Tichys Einblick
Ukraine unverziert

Nirgendwo geht es um Werte, überall um Interessen

Wenn jetzt zum Anlass Ukraine oder in anderem Zusammenhang wieder von den Werten des Westens die Rede ist, wünsche ich mir wenigstens halbwegs Ehrlichkeit. Und bitte Realismus.

IMAGO / agefotostock

In welchem Land gibt es die Freiheit durch Recht, von der du sprichst, fragte mich die Tage ein alter Freund, der ähnliche Vorstellungen von Freiheit hat wie ich. Wir wissen beide, antwortete ich, dass deine Frage rhetorisch ist und du die Antwort kennst: in keinem Land.

Wenn jetzt zum Anlass Ukraine oder in anderem Zusammenhang wieder von den Werten des Westens die Rede ist, wünsche ich mir wenigstens halbwegs Ehrlichkeit. Sozusagen als Rest von Freiheit durch Recht.

Der Westen oder genauer seine Führungsmacht hat den Schwächezustand des vom Sowjetimperium übriggebliebenen Russlands genutzt, um seinen Einfluss auf jene Gebiete auszudehnen, die Russland in seiner Sowjetzeit unter seine Herrschaft gebracht hatte. Insoweit alles „normal“ im Sinne der Zeitläufte seit menschlicher Erinnerungsweite.

Ob der Westen dem Osten versprochen hat, genau das nicht zu tun, pflegen treue Westler im ersten Stadium zu leugnen, im zweiten darauf zu reduzieren, dass so etwas schriftvertraglich nicht festgelegt wurde, und sich im dritten auf das Völkerrecht zu berufen – sowie das Recht jedes Staates zu entscheiden, ob und welchem Bündnis er angehören möchte.

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Also das ist mir zu durcheinander. Wer will, kann das Völkerrecht aus der Antike herleiten, bis zum Westfälischen Frieden weiterverfolgen und feierlich in die Charta der Vereinten Nationen münden lassen. Als Politikfigur prominent in die Welt trat das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ als Forderung Lenins 1914 und des US-Präsidenten Wilson 1918. Nach dem Putsch der Bolschewiki, der chronisch irreführend Oktoberrevolution genannt wird, erließen Lenin und Stalin ein Dekret über die Rechte der Völker Russlands, auf dessen Grundlage sich Finnland und die Ukraine als unabhängig erklärten. Bei Finnland akzeptierten das die Bolschewiki, bei der Ukraine nicht. In gewisser Weise schließt sich nun in der Ukraine der Kreis. Ein Selbstbestimmungsrecht „der Völker“ gab es in der Realität nie, das Völkerrecht war immer nur ein Instrument in der Hand der politisch Mächtigsten, um ihre jeweilige Gewalt zu begründen. Aber wer sich auf das Selbstbestimmungsrecht beruft, muss es überall akzeptieren – in der Ostukraine wie auf dem Balkan, in Taiwan, Hongkong und und und.

Samuel P. Huntington zitiert in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ 1996 einen russischen General: „Die Ukraine, oder vielmehr die Ostukraine wird in fünf oder zehn oder fünfzehn Jahren wieder zurückkommen. Die Westukraine kann der Teufel holen!“ Die Ukraine, so die Sicht Huntingtons, könnte entlang ihrer kulturell-religiösen Bruchlinie in zwei Teile zerfallen, weil die Ostukraine und die Westukraine selbst zwei unterschiedliche Kulturen wären.

Im ORF erklärte gestern ein Generalmajor des österreichischen Bundesheeres die Sache zwischen Putin und dem Westen so:

Sein erstes Ziel hat Putin bereits erreicht: Die Russland unter US-Präsident Barack Obama aberkannte internationale Bedeutung hat er zurückgeholt. Putins zweites Ziel der Zurückdrängung der Nato findet gerade unter Hinnahme des Westens statt. Offen ist dabei nur, wie weit die Verschiebung der geografisch-politischen Grenze nach Westen geht: möglicherweise bis zur Hälfte der Ukraine, da Europa Russlands militärischer Macht nur mit wirtschaftlichen Sanktionen antworten will, was Putin ziemlich egal ist.

Den Einmarsch russischer Truppen hält der österreichische General in kampfloser Form für möglich. Die Oblaste Luhansk und Donezk ganz einzunehmen, muss nicht im Vorgehen gegen die jetzige Verteidigungslinie der ukrainischen Truppen geschehen. Putin braucht nur von Norden aus Weißrussland weit hinter dieser Linie einmarschieren, wo die Ukraine kein Militär konzentriert hat. Ein Marsch an den Fluss Dnipro und eine Teilung des Landes durch die Mitte könnte folgen. – Der Scherenschnitt auf dem Beitragsbild wäre dann zu weit östlich eingezeichnet.

Danach, nun nicht mehr der Generalmajor, sondern nur ich als interessierter Laie, stünde eines dieser oft lange dauernden Ereignisse der Geschichte an, die euphemistisch Friedenskonferenzen genannt werden, heute aber oft auch nur noch Gipfeltreffen. So oder so, die Expansion des Westens Richtung Osten ist Geschichte.

Wenn ich davon ausgehe, dass Putin seine Ziele gegen den Westen erreichen wird, nicht weil Putin so stark ist, sondern der Westen zu schwach, bin ich noch sicherer, dass Putin dabei einen zentralen strategischen Fehler begeht, den erstaunlich Wenige ansprechen: Putin muss sich der Rückendeckung durch China versichern und macht Russland dabei zum Vasallen Chinas. Bei seinem Bemühen, Augenhöhe gegen Washington zu gewinnen, begibt Moskau sich gegen Peking auf Kniehöhe.

Und bei diesem Spiel geht es wie schon immer nirgendwo um Werte, überall um Interessen. Wer seine nicht wahrnimmt, bleibt auf der Strecke. Wie der Westen eben demonstriert.

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