Tichys Einblick
Institutionen versagen

Vom Missbrauch der Demokratie

Wahlen sind nicht viel wert, wenn sie keinen Wechsel ermöglichen. Demokratie lebt vom Wechsel. Sie ist keine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit. Sondern Wettbewerb. Es gibt keine Demokratie ohne Rechtsstaat und ohne freie Marktwirtschaft.

Laut einer neuen Studie aus Österreich halten 43 Prozent der Bürger einen starke(n) Mann (Frau) an der Spitze für wünschenswert. 2007 waren nur 23 Prozent dieser Auffassung. Auch wenn das jetzt so ausgedeutet wird: Dies bedeutet nicht, dass zwei von fünf Österreichern lieber eine Diktatur hätten. Sie haben aber das Vertrauen in die Demokratie verloren. Weltweit ist die Demokratie in der Krise. Hier sind drei sehr unterschiedliche aktuelle Beispiele. Gemeinsam haben sie den Missbrauch von Demokratie. Die dient nur noch dem Zweck, die Macht der Machthaber zu sichern – selbst dort, wo Demokratie noch scheinbar gut funktioniert.

I.

Recep Tayyip Erdogan. Die Sache ist offensichtlich. Demokratie sei wie eine Straßenbahn. Wenn man damit sein Ziel erreicht habe, steige man aus. Notfalls bringt man die Bahn mit Hilfe eines Staatsstreichs zum Stehen. Schöner kann der Missbrauch von Demokratie als bloßes Mittel zum Zweck nicht ausgedrückt werden. Womöglich hat Erdogan aus der Geschichte gelernt. Dionysios I. von Syrakus begründete die längste und mächtigste Tyrannis des Altertums, als er sich 405 v. Chr. erst zum alleinigen Feldherren wählen, und dann nach einem fingierten Attentat auf seine Leibwache die Alleinherrschaft bewilligen ließ. Sie hielt 53 Jahre lang. Unterstützt auch von Intellektuellen an seinem Hof wie Platon.

Der Fall Erdogan zeigt: Demokratie kommt nicht ohne eine Mehrheit von Demokraten aus. Eine äußerst knappe Mehrheit hat nicht bloß Erdogan zugestimmt, sondern zugleich der türkischen Demokratie den Todesstoß versetzt. Hier trifft das Sprichwort ins Schwarze, wonach die dümmsten Kälber ihren Metzger selber wählen. Die Betonung liegt auf „wählen“, aber auch auf „die dümmsten“. Das größte Handicap der Demokratie ist tatsächlich, dass sie nur mit aufgeklärten, gut informierten, mündigen Bürgern funktioniert. Die Bedeutung der Massenmedien wird in dieser Hinsicht deutlich. Aussichtslos wird die Lage der Demokraten, wenn wie in der Türkei eine Religion zur Staatsideologie gemacht wird. Niemals dürfen eine Religion oder andere Ideologien über den demokratischen Werten stehen. Erst die Säkularisierung machte Demokratie in Europa möglich.

II.

Theresa May. Ist es nicht ihr gutes Recht, Neuwahlen anzusetzen? Zeugt es nicht von hoher Regierungskunst, die Schwäche der Gegner im entscheidenden Moment gnadenlos auszunützen? Wäre sie nicht eine schlechte Politikerin, würde sie diese Chance ausschlagen? Genauso dachte auch Erdogan nach dem „Staatsstreich“. Der Brexit erfüllt nun einen ähnlichen Zweck. Frau May erweist sich als zynische Parteipolitikerin, doch als schlechte Staatsfrau. Demokratie bedeutet, das Gemeinwohl über Partikularinteressen zu stellen. Wer auch immer auf Zeit in ein Staatsamt gewählt wird, sollte nicht nur aus machtpolitischen Motiven handeln. Die Premierministerin redet jetzt zwar über die Notwendigkeit, die nationale Einheit durch Neuwahlen zu stärken. Sie meint aber etwas ganz anderes. Sie will vor allem die innerparteiliche Opposition gegen ihren Brexit-Kurs schwächen, die Debatte in den eigenen Reihen beenden. Tory- Kandidaten werden jetzt nach ihrer Gegnerschaft zum Brexit ausgesucht. Der nationalen Einheit schadet Frau May mit Sicherheit. Die schnelle Wahl stärkt Separatisten in Schottland und Nordirland. Frau May will unbehelligt vom eigenen Parlament in die Brexit-Verhandlungen gehen. Sollten sie sich als nachteilig für ihr Land erweisen – gewählt wird ja erst viel später.

