Tichys Einblick
Bayern gegen Tiroler hat Tradition

Ischgl liegt nicht in China und Söder spricht kein Bairisch

Sollte eine Folge der Coronazeit sein, dass weniger geballermannt wird, würde das nicht nur mich sehr freuen. Aber wie ich die Spezies Mensch in ihren Herdeneigenschaften kenne, wird das - wenn überhaupt - nicht lange halten.

In Zeiten, wenn kein Vorhaben groß genug sein kann, Neue Weltordnung, The Great Reset, Klimasteuerung und so weiter, ist es wohltuend normal bis unterhaltsam zu sehen, wie unvergänglich Altes, längst nur noch Geschichte geglaubtes ist.

Österreich ohne Vorarlberg und Außerfern, Südtirol, Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz gehören alle zur deutschen Sprachgruppe Bairisch. Seit 1805 Napoleon Tirol unter bayrische Herrschaft stellte, ist viel Zeit vergangen. Doch Ressentiments sind unverändert da, wie sich immer wieder zeigt, auch jetzt, wenn der Franke Söder als bayrischer Ministerpräsident an der Spitze der Politiker steht, die Tirol, Österreich und ganz Europa zwingen wollen, die Schi-Saison ausfallen zu lassen. Söders Äußerung, „Halb Europa ist im Frühjahr von Ischgl aus mit infiziert worden“, ist weder wahr noch angebracht von einem, der den Ischgl-Fehler im Berchtesgadener Land Monate später nachgemacht hat.

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Damals verloren die Tiroler viele Freiheiten, die andere Stämme im Habsburgerreich nicht hatten, vor allem die seit Kaiser Maximilian bestehende Freistellung von der Militärpflicht bei autonomer Landesverteidigung. In den zwei sogenannten Bergiselschlachten jagten die Tiroler die Bayern für ein halbes Jahr aus dem Land, bis der Habsburger Hof die Tiroler im Stich ließ. Mit dem bayrischen Thronfolger Ludwig (anders als heute mit Söder) hätte sich der Anführer der Tiroler Andreas Hofer leicht einigen können, hätte er nicht auf seinen radikalen Pater Haspinger gehört. So aber sind alte Rechnungen bis heute leicht mobilisierbar – in Tirol wie in Bayern.

Wenn es die Infektionszahlen erlauben, werden wir uns das Skifahren auch von Bayern nicht nehmen lassen, sagte der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter, und Bundeskanzler Sebastian Kurz fügte hinzu, es gebe zwar Politikbereiche, in denen die EU koordinativ tätig werden sollte, was sie aber sicher nicht machen könne, sei zu regeln, „wann Fußball gespielt werden darf, wo man Laufen gehen darf und wann man Skilaufen gehen darf“.

Mittlerweile haben die Ski-Lift-Betreiber im Westen Österreichs beschlossen, trotz absehbar größter Verluste 30 bis 50 Prozent der Lifte in Betrieb zu nehmen, den Einheimischen zuliebe, auch wenn Touristen aus anderen Ländern ausbleiben. Ob die österreichische Bundespolitik die Wintersaison ohne Après-Ski ermöglicht, wird sich zeigen. Die Schweizer haben jedenfalls ihre Schiberge offen und die Gastronomie allgemein auch.

„Bis mindestens Ende des Jahres müssen auch Reisende, die für weniger als 48 Stunden zu Zwecken des Skifahrens oder anderer Freizeitaktivitäten aus Deutschland nach Österreich fahren, nach ihrer Rückkehr in Quarantäne“, meldet die Kronenzeitung von Söder.

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Unverkennbar mischt sich die regelmäßig zu beobachtende Arroganz des politischen Deutschland und der EU dem kleinen Österreich gegenüber, bei der München Berlin übertreffen will, mit einer regelrechten Feindschaft zwischen Anhängern des Wintersports und dessen Verächtern. Gleiches ist innerhalb Italiens und Frankreichs zu beobachten, in all diesen Ländern auch zwischen Metropolen und Bergland, zwischen Großstädtern, Kleinstädtern und Landbewohnern.

