Tichys Einblick
„Klimaseniorinnen“-Urteil des EGMR

Die Schweiz vom Matterhorn zum Marterhorn

Offenbar soll die Schweizer Demokratie an den Marterpfahl der Klimafundamentalisten gebunden und die Bürger sollen entmündigt werden. Zu befürchten ist – es hat ja schon bei der Abschaffung des Bankgeheimnisses funktioniert –, dass sich die Schweiz dem Druck beugt.

Die Nachricht wird hierzulande mit Achselzucken wahrgenommen, beziehungsweise, je nach Standort, mit Schadenfreude. Die Schweiz verurteilt! Auch noch von einem Gericht, das die universelle Moral sozusagen im Namen trägt: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte. Die Schweiz habe die Menschenrechte der Mitglieder des Vereins „Klimaseniorinnen“ verletzt, beziehungsweise nichts gegen den Klimawandel unternommen. Absurdes Theater, doch ein Menetekel – für die Zukunft der Demokratie.

I.

Von den beiden festgestellten Gesetzesverstößen ist allenfalls einer bedenkenswert: In der Tat haben die Schweizer Vorinstanzen die Klage nicht ernst genommen, ein faires Verfahren verhindert und damit gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Sind die Seniorinnen aber tatsächlich „Opfer“ der Erderwärmung? Das Gericht behauptet: ja. Es geht wie selbstverständlich davon aus, dass das Klima eine „ernsthafte gegenwärtige und zukünftige Bedrohung“ darstelle und – das ist hier entscheidend – der Staat in der Lage sei, Maßnahmen zu ergreifen, dieser Gefahr wirkungsvoll zu begegnen. Die winzige Schweiz soll dem Weltklima auf die Sprünge helfen mittels eines wissenschaftlich höchst fraglichen, von Politikern willkürlich gegriffenen Wertes. 1,5 Grad Celsius über der kaum objektiv feststellbaren Durchschnittstemperatur vor der Industrialisierung – soll das alternativlose Maß der Umweltpolitik sein. Das ist absurd. Offenbar sind die Richter dieses Gerichtshofs in Sachen Klima ahnungslose Amateure im Banne des Zeitgeists.

II.

Absurd ist in diesem Zusammenhang auch, dass nicht den vier Einzelklagen von „Klimaseniorinnen“ Recht gegeben wurde, sondern nur der Klage des ganzen, etwa 2.500 alte Frauen umfassenden Vereins. Die Einzelnen, hieß es zur Begründung, könnten sich gegen Hitzewellen ja durchaus schützen, aber eben nicht der ganze Club. Der ist nichts anderes als eine NGO und wurde bei der Klage finanziert und gelenkt von einer noch viel mächtigeren, weltweit aktivistischen NGO, von Greenpeace. Hier zeigt sich eine auch in Deutschland gefährliche Entwicklung. Nicht mehr die demokratisch legitimierten Parlamente bestimmen mittlerweile die Richtung der Politik, sondern auch von ökonomischen Interessen geleitete Organisationen. Die Politologie beobachtet seit den Neunziger Jahren bereits ein Abgleiten der westlichen Demokratien in Postdemokratien. Wahlen verändern die Politik weniger als der wachsende Einfluss solcher meist im Ornat der Moral auftretenden sektenähnlichen, sich hinter pseudowissenschaftlichen Wahrheiten verschanzenden Gruppen. In der Postdemokratie spielt nicht der offene Diskurs die wichtigste Rolle, sondern etwa die von NGOs unterwanderte Verwaltung und Wissenschaft. Gefahr droht der Demokratie in Europa weniger durch autoritäre Populisten als durch die Dogmatik vermeintlicher Fachleute. Übrig bleibt, so der berühmte Politologe Colin Crouch, auf den der Begriff der Postdemokratie zurückgeht, „ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden […], in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt.“

III.

Insofern sind nun im Fall der Schweiz zwei Dinge sehr bedenklich. Erstens ist es die Tatsache, dass ein bisher angesehenes, allgemein respektiertes internationales Gericht den Trend zur Postdemokratie verstärkt. Offenbar hält das Recht dieser objektiven Gefahr nicht stand. Dabei ist es doch die Demokratie selbst, die auf unveräußerlichen Menschenrechten gründet und geschützt werden müsste. Mit seinem Urteil fällt der Menschenrechtsgerichtshof ausgerechnet der ausgereiftesten europäischen Demokratie in den Arm. Die direkte Demokratie der Schweiz soll sich der Gesinnung der Klimagemeinde unterwerfen. Im Auftrag einer vermeintlich höheren Macht soll den Schweizer Bürgern das Recht genommen werden, selbst darüber zu entscheiden, was getan werden soll und was nicht. Die Freiheit ist von innen stärker bedroht als von außen, stellte einst schon Alexis de Tocqueville in seinem Klassiker „Über die Demokratie in Amerika“ fest. Ein neuer Konformismus liegt in der Luft, der die „Natur“ (das Klima) zur Herrin über die Freiheit macht.

IV.

Das Urteil, steht zu befürchten, ist ein Präzedenzfall, Was aber, wenn das Volk der Schweiz anders als in Deutschland nicht einverstanden ist mit Regulierungen, die den Schadstoffausstoß verringern sollen? In der Schweiz ist das Volk der Souverän, nicht die Regierung und schon gar nicht ein auswärtiges Gericht. Offenbar soll aber die Schweizer Demokratie an den Marterpfahl der Klimafundamentalisten gebunden und sollen seine Bürger entmündigt werden. Zu befürchten ist (es hat ja schon bei der Abschaffung des Bankgeheimnisses funktioniert), dass sich die Schweiz dem Druck beugt. Vom Matterhorn zum Marterhorn.