Tichys Einblick
Der chronisch vernachlässigte Kriegsindex

Militär aus dem Westen und Russland in Ländern des Koran

Blieben die 2.000 US-Soldaten in Syrien, müssten sie ihr Leben in kommenden Gefechten riskieren, die nicht einmal mit 100.000 westlichen Soldaten gewonnen werden könnten.

WAKIL KOHSAR/AFP/Getty Images

Der Vorwurf des Zynismus und schlimmere sind unvermeidbar für den, der nüchtern auf das Thema schaut. Donald Trump hat es gerade mit seiner einsamen Entscheidung in den Blick gerückt, US-Soldaten aus Syrien und Afghanistan abzuziehen. Auf seinem Weihnachtsbesuch im Irak sagte er:

„Wir möchten nicht mehr von Ländern ausgenutzt werden, die uns und unser unglaubliches Militär nutzen, um sich zu schützen. Sie zahlen nicht dafür!“

Und fügte zu den vielen US-Militäreinsätzen in der Welt hinzu: „Wir sind auf der ganzen Welt verteilt. Wir sind in Ländern, von denen die meisten Menschen noch nicht einmal gehört haben. Ehrlich gesagt, es ist lächerlich.“

Das Unverständnis des US-Establishments wie auch seines Pendants in Westeuropa folgte wie immer; eine zuverlässig nutzlose Prozedur. Dass Trump diese Bilder zur Pflege seiner Anhängerschaft zuhause macht, scheint dieses Establishment noch immer nicht zu begreifen. Dass die moralische Entrüstung der Medien dieses Establishments Trumps Twitter-Kampagne zu seinen Gunsten verstärkt, auch nicht.

Aber mir geht es hierbei um etwas anderes, nämlich um die Frage der Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Militär aus dem Westen und Russland in mohammedanischen Ländern. Gunnar Heinsohn, weithin bekannt nicht zuletzt durch seine viel zu wenig beachteten Argumente und Zahlen zum Kriegsindex, macht darauf wieder einmal aufmerksam mit seinem Beitrag „2.000 gegen Millionen“ auf amgreatness.com.

2.000 gegen Millionen

Trumps Unterstützer sagten, das Land habe nichts erreicht für die sieben Billionen Dollar, die es für diesen Krieg ausgegeben hat – und die Vereinigten Staaten hätten größere Probleme daheim und in Ostasien. Sagt Heinsohn, und kommt dann zum eigentlichen Punkt:

»Few analysts, regardless of how they feel about America’s withdrawal from Syria, understand why such conflicts drag on and on, despite enormous losses. Historians and journalists rarely examine the demographic data that explain why deadly wars can last for decades or centuries.

Even the killing ground of Europe from 1500 to 1945 escapes their attention. And when it comes to Syria, they are utterly clueless about the link between rapid demographic growth and the long and bloody wars that have devastated this region. Explosive population growth results in explosions on the battlefield.«

Kurz und knapp: Historiker und Journalisten kümmerte kaum, warum tödliche Kriege Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern können. Sogar Europas „killing ground” von 1500 bis 1945 entginge ihrer Aufmerksamkeit. In Syrien hätten sie nicht die geringste Ahnung vom Zusammenhang zwischen rapiden demografischen Wachstum und verheerenden Kriegen. Heinsohn nennt die Zahlen, ohne die alles Geschreibe und Gesende ohne Zusammenhang und Einordnung bleibt – und wegschaut.

Hoher Kriegsindex

Neun mohammedanische Länder gehören zu den 68, die nach Heinsohn einen höheren Kriegsindex als 3 haben: also 3.000 oder mehr Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren zu 1.000 Erwachsenen zwischen 55 und 59 Jahren, die vor dem Ende ihrer Erwerbstätigkeit stehen. Vier mohammedanische Länder außerhalb des Mittleren Ostens haben einen noch höheren Kriegsindex (KI): Afghanistan (KI 5.99; 36 Millionen), Sudan (4.65; 42 Millionen), Mauritania (4.17; 5 Millionen) und Pakistan (3.39; 200 Millionen).

Heute leben um 100 Millionen Araber (1950 waren es 15 Millionen) in Ländern mit einem hohen Kriegsindex: Irak (5.80; 40 Millionen), Palästina (5.46; 5 Millionen), Yemen (5.41; 29 Millionen), Syrien (4.02; 18 Millionen), Jordan (3.95; 10 Millionen). Diese fünf Länder waren in fast 40 bewaffnete Konflikte verwickel, davon „nur” sieben gegen Israel.