Das Manöver läuft auf Schwächung der britischen Demokratie hinaus. Denn Demokratie bedeutet, dass in allen Institutionen, vor allem auch den Parteien, die Debatte lebendig bleiben muss. Theresa May wird die Wahlen Anfang Juni gewinnen. Den Preis dafür wird das Königreich später bezahlen.

III.

Angela Merkels Methode funktioniert ähnlich, im Gegensatz zur Methode May in vermeintlich ruhigen Zeiten jedoch besser als in der Krise. Sie setzt auf die Saturiertheit und die Bequemlichkeit der Bürger. In ihren ersten beiden Amtsperioden schläferte sie die demokratischen Diskurse systematisch ein, schaltete Konkurrenten aus, machte sich scheinbar unangreifbar durch eine Politik kurzfristigen Reagierens ohne Konzept, Ziel oder gar Haltung. Sie ging Konflikten so lange wie möglich aus dem Weg. Wenn gehandelt wurde (Atomausstieg), dann ohne Debatte, selbstherrlich, überhastet und selbstverständlich alternativlos. Der Opposition entzog sie alle Kraft, indem sie deren wichtigste Ziele für sich selbst reklamierte. Dann gibt es in der Tat keine Alternativen.

Merkel missbrauchte Wahlen nicht. Sie machte Wahlen überflüssig. Das ist genau so schlimm. Es gibt nichts mehr zu wählen, wenn am Ende mehr oder weniger immer dieselbe Politik heraus kommt. Es ist eine Diktatur des Mainstreams. Wer sich links oder rechts vom Merkelkonsens bewegt, wird als „undemokratisch“ oder zumindest „koalitionsunfähig“ ausgegrenzt. Diese Methode funktioniert nur mit Hilfe angepasster, gefallsüchtiger Medien. Und auch nur solange das Land nicht völlig in den Abgrund regiert wird. Die eingeschläferten Wähler vergessen schnell.

IV.

Die Demokratie selbst steht nicht außerhalb der Diskussion. Im Gegenteil: Es gehört zu ihrem Wesen, dass die Spielregeln einem ständigen Diskurs ausgesetzt sind. Eine Demokratie, die nur sklavisch an den eigenen Gesetzen festhielte, wäre bald keine Demokratie mehr. Aber das Fundament ist nicht verhandelbar. Dazu gehören nicht bloß freie, faire und geheime Wahlen. Denn Wahlen sind nicht viel wert, wenn sie nicht den Wechsel ermöglichen. Demokratie lebt vom Wechsel. Sie ist keine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit. Sondern Wettbewerb. Deshalb gibt es zwar Märkte ohne Demokratie, aber niemals Demokratie ohne freie Marktwirtschaft. Demokratie ist die einzige Staatsform, die der Freiheit des einzelnen Bürgers verpflichtet ist, und nicht nur der Freiheit des Kollektivs gegenüber seinen Mitgliedern und gegenüber anderen Staaten und Mächten. Es gibt also keine Demokratie ohne Rechtsstaat und keinen Rechtsstaat ohne Demokratie. Demokratie ist ein ständiges Gespräch über den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen. Soweit die Theorie. In allen drei Beispielen versagen – mehr oder weniger – auch die demokratischen Institutionen.