Tichys Einblick
Die Bewährungsprobe beginnt jetzt

Sebastian Kurz vor schweren Wochen oder Monaten

Zwei Spitzenkandidaten sprachen über eine Dimension, die Österreichs Koalitionsregierungen bisher nicht kannten, Sebastian Kurz und Matthias Strolz von den NEOS. Kann Kurz neue Wege gehen?

Screenprint: ZDF/heute journal

Claus-Detlev Walter Kleber interviewt den Wahlsieger Sebastian Kurz und fragt ihn als Quasisprecher von Angela Merkel, die Kurz telefonisch zum Sieg gratulierte: „Konnten Sie ihr versichern, dass sich an der Europa- und Flüchtlingspolitik nichts ändern wird?“ So spricht die Arroganz des „großen“ Deutschen zum „kleinen“ Österreicher.

Kleber erhält seine Antwort, Kurz nennt höflich und selbstbewusst seine drei Ziele für eine von ihm geführte Regierung:

  • die Steuerlast für Arbeitende zu senken
  • unser Sozialsystem treffsicherer machen und
  • die in Deutschland vieldiskutierte illegale Immigration zu stoppen

Bei Kurz wird sich noch mancher deutsche Journalist seine Abfuhr holen. Wer das  Florett beherrscht, braucht keinen – noch dazu schlecht geführten – Säbel zu fürchten.

Der ORF zeigt heute dieses vorläufige Wahlergebnis (Screenshot ORF):

Die Hoffnung der Grünen ist, dass sie es bei den Briefwählern doch noch über die in Österreich maßgebliche Vier-Prozent-Hürde in den Nationalrat schaffen. Ich nehme an, dass die Briefwähler dem Trend folgen und die Grünen eher noch weiter runter bringen. Die Freude der SPÖ währte nur kurz. Beim derzeitigen Auszählungsstand liegt die FPÖ doch auf dem zweiten Platz und sie auf drei. Damit fügen sich die Sozialdemokraten nach Griechenlamd. Spanien, Frankreich, den USA, den Niederlanden und Deutschland in das Bild vom Ende der einst grpßen Bewegung ein. Und überall verlieren sie ihre Rolle als Arbeiterpartei an Parteien wie die FPÖ. Die SPÖ hätte noch schlechter abgeschnitten, wäre es ihr nicht gelungen, den Grünen schmerzhaft viele Wähler abzunehmen.
Betritt Kurz parlamentarisches Neuland?

Zwei Spitzenkandidaten sprachen über eine Dimension, die Österreichs Koalitionsregierungen bisher nicht kannten, Sebastian Kurz und Matthias Strolz von den NEOS: In entscheidenden Fragen Mehrheiten über Koalitionen hinaus zu suchen. Heinz-Christian Strache hatte Kurz im TV-Duell vorgworfen, warum er nicht im Parlament mit der FPÖ gestimmt habe, wo er inhaltlich einverstanden war. Peter Pilz, der den Grünen zusammen mit der SPÖ den Rest bei der Wahl gab, ist ein Typ,der bei unkonventionellen Wegen wohl auch dabei wäre.

Ich bin nicht Berater von Kurz. Wäre ich es, würde ich ihm einen Vorschlag machen, den er möglicherweise gar nicht braucht, weil er ihn schon längst im eigenen Strategieköcher hat wie zum Beispiel:

  • Eine feste Vereinbarung mit dem Koalitionspartner etwa in den drei Punkten, die Kurz dem ZDF-Moderator hinklebte. Und nur in diesen drei Fragen die Pflicht geschlossen abzustimmen.
  • Darüberhinaus die Vereinbarung, dass beide Partner sich für Großreformen parteiübergreifende Mehrheiten im Parlament suchen dürfen.
Mit einem solchen oder ähnlichen Wegen würde Kurz der demokratischen und parlamentarischen Fehlentwicklung von Koalitions-Verträgen das Ende bereiten. Allein damit vediente er einen Platz in der Spätgeschichte der Demokratie westlichen Musters. Vielleicht könnte das der Krise dieser Demokratie Luft verschaffen für ganz neue Wege, die noch niemand präsentiert hat und in jedem Fall mit radikaler Dezentralisierung einhergehen müsste: von Ottakring bis Brüssel und New York.
In den Niederungen lauern die Fallstricke

Die Regierung Kern wird am Dienstag dem Bundespräsidenten traditionell ihren Rücktritt anbieten. Van der Bellen wird dies wie üblich ablehnen, Kern und Kabinett auffordern, die Geschäfte bis zur Angelobung einer neuen Regierung weiterzuführen.

Heute und morgen folgen die Gremiensitzungen der Parteien zum weiteren Vorgehen. Amtlich wird das Wahlergebnis der Nationalratswahl in einer Sitzung der Bundeswahlbehörde am 31. Oktober. Die konstituierende Sitzung des neuen Nationalrats findet am 9. November statt. Hielte sich der neue Regierungschef an die bisher durchschnittliche Regierungsbildungsdauer von 60 Tagen, hätte Österreich am 14. Dezember eine neue Bundesregierung.

Darauf setze ich nicht, weil das nur mit einer Koalitionsbildung der alten Art geht. Ob der neue Bundeskanzler Sebastian Kurz heißt, halte ich nicht für ausgemacht. Wer weiß, wozu Kern und Strache fähig sind, den zu verhindern, den sie beide weder mögen noch für voll nehmen. Alte Männer können ganz merkwürdig sein, ein Bundeskanzler, der im Amt verlor, erst recht.