Rainer Nowak, Herausgeber und Chefredakteur der österreichischen Tageszeitung Die Presse, selbst Großstadtbewohner aus Tirol, weiß davon zu berichten, dass „vor allem auch in Ostösterreich … viele Publizisten … jedweden Versuch der Tourismuswirtschaft, die Wintersaison zu retten,“ ablehnen. Nowak weiter:

„Was dabei überrascht ist der gehässige Tonfall gegenüber dem Wintertourismus generell. Das Klischee der korrupten Seilbahnwirtschaft und selbstherrlichen Hoteliers, die lokale Politik und Leute beherrschen, ist weitverbreitet. Skifahren wird da generell als reaktionäre und überflüssige Tätigkeit eingeschätzt, mit der geldgierige Alpen-Oligarchen die armen Städter mittels hoher Kosten für Zimmer und Skiliftkarten ausbeuten. Schon in der Schule werde man demnach zum Skifahren in eisiger Kälte, Dauerbelästigung durch männliche Skilehrer und Virenaustausch in stickigen Gondeln gezwungen.“

Nur ein Artikel, dafür aber ein Indiz:
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Ich bin in meinen Jahrzehnten als Schifahrer viel im Ischgl der Vor-Ballermann-Zeit gewesen, weil die Pistenvielfalt großartiger war als am Arlberg und sonstwo. Wollte man alle gut über 200 Kilometer Piste in Ischgl-Samnaun an einem Tag fahren, musste man früh auf dem Weg sein und eine gute Portion Kondition mitbringen. Ein einziges mal war ich fast drei Wochen am Stück in Ischgl, jeder Tag wolkenlos, klirrende minus zehn Grad und Pulverschnee. Bei einer Hütteneinkehr tauten die gefrorenen Ohrenränder auf … Bei Nowaks nächstem Absatz finde ich mich wieder:

„Entweder waren diese Kaffeehaus-Sportler schon lange nicht mehr irgendwo normal (also nicht in Ischgl) auf Skiurlaub oder die Negativ-Spirale in der gegenseitigen Einschätzung von Motiven geht einfach bei fast allen immer weiter nach unten.
Oder sie können einfach nicht Skifahren.“

Ich bin in der Sache nicht mehr Partei, weil nach einem schweren Autounfall die schöne Schifahrzeit für meine bessere Hälfte und mich vorbei war. Ich will es natürlich nicht ins Antibayrische einordnen, dass eine Münchnerin, die am Steuer ihres Wohnmobils einschlief, mit demselben unseren PKW frontal rammte. Die Böschung rechts war zu steil, um wirkungsvoll ausweichen zu können. Seitdem feiern wir diesen Jahrestag als zweiten Geburtstag.

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Wenn die Schilift-Betreiber den Einheimischen zuliebe aufsperren wollen, signalisiert das auch, dass in den Bergen Schifahren, Schitouren gehen, inzwischen auch Schneeschuh-Wandern und seit neuestem Splitboards von einer wieder zunehmenden Zahl von Leuten jedes Alters betrieben werden. Splitboards sind Schneebretter, die in der Hälfte geteilt dem Aufstieg dienen, oben zusammengefügt und runter geht’s munter. Klettern, Bergsteigen, Bergwandern, Mountainbiking und auch Paragliding sorgen im Sommer und Herbst für einen Bergtourismus, der vielerorts wirtschaftlich mit dem Winterergebnis gleichziehen konnte.

Im Gymnasium bei mir in der Obersteiermark wie damals überall in Österreich gehörte der Schikurs zum alljährlichen Unterrichtsprogramm, lokal auf nahen Wiesen und einmal jährlich eine Woche auf der Schlossalm in Hofgastein. Die Schikurspflicht gibt es in Österreich seit mehr als 20 Jahren nicht mehr. Insgesamt, so sagen Untersuchungen, fahren 40 bis 60 Prozent Schi, in den Bergbundesländern an die 80. Kundige erzählen mir von diesem Trend:

  • Pistenfahren stagniert auf hohem Niveau.
  • Tourengeher werden mehr, oft auch am Rande der Pisten.
  • Ruhige, Ballermann-freie (Familien)Schigebiete gewinnen an Konjunktur.
  • Touristische Bergdörfer mit einfachem bis bescheidenem Komfort sind in.
  • Ferien auf dem Bauernhof bremsen das Bergbauernsterben.

Übrigens war das schon in meinen letzten Schifahrerjahren so: Die gar nicht oder nur schlecht Schi fuhren, stellten das Gros des Ballermann-Publikums. Sollte eine Folge der Coronazeit sein, dass weniger geballermannt wird, würde das nicht nur mich sehr freuen. Aber wie ich die Spezies Mensch in ihren Herdeneigenschaften kenne, wird das – wenn überhaupt – nicht lange halten.

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