Tichys Einblick
Die Krise der Demokratie

Wie Boris Johnson und Angela Merkel das Parlament aushebeln

Parteien ohne Unterschiede sind die Ursache für ein Parlament ohne Rolle, eine Regierung ohne parlamentarische Kontrolle die Folge und die Außerkraftsetzung von Demokratie die Wirkung.

Die EU-Verächter schlagen sich vor Vergnügen mit der flachen Hand aufs Knie. Jawoll! Jawoll! Jawoll! Und recken die Faust. Heil Boris! Doch Vorsicht! Demokratie ist nicht teilbar in eine Demokratie, die das vermeintlich Richtige und eine andere, die das vermeintlich Falsche schafft.

I.

Mit vergleichbarer Ruchlosigkeit, mit der Johnson sein Parlament austrickst, hat die deutsche Bundeskanzlerin den Bundestag aus dem Spiel genommen, als es um die Energiewende und um die grenzenlose Einwanderungswelle ging. Die Methoden sind jedoch verschieden. Er überrumpelt, sie schläfert ein. Ein Unterschied ist auch, dass das deutsche Parlament es sich hat klaglos gefallen lassen, das britische hingegen auf die Barrikaden steigt. Wer das Parlament umgeht oder übergeht oder es behindert, mit welchen Argumenten auch immer, beschädigt die zentrale Institution der Demokratie. Allerdings kann eine Regierung der Demokratie nur in dem Maße Schaden zufügen, wie das Parlament es selbst zulässt.

II.

Die Krise der Demokratie ist gefährlicher als die sogenannte Klimakrise. Nicht nur, weil die eine zumindest eine Übertreibung, die andere handfeste Realität ist. Dass die Mehrheit der deutschen Wähler sich einreden lässt, die Klimakrise sei von allen gegenwärtigen Gefahren die größte, beweist nur, wie groß die Krise der Demokratie ist. Immer, wenn es Größeres und Wichtigeres zu geben scheint als die Freiheit, sei es das Klima, die Nation oder eine Religion, wird Freiheit eingeschränkt. Dann zählen staatliche Zwangsmaßnahmen, Verbote, Denkverbote mehr. Die Klimakrise ist nicht zuletzt auch eine Krise des Meinungsklimas.

III.

Wenn sich demokratische Institutionen Maximen unterwerfen wie „Rettet das Klima“ oder „Rettet den Brexit“, stehen sie nicht mehr im Dienste der Freiheit, sondern im Dienste einer Ideologie. Die Ideologie rechtfertigt rücksichtslose Machtausübung. Demokratie wird dann zur Behauptung oder Lüge. Die ostdeutsche Diktatur des Proletariats nannte sich Deutsche Demokratische Republik. Es spielt am Ende keine Rolle, ob die Machthaber braune, rote oder grüne Faschisten sind.

IV.

Es ist nicht einmal entscheidend, ob sie in freien Wahlen an die Macht gekommen sind. Demokratie ist mehr als Herrschaft durch Wahl. Demokratie gibt es nur dort, wo Macht ständig begrenzt und mit Gegenmacht ausbalanciert wird. Deshalb gibt es keine Demokratie ohne echte Gewaltenteilung, wirklich unabhängige Parlamente und Gerichte. Es ist nicht entscheidend, recht zu haben, sondern Recht zu bekommen. Wer in einer entscheidenden Phase das Parlament in die Zwangspause schickt oder auf sonstige Weise seine Arbeit einschränkt, mag den Regeln folgen, aber er verstößt gegen den Sinn und den Geist parlamentarischer Demokratie.

V.

Die Regierung ist identisch mit dem Staat, und der Staat hat immer Recht (frei nach Hegel): Diese Auffassung ist die Antithese von Demokratie. Demokratie aber ist nicht die Herrschaft einer wie auch immer gearteten Mehrheit. Gegen den Geist der Demokratie verstoßen derzeit viele westliche Demokratien. Johnson in Großbritannien, Merkel in Deutschland, Trump in den USA, die Liste ist noch länger. Überall dort haben die gewählten Machthaber keine Antwort auf die Spaltung ihrer Gesellschaft, deren Symptome sie sind, und die sie weiter vertiefen.

VI.

Parlamentarische Demokratien sind auf starke und in sich demokratische Parteien angewiesen. Die Schwäche der Parteien schwächt auch die Parlamente. Die Situation wird unerträglich, wenn kein echter Machtwechsel mehr möglich ist, weil sich die maßgeblichen Parteien gemeinsam einer Ideologie unterwerfen. Sie bieten dann keine Alternativen mehr, so dass Machtwechsel bedeutungslos sind. Deshalb ist der Niedergang der ehemaligen Volksparteien kein Grund zur Schadenfreude. Denn er ist Ausdruck der Krise der Demokratie.