Tichys Einblick
Mehr Bürgerschutz statt Staatsschutz nötig

Mein Unwort des Jahres: Staatswohlgefährdung

Wenn der Verfassungsschutz (Staatsschutz) das Staatswohl aus der Mitte der Bürger heraus gefährdet sieht, wie es jetzt wieder der Fall ist, dann ist tatsächlich Gefahr in Verzug. In Gefahr ist die Freiheit. Verfassungsschutz hat die Freiheit der Bürger zu schützen. Auch die Freiheit, den Staat und seine Repräsentanten abzulehnen.

Mein Unwort des Jahres steht schon jetzt fest: Staatswohlgefährdung. Ich muss nur „Staatswohl“ lesen, schon wird mir unwohl. Ich denke dann an meine Steuerbescheide. Ich habe wahrlich mehr, als mir selbst gut tat, dafür gesorgt, dass es dem Staat wohl war. Dann fallen mir die Energiepreise ein, die moralisierenden Einmischungen von Vater Staat ins Privatleben, die Freiheitsberaubung während der Corona-Jahre, die bürokratischen Zumutungen, die Regelungswut, das Versagen der Staatsbahn, der Bildungseinrichtungen, der Bundeswehr etc.

I.

Die unfähigen Gestalten, die den Staat derzeit repräsentieren, sind nicht der Staat. Das wären sie gern. L’État, c’est moi – wie schon der Sonnenkönig glaubte, denken auch die Neoabsolutisten der grün-roten Postdemokratie. Während Könige sich von Gottes Gnaden erwählt wähnten, fühlen sich die Habocks und Baerbecks vom Weltgeist berufen. Die einen wussten die Kirche hinter sich, die anderen (neben der Kirche) auch noch die Moral. Die einen waren Souverän, die anderen pfeifen auf den Souverän, also das Volk. Die messbare Unzufriedenheit des Volkes tun sie mit dem Argument ab, gewählt ist gewählt. Und gegen die „Klimakatastrophe“ hilft nach ihrem Verständnis die Demokratie nicht, also darf man sie auch beschädigen. Selbst, wenn die Klimakönige die Mehrheit der Wähler hinter sich hätten, wäre es kein Freifahrschein nach Transformatien. Demokratie ist niemals nur die Herrschaft eines mehr oder weniger großen Teils der Bevölkerung, sondern ein stetes Aushandeln und Austarieren der Interessen. Eben dazu braucht es den Staat.

II.

Der Staat hat die Aufgabe, dem Wohl der Bürger (Sicherheit nach außen und innen, Wohlfahrt, Zufriedenheit, dem individuellen Glück der Menschen) zu dienen. Nicht umgekehrt. Die Bürger sind nicht für das Staatswohl zuständig. Sie sind auch nicht der Staat. Das Wohl des Staates steht auch nicht über dem Wohl der Bürger. Nur soweit sich der Staat als Dienstleister und Interessenvertreter der Bürger versteht, ist die Funktionstüchtigkeit des Staats von höherem Interesse. Die derzeit Regierenden glauben, der Staat sei eine unanfechtbare Obrigkeit. Sie halten ihn für den großen Leviathan (wie Thomas Hobbes, der englische Monarchist im 17. Jahrhundert, der die Natur des Menschen für derart asozial hielt, dass er meinte, eine funktionierende Gesellschaft sei nur mittels eines autoritären Staat möglich). Solches Denken sollte auch in Deutschland seit längerem überwunden sein. Bis Habeck kam, und mit ihm die Diktatur der neuen Spießer (Spießer sind Untertanen, die sich als Büttel der Obrigkeit aufspielen).

III.

„Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen“, behauptete neulich die Innenministerin. Darf man wenigstens Frau Faeser verhöhnen – oder kommt das der Verhöhnung des Staates gleich? Das hätte sie gern. Es wäre der Straftatbestand der Majestätsbeleidigung unter demokratischem Vorzeichen. Wenn der Verfassungsschutz (Staatsschutz) das Staatswohl aus der Mitte der Bürger heraus gefährdet sieht, wie es jetzt wieder der Fall ist, dann ist tatsächlich Gefahr in Verzug. In Gefahr ist die Freiheit. Verfassungsschutz hat die Freiheit der Bürger zu schützen. Auch die Freiheit, den Staat und seine Repräsentanten abzulehnen. Staatswohlgefährdung, Delegitimierung des Staates: Es sind demokratische Grundrechte, unabhängig davon, ob das, was die „Gefährder“ von sich geben, vernünftig erscheint oder nicht. Übrigens ist auch der Maßnahmenkatalog gegen Rechtsextremismus ein Angriff auf den liberalen Rechtsstaat. Er kriminalisiert das Recht der Bürger auch auf radikale Ansichten. Meinungsfreiheit unterliegt weder einem Gesinnungs- noch einem Intelligenztest. Das sind Selbstverständlichkeiten, dass man sie wieder eigens betonen muss, zeigt, auf welch schiefe Bahn dieser Staat geraten ist.

IV.

Juristisch wurde unter „Staatswohl“ in der Vergangenheit etwas anderes verstanden. Die Bundesregierung operierte immer dann mit dem Begriff des Staatswohls, wenn sie darauf bestand, das Auskunftsrecht von Volksvertretern zu ignorieren. Die Regierung behauptete dann, die abgefragten Informationen beträfen in besonderem Maße das Staatswohl. Regelmäßig bekam sie dann vom Bundesverfassungsgericht eins auf die Mütze, zuletzt im Dezember 2022, als sie sich weigerte, Auskunft über die Zahl der vom Ausland entsandten Bediensteten des Bundesamts für Verfassungsschutz zu erteilen. In diesen Fällen wurde der schwammige Begriff des Staatswohls von der Regierung erfolglos instrumentalisiert. Es wäre höchste Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht auch die Rechte der gewöhnlichen Bürger vor den Zumutungen des Verfassungsschutzes schützt. Aber man hat in Deutschland stets den Staat als unfehlbare moralische Instanz betrachtet (schlag nach bei Hegel) und damit der Unfreiheit Tür und Tor geöffnet. Das ist die eigentliche Gefahr: Nötig wäre mehr Bürgerschutz und weniger Staatsschutz.