Tichys Einblick
Volksparteien-Dämmerung

Die Union unter der 30-Prozent-Marke

Die Parteien sollten an der Willensbildung des Volkes "mitwirken". Sie haben daraus mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts, dessen Mitglieder die Parteien bestimmen, den Parteienstaat gemacht, in dem das Volk an der politischen Willensbildung kaum mitwirkt.

© Sean Gallup/Getty Images

Ein, zwei, drei Prozentpunkte runter oder rauf sind nicht seriös interpretierbar. Geht es dabei aber darum, ob die Union über oder unter der 30-Prozent-Marke landet, zählt jeder Prozentpunkt.

So war es, als die SPD einst von 1969 bis 1980 über der 40-Prozent-Marke lag, die sie danach nur noch einmal überschritt: 1998. Von da an ging es schnell bergab. Nur noch zwei mal über der 30-Prozent-Marke: 2002 und 2005, der vorzeitigen Wahl, die Gerhard Schröder knapp verliert (hinter diesem Wahlergebnis stehen Fragezeichen). Seit 2009 kam die SPD nur noch über die 20-Prozent-Marke. Und nun sieht alles danach aus, dass sie beim nächsten mal nur noch im Bereich 10-plus-X liegen wird.

Wenn die Unionsoberen stolz vermelden, dass ihre Formation unangefochten an der Spitze liegt, ist das Pfeifen im dunklen Wald. Denn sie folgt der SPD abwärts nur mit Zeitverzögerung. Von 1953 bis 1994 lag die Union immer über der 40-Prozent-Marke (1957 auf dem Höhepunkt von Adenauer das einzige mal über 50: 50,2%). Seit 1998 siedelt die Union im Sektor der 30-Prozent-Marke: Die Ausnahme 2013 mit 41,5 Prozent korrigierten die Wähler 2017 auf 32,9 Prozent.

Damit hatte sich die Union der 30-Prozent-Marke gefährlich nach unten genähert, die SPD hatte mit 20,5 Prozent parallel dazu die 20-Prozent-Marke nur noch knapp überquert. Seitdem zeigen die Umfrageziffern bei beiden weiter nach unten, bei der SPD bisher in größeren Schritten. Der neuste Pegelstand bestätigt: SPD, AfD und Grüne konkurrieren um die Plätze 2, 3 und 4.

Beim Blick auf die Bundestagswahlen erinnert das Ergebnis der ersten daran, dass zu Beginn die Parteienlandschaft noch viel aufgeteilter war als heute. Die Union mit 31,0 und die SPD mit 29,2 Prozent lagen praktisch gleichauf. Aber 11 weitere Parteien werden in den Übersichten als Sonstige ausgewiesen mit 27,9. Die FDP mit 11,9 schaut aus heutiger Sicht wie nie vom Fleck gekommen aus, wobei natürlich die Zusammensetzung ihrer damaligen Wählerschaft mit der heutigen fast nichts zu tun hat.

Die Wahlbeteiligung hat seit der ersten Bundestagswahl eine ausgeprägte Berg-Talfahrt hinter sich gebracht. Dass sie 2017 mit 76,2% praktisch gleich hoch war wie 1949 mit 78,5%, ist wohl nicht interpretierbar.

Im Grundgesetz steht, dass die Parteien an der Willensbildung des Volkes „mitwirken“ sollen. Was die Parteien daraus mit rechtlicher Billigung des Bundesverfassungsgerichts, dessen Mitglieder von den Parteien bestimmt werden, gemacht haben, ist ein Parteienstaat, in dem das Volk kaum noch an der politischen Willensbildung mitwirkt.

Nach Grünen und PDS die AfD
Der Parteienstaat absorbiert ein weiteres Mitglied
Der Prozess, in dem das korrigiert wird, ist für jeden politisch Engagierten unerträglich langsam. Die zwei Volksparteien führten den Prozess der Entstehung und der unbegrenzten Ausweitung des Parteienstaats an, den sie nicht nur unverändert, sondern verstärkt weiter betreiben. Der allergrößte Teil der alten Medien unterstützt sie hierbei heute mehr denn je, anstatt sie wie früher zu kontrollieren. Die Parlamente handeln wie Befehlsempfänger der Parteien, in denen sich die Macht aus den Parteien selbst in die kleine Personengruppe der Fraktionsführungen verlagert hat.

Die Volksparteien haben überhaupt nicht erkannt, dass ihr Niedergang weniger mit aktuellen politischen Themen zu tun hat als mit der Entpolitisierung der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens durch ihren Parteienstaat. Der Prozess ihres Niederganges muss offensichtlich bis zur Implosion weitergehen, weil der Parteienstaat anders kein Ende finden kann. Zur Selbstreparatur ist der baufällige Parteienstaat systemisch nicht fähig. Also wird sein Einsturz auf eine Weise vor sich gehen, die niemand vorhersehen kann. Aber so ist das immer schon in der Geschichte, plötzlich geschieht, was „alle“ für unmöglich hielten.