und Mathematik im Vergleich zu den Erhebungen der Jahre 2011 und 2016 die (ohnehin schon niedrig angesetzten!) Bildungsstandards der KMK erreichen. Der Anteil der Kinder, die die Mindeststandards verfehlen, sei teilweise deutlich gestiegen, und die sozialen und zuwanderungsbezogenen Disparitäten hätten sich verstärkt. 

Weil es für 2021 noch keine ganz konkreten Zahlen gibt, hier ein paar ausgewählte aus der Studie von 2016 – Zahlen, die jetzt offenbar noch einmal unterboten werden: Der Anteil der Kinder, die 2016 die Regelstandards im Bereich Zuhören erreichten oder übertrafen, ist gegenüber 2011 von 74 auf 68 Prozent gesunken, im Bereich Orthografie von 65 auf 55 Prozent. Oder: Gegenüber dem Vergleichsjahr 2011 war der Anteil der Schüler, die 2016 die Regelstandards in Mathematik erreichten oder übertrafen, von 68 auf 62 Prozent gesunken. Da werden wir ja etwas erleben, wenn im Herbst 2022 die konkreten Zahlen für die IQB-Studie 2021 vorliegen!

Corona als Ausrede?

Überraschen die alten und die zu erwartenden 2021er Ergebnisse? NEIN! Überraschend ist nur die Begründung! Die Schulschließungen und Unterrichtseinschränkungen in der Corona-Zeit hätten, so KMK-Sprecher, die Schüler in ihrer sozialen Entwicklung und in ihrem Lernerfolg zurückgeworfen. Weiter heißt es: Besonders von den pandemiebedingten Schulschließungen betroffen waren Kinder, die zu Hause weniger Unterstützung erhalten konnten. Dann erst im zweiten Atemzug räumt die KMK ein, dass negative Trends schon seit 2011 festzustellen sind. 

Lassen wir die Begründung mit Corona mal so stehen und fragen nicht weiter, warum die Kultusminister die Schulschließungen brav mitgemacht haben. Klar, wenn die Kinder seit Frühjahr 2020 bis zu einem kompletten Schuljahr an Präsenzunterricht versäumt haben, wenn Kinder mit Migrationshintergrund wochenlang kein deutsches Wort mehr hörten, dann muss sich das niederschlagen.

ABER: Corona ist das eine. Das andere ist, dass die Grundschule, um die es hier geht, kaputtreformiert wurde. Nicht alle Grundschulen haben das mitgemacht und auch die deutschen Länder waren hier in unterschiedlichem Maße anfällig, was schließlich zu einem erheblichen innerdeutschen Leistungsgefälle beigetragen hat: Berlin und Bremen in Leistungsvergleichen übrigens immer hinten d’ran, Bayern und Sachsen ganz vorne. 

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Aber so sah und sieht die vermeintlich ideale Grundschule aus. Kindgerecht soll sie sein: bloß keine Anstrengung, möglichst keine Noten, spielerisches Lernen, immer weniger Wortschatz, kein Auswendiglernen, möglichst wenig Hausaufgaben, Schreiben nach Gehör statt ordentliche Orthographie, Abschaffung der Schreibschrift, in manchen Bundesländern gar Freigabe der Gender-Sprache für die Schulen (Baden-Württemberg), möglichst keine Diktate, möglichst kein Kopfrechnen, möglichst keine längeren Lesetexte, sondern nur kopierte, schmale Textauszüge, keine längeren Schreibtexte, sondern Multiple-Choice-Tests und Zustöpseln von Lückentexten usw. 

Und dann auch noch der Hype um die Digitalisierung des Lernens bereits in der Grundschule. Nein, es gibt keinerlei Beleg dafür, dass IT-Unterricht Grundschülern irgendetwas bringt. Im Gegenteil: Digitalisiertes Lernen verleitet dazu zu meinen, es gehe immer alles so locker und ohne Anstrengung am Bildschirm. Und: Digitalunterricht macht die Starken stärker und die Schwachen schwächer. Gerade letztere brauchen den Lehrer / die Lehrerin „live“ vor sich. Und nicht am Bildschirm.

Falsche Grundschul-Politik und Grundschul-Pädagogik

Will sagen: Die Grundschul-Politik und die „moderne“ Grundschul-Pädagogik haben versagt. Die „Grund“-Schule legt nicht mehr den Grund für eine nachfolgende Bildungslaufbahn. Seit Jahren! Und auch die weiterführenden Schulformen sind davon massiv betroffen, denn sie müssen ihre Ansprüche nach unten anpassen. 

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Über all dies durfte nicht gesprochen werden, denn die Grundschule war und bleibt ja heiliggesprochen: als die wahre Gesamtschule für „alle“, als die wahrhaft kindgerechte Schule des spielerischen Lernens, der Erlebnisorientierung (statt der Ergebnisorientierung), die Schule als Lebensraum für sich ohne Blick auf den alsbald folgenden Übertritt an eine weiterführende Schule. 

Gar nicht zu reden davon, dass in vielen Grundschulklassen vor allem in Ballungsgebieten Schüler mit Deutsch als Muttersprache manchmal schon die Minderheit stellen. Und auch ganz zu schweigen davon, dass die Schulpolitik es sträflich versäumt hat, die Schulen mit ausreichend Lehrern zu versorgen.