Tichys Einblick
Verfassungsschutz-Bericht

Seehofers Alarm ist ein Skandal

Die Botschaft des Politikers steckt nicht in den Zahlen, sondern zwischen den Zeilen: Wer gegen die Coronapolitik protestiert, fördert Rechtsextremismus. Der „Alarmzustand“, den der Minister feststellt, ist sein eigener Radauzustand im Wahlkampf.

Die neue Statistik des Bundesamts für Verfassungsschutz ist das eine. Zunahme „extremistischer Tendenzen“, links wie rechts. Die Art und Weise jedoch, wie der Bericht von Innenminister Horst Seehofer vorgestellt wurde, ist noch einmal etwas anderes: nämlich ein Skandal. Die Botschaft des Politikers steckt nicht in den Zahlen, sondern zwischen den Zeilen: Wer gegen die Coronapolitik protestiert, fördert Rechtsextremismus. Der „Alarmzustand“, den der Minister feststellt, ist sein eigener Radauzustand im Wahlkampf.

I.

Natürlich ist dieser Alarmismus Unsinn. Doch die Logik ist infam: Rechtsextreme suchten Anschluss an den bürgerlichen Protest und drückten ihm teilweise ihren Stempel – den Stempel einer Minderheit – auf. Stimmt, was aber nur an der selektiven Wahrnehmung der meisten Medien liegt. Dafür auch noch die bürgerlichen Protestanten verantwortlich zu machen, ist infam. Aber so funktioniert das heute in diesem Land. Es ist der Vorwurf der „Kontaktschuld”.

II.

Der Protest trage zur Zerstörung des Vertrauens in die Regierung bei, weiß Seehofer. Ist das denn ein Verbrechen? Früher einmal zählte es zur selbstverständlichen Aufgabe von Journalisten, das Vertrauen in die Regierung durch Skepsis zu unterminieren. War das demokratiegefährdend? Das haben damals vielleicht ein paar unverbesserliche Rechte behauptet. Heute macht sich das merkelgrüne Juste Mileu solchen Unsinn zu eigen. Heute bekennen sich nicht nur die staatlich kontrollierten öffentlich-rechtlichen, sondern auch ehemals liberale Leitmedien wie Spiegel, Stern und Zeit ungeniert zur Unterstützerphalanx der Regierenden. Wer aber hat denn das Vertrauen zerstört? Korruption und Geldverschwendung bei der verspäteten Maskenbeschaffung, Versagen beim Schutz gefährdeter Altersheime, die Impf- und Testbürokratie, die Bildungs- und Kulturkatastrophe der „Maßnahmen“, die systematische Panikmache? Waren das alles die „neuen Rechten“? Oder nicht vielmehr demokratische Parteien in Regierungsverantwortung? Und was soll daran liberal sein, Bürgerrechte, Parlamentsrechte und die föderale Machtbalance so ungeniert wie unverhältnismäßig zu suspendieren? Aber die Kritik am Notstand soll diskriminiert werden, weil sie Beifall von der falschen Seite provoziert. Demnächst werden die Unberührbaren sich vielleicht ungefragt die soziale Frage zu eigen machen – ist dann auch Sozialpolitik rechts und Umverteilung nicht mehr links?

III.

Wo früher einmal Diskurs war, ist heute die Spaltung in zulässige und unzulässige Meinungssphären. Vor allem ist diese Entwicklung Ausdruck einer intellektuellen Verarmung. Die Scheinheiligkeit, mit der Meinungsbildende derzeit über die „antiliberalen Positionen“ der „neuen Rechten“ herziehen, sind absurd. Abgesehen davon, dass man gerne wüsste, weshalb führende Köpfe wie die Philosophen Julian Nida-Rümelin und Peter Sloterdijk, Autoren wie Rüdiger Safranski, Botho Strauß oder Uwe Tellkamp, aber auch aufrechte Linke wie wie Sahra Wagenknecht als Rechte stigmatisiert werden. Möglicherweise liegt der wahre Grund nicht in einem Abgrund an Gesinnungsverrat der Betroffenen, sondern einem Abgrund an Bildungsverfall. Einem Land, in dem von den Medien einschlägig Gefallsüchtige wie Richard David Precht als Philosoph oder Eckart von Hirschhausen als Virologe ernst genommen werden, ist nicht mehr zu helfen. Das ist so, als würde man André Rieu für einen der maßgeblichen klassischen Musiker halten. Geschieht ja auch. Die Debatte ist auf einem Niveau, das längst ein Bundesamt für Bildungsschutz in Alarmzustand versetzen müsste. Indes, so ein Amt gibt es nicht.

IV.

So schreitet die geistige Inquisition auf Boulevardniveau munter voran. Sie macht Leute nicht nur mundtot, sie gefährdet vor allem die demokratische Substanz des Landes. So es ist es kein Wunder, dass nur noch weniger als die Hälfte der repräsentativ befragten Deutschen – 45 Prozent – die Meinung teilen, man dürfe in diesem Land ungestraft seine Meinung sagen. Es ist der niedrigste Wert, den das Meinungsforschungsinstitut Allensbach jemals – seit 1953 – gemessen hat.