Bevor um 2030 herum der Kriegsindex dort unter 3 sinke, werde es für Millionen Junger noch schwieriger werden, Jobs oder Sozialleistungen außerhalb der Region zu finden. Eine Zunahme blutiger Rebellionen gegen einheimische Eliten sei zu erwarten, vor allem auch angesichts des geringen Wirtschaftswachstums. Heinsohn kleidet das in den Vergleich von neun hochstehenden internationalen Patentanträgen aus den genannten fünf Ländern im Jahr 2017 gegenüber dem mehr als 200-fachen aus Israel.

Militärisch aussichtslos

Durch Trumps Intervention hat ISIS 98 Prozent seines Kalifat-Territoriums und mindestens 60.000 Mann verloren. Schreckt diese Zahl ISIS, fragt Heinsohn und antwortet: sicher! Und fragt weiter: Bedeutet dies das Ende und den Verlust der Möglichkeit, den Kampf unter einem anderen „heiligen Banner” fortzusetzen? Heinsohns Antwort: sicher nicht!

Ich sprach die Tage mit dem Syrer, der auf TE über seinen Besuch in Damaskus und weiterer Umgebung zurückhaltend berichtet hat. Er sagt, natürlich sind die IS-Leute und andere nicht verschwunden, sondern nur woanders – und: ganze Landstriche sind unter iranischer Kontrolle, der syrische Staat geht da mit seinen Leuten gar nicht hin. Einlass finden dort nur kooperierende Syrer: Schiiten. Andererseits berichtet er von ganzen neu errichteten Arealen. Es ist wohl recht realistisch, sich auf ein Nebeneinander von positiven und negativen Zuständen und Entwicklungen einzurichten, ein auf und ab einzurichten, das Europa nach dem 30-jährigen Krieg überwunden hatte. Oder haben nur die Parameter und Zeitabstände gewechselt?

Weiter mit Heinsohn: Durch eine sehr hohe Geburtenrate bis 2015 werde die Zahl der 15-29-jährigen Männer in Irak und Syrien allein um 3.5 Millionen bis 2030 steigen: von 7.75 auf 11.25 Millionen. Kritiker sagten, Trump übersähe, dass 30.000 versteckte ISIS-Kämpfer vor einem Rückzug besiegt werden müssten. Tatsächlich, so Heinsohn, sei aber die Zahl der zornigen und kampfbereiten jungen Islamisten wenigstens hundertfach höher. Blieben die 2.000 US-Soldaten in Syrien, müssten sie ihr Leben in kommenden Gefechten riskieren, die nicht einmal mit 100.000 westlichen Soldaten gewonnen werden könnten.

Bisher keine neue Perspektive

Doch für Russland und Iran werde Syrien auch kein Spaziergang, erklärt Heinsohn. Vor allem Putin sähe sich mit einem russischen Kriegsindex von 0.67 konfrontiert: 1.000 älteren Männern folgten nur 670 junge. Das unterminiert selbst unter seinen engen Anhängern die Bereitschaft zu großen Verlusten. Moskau und Teheran könnten ihre eigen Söhne zum Sterben nach Syrien schicken oder die dortigen Revolutionen auf das gegenseitige Töten der dortigen kämpfenden Brüder in ihren eigenen Ländern begrenzen.

Die tödliche Bedrohung der kriegswilligen jungen Männer in der mohammedanischen Welt richtete sich nicht gegen Israel allein, sagt Heinsohn, die Kurden seien ebenfalls im Visier – und nicht nur von Ankara. Bei der alternden geringen Geburtsrate im Westen kann jeder getötete Soldat eine Familienlinie beenden, kein Militär aus dem Westen und Russland könne die Gewalt der kommenden Jahre beenden: was dem Westen und Russland bliebe, sei die Unterstützung der regionalen Eindämmung des andauernden Konflikts. Eine, das schreibt nicht Heinsohn, sondern sage ich in Bezug auf den Anfang des Beitrags, zynisch brutale, aber wohl realistische Perspektive:

Rote Linien um Israel und Kurdistan, deren Überschreiten Luftschläge gegen die Hochburgen der Angreifer auslösen, nennt Heinsohn als Möglichkeit.

Bedeutet, solange sich die Glaubensbrüder in ihren eigenen Ländern „nur” gegenseitig töten, halten sich der Westen und Russland raus.

Dass die Probleme damit nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben werden, dem dürfte Heinsohn nicht widersprechen. Dass die Frage der „Überzähligen” auch nicht durch ihre Migration nach Europa und Nordamerika gelöst werden kann, füge ich hinzu – und: In dem Umfang, in dem es geschieht, werden die Ausgewanderten und in den Westen Eingewanderten alle ihre Probleme mitbringen und dort weiter ausfechten.

Mal sehen, ob sich 2019 neue Kräfte zeigen, die das nicht wie die alten einfach geschehen lassen, sondern gestalten wollen.