Tichys Einblick
Bewegungen und Wendungen

Neues Gefälle Stadt und Land?

In diesem Jahrhundert geht es um die grundlegende Neuordnung im gesamten Westen. Weder in Amerika noch in Europa sind Personen oder Gruppierungen sichtbar, die das nötige Think Big haben. Aber Probleme suchen schon immer ihre Löser, nicht umgekehrt.

Ein Leser schrieb zum Bericht unseres Sonntagsspaziergängers in Brüssel, was mir seit längerem durch den Kopf geht. Es begann damit, dass ein Urkölner, tief im Arbeiterviertel Ehrenfeld verwurzelt, beruflich viel unterwegs, erzählte, er überlegt wegzugehen. Du? Fragte ich ihn, Du kannst doch ohne Dein Veedel gar nicht leben. Ja, sagte er, aber es ist nicht mehr mein Veedel, ich stoße überall auf Leute, die hier nicht hinpassen, und habe immer mehr das Gefühl, ich muss gehen, bevor ich nicht mehr hierhin passe.

Seitdem haben mir alte Freunde aus anderen Großstädten Vergleichbares erzählt, in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien und Schweden.

Leser Frank Stefan schrieb:

„Verstädterung ist der Mega-Trend. Da in Zukunft dort ‚das Bunte‘ eindeutig das Sagen (und das Haben) haben wird, sind für die Städte die Würfel diesbezüglich schon gefallen. Die modernen Leute wollen es so, fühlen sich dabei wohl, auch wenn sie es nicht als Parteiprogramm leben, sondern einfach als gegeben hinnehmen. Die wenigen, die sich dabei nicht so wohl fühlen und immer die Frage nach der ‚Zukunft des Landes‘ mit einem Bangen stellen, für die wird es vielleicht eine Trendumkehr aufs Land, in die Kleinstadt geben: nur der Not gehorchend werden sie kurz in die Stadt fahren, um dort ihrer Arbeit oder ihrem Studium nachzugehen, danach nichts wie raus, zum wahren Lebensmittelpunkt, der kleinen dörflich-städtischen Gemeinschaft, die auf die Bunten zur Zeit eher abstoßend als anziehend wirkt. Es wäre soziologisch interessant herauszufinden, wie sich das auswirkt, wenn ein gewisser Teil der Eliten seinen Mittelpunkt nicht mehr in der Stadt hat. Eine neue Blüte der Kleinstadt? Oder würden sie, ähnlich wie bei der Gentrifizierung, das Bunte nachziehen in ihre eben gerade wieder durch sie selbst lebenswert gewordenen kleinen Oasen, die daraufhin wieder zerfallen? Oder wird es ein Parteiprogramm geben, demnach die Bunten ihre Agit-Prop-Barden aufs Land zur Umerziehung der Landeier schickt? – Wir geben unsere Städte auf. Ist besser so.“

Wenn der Geldbeutel wählt – dann servus und tschüss
Wirtschaft und Wohlstand verlieren mit Schulz wie mit Merkel
Andere Leser tauschen sich seit einigern Zeit aus, wer wohin auswandert. Manche haben es schon getan und kommentieren von dort. Einer ist gerade über die nahe Grenze nach Holland gezogen und lernt niederländisch. Alte Freunde berichten, ihre Kinder, die seit vielen Jahren in den USA leben und arbeiten, habe ihre Rückkehrpläne aus New York, Chicago und Los Angeles gestrichen und bereiten Umzüge in kleinere Städte in den Staaten vor.

Von der Einwanderung nach Mitteleuropa, die außerhalb von Deutschland und Österreich überall illegale Immigration genannt wird, ist permanent die Rede, von der Auswanderung aus Mitteleuropa nicht – mal abgesehen von einer kleinen und kurzen Berichtswelle über die Abwanderung von Millionären (womit mehrheitlich ein Gutteil der oberen Mittelschicht gemeint ist, nicht die oberen Zehntausend).

Doch die Binnenwanderung der überdurchschnittlich Qualifizierten im Westen bleibt ebenso im toten Berichtswinkel wie die Abwanderung aus den urbanen Zentren, die doch „eben erst“ von der Mittel- und Oberschicht wieder bezogen worden waren. Was Ronald Asch über London berichtete, kann die Trendmeldung für alle westlichen Metropolen sein: „… allein seit dem Jahr 2000 haben rund 600.000 Briten nicht-überseeischer Herkunft die Hauptstadt verlassen, um sich in kleineren Städten der Umgebung oder auf dem Lande anzusiedeln, wo sie anders als in den Vorstädten Londons einstweilen noch die dominante ethnische Gruppe sind und sich daher nicht an eine fremde Umgebung anpassen müssen.“

Muss i denn zum Städtele hinaus
Auswandern: „Wenn der Staat nicht mehr liefert“
Was die Angehörigen der politischen, industriellen und medialen Klasse noch überhaupt nicht im Blick haben – von Denkabweichlern dort abgesehen – , ist die Überschneidung des Gesamtwanderungskomplexes mit der Frage nach der Zukunft der EU und der größeren Nationalstaaten. Österreich, Schweiz, Niederlande und die skandinavischen Staaten ruhen trotz aller Probleme, die sie auch haben, von niemandem in Frage gestellt in ihren Identitäten. Ob sich in Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien mittelfristig nicht alte und neue Los-von-Berlin-Paris-Madrid-und-Rom-Bewegungen zu Wort melden, hängt vom weiteren Umgang der Eliten in Brüssel und den nationalen Hauptstädten ab.

Übrigens ist auch in den USA an dieser Stelle das letzte Wort noch lange nicht gesprochen. Ein Blick in die historische und politische Bedeutung von federals und confederates ist lehrreich. Etwa warum in den zwei Amerikas seit damals anhaltend das eine vom civil war spricht und das andere vom war between the states. Die zwei Amerikas pro und contra Washington sind damit nicht deckungsgleich, doch Schnittmengen gibt es. Der Trend zum immer größeren Staat, etwas anderes ist die EU – ever closer union – nicht, hat seinen Zenit überschritten. Auch wenn es die Junckers und Schulz‘ und so weiter noch nicht merken wollen. Die neue Wendung von Merkel und Lammers und Co. zur EU der verschiedenen Geschwindigkeiten ist nur eine andere Verpackung für ever closer. No way, vorbei.

In diesem Jahrhundert geht es um nicht weniger als eine grundlegende Neuordnung im gesamten Westen. Dass diese mit einer ebenso grundlegenden Neuordnung in Asien einhergeht, dass es Wechselwirkungen geben muss, sei hier nur erwähnt. Beunruhigen muss, dass weder in Washington noch seinen Pendants in Europa Personen oder Gruppierungen sichtbar sind, die das nötige Think Big haben. Aber die Probleme haben sich noch immer ihre Löser gesucht, nicht umgekehrt.