Tichys Einblick
Helds Ausblick 1-2021

Was aus der Menschenwürde geworden ist

Die Osterspaziergänge war einmal ein Freiheitsritual, bei dem die Menschen sich nicht durch die Erfahrung von Not und schwersten Krankheiten davon abhalten ließen, den Sieg des Frühlings über den Winter ausgelassen zu feiern.

IMAGO/IPA Photo

Auch zum Osterfest des Jahres 2021 sind viele Menschen einem Brauch gefolgt, der alles andere als trivial und abgenutzt ist: der Osterspaziergang. Er führt die Menschen ins Freie der Natur. Er ist ein Aufbruch aus der Dunkelheit des Winters, ein Streben zum Sonnenlicht, ein vitales Treiben, das Säfte und Kräfte der Natur – auch der eigenen Natur – zelebriert. Im „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe findet sich ein berühmter Monolog „Vor dem Tor“, in dem der Held, der kurz vorher noch aus dem Leben scheiden wollte, sich von dem gemeinschaftlichen und durchaus wilden Ausflug des Volkes mitreißen lässt: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche…“ Und weiter dann:

„Sieh nur, sieh! Wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluss in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt.“
Goethe sieht hier nicht nur ein Fest der Auferstehung von Gottes Sohn, sondern einen Akt innerweltlicher Auferstehung:
„Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge.“
Und so wird der Osterspaziergang bei Goethe zu einer volkstümlichen Manifestation bürgerlicher Freiheiten, an der sich gerade jene beteiligen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren sind:
„Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!“

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An dieser Stelle lohnt es sich, einen Moment innezuhalten und sich klarzumachen, in was für einer Welt dies handfest-sinnliche Getümmel der Freiheit im frühen 19. Jahrhundert stattfand. Es war eine Zeit, in der die Menschen unter der ständigen Drohung tiefer Armut und schwerster Krankheiten und Seuchen leben mussten: Cholera, Malaria, Diphterie, Tetanus, Tuberkulose, Lungenentzündung, Kindbettfieber, Krebserkrankungen … Die Sterblichkeit bei Kindern und Frauen war hoch, die Lebenserwartung im Durchschnitt der Gesellschaft sehr kurz. Während also die Menschen sich ihrem vitalen Ostertreiben widmeten, wurde direkt nebenan gestorben. Fast jeder hatte Verwandte, Freunde oder Nachbarn, die zur gleichen Zeit schwer litten. Und damit hatten sie selber auch ihr eigenes Schicksal deutlich vor Augen. Wie dumm wäre die Annahme, diesen Menschen zu unterstellen, sie hätten das Leid nicht gesehen. Nein, hier wurde das Leben sehenden Auges und trotzdem zelebriert. Dies große „trotzdem“ ist vielleicht das Wichtigste, was die menschliche Würde auszeichnen kann – als die Würde von sterblichen Wesen, die doch zugleich weiterblickende Wesen sind; und die daher mit dem Wissen um ihr Ende leben müssen. Und die die Größe besitzen müssen, trotz dieser Vergänglichkeit ihr Leben zu bejahen.

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Genau das ist die Stelle, wo das Osterfest des Jahres 2021 seine fundamentale Schwäche offenbart. Und wo die eigentliche Krise bei der Corona-Krise liegt. Wir haben eine mittelschwere Pandemie, die – gemessen an der Goethe-Zeit – nur einen Bruchteil dessen enthält, was damals Gesundheit und Leben der Menschen bedrohte. Aber Staat und große Teile der Gesellschaft bringen nicht mehr die Kraft auf, das Leben zu bejahen, und es jetzt im Frühjahr zu zelebrieren. Man hat die Tore weitgehend verschlossen, das „Getümmel“ verboten. Man hat das Volk in Schutzhaft genommen. Und das nur, weil man eine bestimmte Höhe der „Infektionszahlen“ nicht aushält. Es ist also nicht eine historisch völlig neue Gefahr für Leib und Leben, die uns vom Osterspaziergang als Freiheitsmanifestation im Sinne Goethes Abstand nehmen lässt. Unser Freiheitswille hält überhaupt keine Epidemie mehr aus. Oder es wird uns eingeredet, dass er sie nicht aushalten kann oder darf.

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Das aber hat mit einem fundamentalen Wandel des Begriffs der Menschenwürde zu tun. Die (bürgerliche) Menschenwürde, wie sie Goethe verstand, war ja nicht deshalb zu einer so großen und handfesten Freiheit in der Lage, weil die Menschen keine Ahnung von den Gefahren für Leib und Leben gehabt hätten. Nein, die Freiheit wurde ja offenen Auges im Angesicht der Gefahr ausgeübt. Sie wurde trotz dieser Gefahr ausgeübt, und zwar aktiv, mit Begeisterung und Lust. Es war eine Menschenwürde des „Trotzdem“. Inzwischen aber hat sich diese Vorstellung von Menschenwürde völlig gewandelt. Nun versteht man darunter eine Art grundlegendes Versorgungsgut. Würde ist, wenn das Dasein schmerz- und bedrohungsfrei ist. Es geht also um eine Art Komfort-Würde – wodurch alle Macht denjenigen übergeben wird, die behaupten, sie könnten eine solche Komfort-Würde herstellen. Diese Würde-Hersteller haben jetzt einen Automatismus des Freiheitsentzugs erfunden – den Lockdown. Bei jedem Anstieg der Infektionszahlen wird zur Stilllegung der gesellschaftlichen Aktivitäten geschritten.

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Das ist durchaus logisch: Wenn einem Land die Menschwürde des „Trotzdem“ abhandenkommt, steht jede wirkliche Freiheit fortan unter Vorbehalt. Erlaubt ist nur noch das „Glauben“ und das „Hoffen“, und das „Zusammenhalten“ – in den eigenen vier Wänden. Das Getümmel der Osterspaziergänge ist dann auch für immer verloren. Es sei denn, wir erobern uns die Menschenwürde des „Trotzdem“ zurück.

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