Tichys Einblick
Freitod ja, Freiheit nein

Über die Schizophrenie einer inhumanen Gesellschaft

Die Freiheit zu leben wird beschnitten, die Freiheit zu sterben dagegen erweitert. Beides selbstverständlich im Namen derselben Moral.

Wer an der Perversion des Denkens und Entscheidens noch gezweifelt hätte – nun hebt sich der Schleier. Nein, ich spreche nicht davon, dass man sich beim Schlangestehen in Eiseskälte den Tod holen darf, den es auf der geleerten Verkaufsfläche großräumig zu vermeiden gilt. Das ist gewöhnlicher Irrwitz. Verheerender ist etwas anders. Um es auf einen knappen Nenner zu bringen: Die Freiheit zu leben wird beschnitten, die Freiheit zu sterben dagegen erweitert. Beides selbstverständlich im Namen derselben Moral.

I.

Also mal langsam. In diesem Land steht doch nichts höher im Kurs als die Entschlossenheit, auch noch dem hinfälligsten Greis und anfälligsten Vorerkrankten einen Platz am Beatmungsgerät zu sichern. Vorausgesetzt, die Diagnose lautet Covid-19. Denn alles andere hat still zu stehen, um Leben zu retten. Man könnte das, vorsichtig formuliert, für absurd halten. Aber so ist es. Die Gesellschaft zerstört Existenzen, ruiniert Lebensleistungen, entmündigt den Bürger bis in sein Privatleben hinein für dieses eine, große Ziel: Leben um jeden Preis. Niemand soll wegen Covid-19 auch nur einen Tag früher sterben müssen. Die „Übersterblichkeit“, falls überhaupt messbar, erfasst freilich nicht bloß Opfer des Virus, sondern auch Opfer der Virus-Politik. Studien belegen die Zunahme von Krebserkrankungen, Schlaganfällen und Herzinfarkten mit tödlichem Ausgang im ganz auf Corona fixierten Land, sei es aus medial geschürter Angst, sei es aus schierer Not, sei es aus Verzweiflung oder auch nur, weil die Betten für Covid-19-Fälle reserviert leer bleiben.

II.

Doch ist das noch nicht pervers genug. Wer aus eigenen Stücken aus dem Leben gehen will, dem wird der Weg frei gemacht. Ihm darf künftig geholfen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat es, pünktlich zum Beginn der Pandemie, garantiert. Diese, aber auch nur diese Freiheit nimmt entschieden zu. In dieser Woche erregte die parteiische Kampfschrift des Schriftstellers und Juristen Ferdinand von Schirach – in Form eines Dramas mit dem verräterisch hochtrabenden Titel „Gott“ in der ARD Aufsehen. Der propagandistischen Verfilmung plus Talkshow („Hart aber fair“) folgte die Abstimmung. Und siehe da, wie nicht anders zu erwarten, stimmten mehr als 70 Prozent der Teilnehmer der Legalisierung von Sterbehilfe ausdrücklich zu, nicht nur in Fällen schwersten Siechtums, sondern ausnahmslos in allen Fällen von Lebensüberdruss. Wer den Willen äußert, aus dem Leben zu scheiden, kann in Zukunft professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Es ist abzusehen, welch verheerenden Weg diese Gesellschaft nehmen wird. In kurzer Zeit wird zunächst die Zahl der Suizide zunehmen. Als nächstes wird der Selbstmord gesellschaftlich als neue Normalität akzeptiert. Der nächste Schritt: Suizid als vorbildliches gesellschaftliches Verhalten. Die Alten liegen niemandem mehr auf der Tasche. Die ruinierten Sozialversicherungen werden von den schlimmsten Verschwendern von deren eigener Hand befreit.

III.

Es sei denn, sie fangen sich ein unerwünschtes Virus ein. Kann es Zufall sein, dass die Suiziddebatte just in jenen Tagen anschwillt, in der die politische Klasse nichts unversucht lässt, den Bürgern das Weihnachtsfest zu versauen und abertausende Existenzen auf dem Altar der vermeintlichen Volksgesundheit zu opfern? Zwar zählt die Freiheit des Lebens immer weniger. Doch die Freiheit, sich beim aus Verzweiflung über Corona-Maßnahmen indizierten Suizid professionell helfen zu lassen – die wird gründlich erhöht. Einerseits wird die Lebensverkürzung erleichtert. Andererseits wird das gesamte öffentliche Leben ohne Rücksicht auf Kollateralschäden der Lebensverlängerung untergeordnet. Und dabei in Kauf genommen, dass im Namen derselben Moral Menschen in den Selbstmord getrieben werden. Soll der jeder Zuversicht beraubte Ex-Musiker, Ex-Kaufmann, Ex-Gastwirt auch noch dankbar dafür sein, dass ihm professionelle Hilfe beim „humanen Sterben“ geleistet werden darf? Hat das eine mit dem anderen wirklich nichts zu tun?

Man muss kein katholischer Bischof sein, um diese doppelte Doppelmoral widerwärtig zu finden. Jedes Leben zählt. Auch das Leben der Verzweifelten. Doch allein die Vermeidung des Risikos, an einem epidemischen Virus zu sterben, wird zur höchsten Gemeinschaftsaufgabe erklärt. Das Risiko, an dieser Gesellschaft zu kaputt zu gehen, bleibt dagegen Privatangelegenheit. Coronamaßnahmenschärfer wie Suizidhilfeerleichterer – beide berufen sich auf nichts weniger als auf ihre Menschlichkeit. In Wirklichkeit ist ihre doppelte Scheinmoral Ausdruck einer verrotteten Humanität.

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